Note du Cerfa 122 ______________________ Die deutsche Energiewende am Scheidegeweg: Globaler Energiedruck versus grüne Energieinsel ______________________ Frank Umbach Mai 2015 Das Französische Institut für Internationale Beziehungen (Ifri) ist in Frankreich das wichtigste unabhängige Forschungszentrum, das über groβe internationale Fragen informiert und diskutiert. Von Thierry de Montbrial im Jahr 1979 gegründet, ist das IFRI als gemeinnütziger Verein anerkannt (Gesetz des Jahres 1901). Es ordnet sich keiner Amtsvormundschaft unter, legt nach eigenem Ermessen seine Aktivitäten fest und publiziert regelmäßig seine Berichte. Durch seine Studien und Debatten, die interdisziplinär angelegt sind, bringt das Ifri Politiker, Wirtschaftswissenschaftler, Forscher und Experten auf internationaler Ebene zusammen. Mit seinem zweiten Büro in Brüssel (Ifri-Bruxelles) positioniert sich das Ifri als eines der wenigen französischen think tanks im Kern der europäischen Debatte. Die Verantwortung für die im weiteren Text geäußerten Standpunkte tragen die Autoren. Die Aktivitäten des Cerfa (Forschung, Editing und Publikationen) werden von dem Referat Frankreich des Auswärtigen Amtes und dem Planungsstab des Ministère des Affaires étrangères et du Développement international gefördert. Herausgeber: Prof. Dr. Hans Stark ISBN: 978-2-36567-385-3 © Ifri – 2015 – Tous droits réservés Ifri 27 rue de la Procession 75740 Paris Cedex 15 – FRANCE Tel.: +33 (0)1 40 61 60 00 Fax: +33 (0)1 40 61 60 60 Email: [email protected] Ifri-Bruxelles Rue Marie-Thérèse, 21 1000 – Bruxelles – BELGIQUE Tel.: +32 (0)2 238 51 10 Fax: +32 (0)2 238 51 15 Email: [email protected] Website: ifri.org Autor Dr. Frank Umbach ist Forschungsdirektor des European Centre for Energy and Resource Security (EUCERS) am King‘s College, London und Associate Senior Fellow am Centre for European Security Strategies (CESS) GmbH, München. Außerdem ist er internationaler Berater für die Energieindustrie, Regierungsinstitutionen und internationale Organisationen zu den Themen internationale Energiesicherheit, Cyber-Sicherheit und Schutz für kritische (Energie)Infrastrukturen und internationale Sicherheitspolitik (insbesondere in der Asiatisch-Pazifischen Region). Seine Fachbereiche sind internationale Energiepolitik, russische Außen- und Sicherheitspolitik, die Kaspische Region, Asien-Pazifik-Raum (China und Japan), die EU und Deutschland in den Bereichen Energieversorgung und -sicherheit, Energieaußenpolitik, geopolitische Risiken, globale Herausforderungen im Energiebereich, Cyber-Sicherheit von Energieinfrastrukturen und maritime Sicherheit. 1 © Ifri Zusammenfassung Als Reaktion auf das Atomunglück in Fukushima/Japan im März wurde in Deutschland der einseitige Entschluss zu einer Energiewende bislang ungeahnten Ausmaßes getroffen. Die Bundesregierung setzte sich dabei extreme ambitionierte Ziele wie den Atomausstieg bis 2 2020 und den langfristigen Ausbau eines nachhaltigen und unabhängigen Energiesystems. Die Reaktionen auf diese Beschlüsse fielen höchst unterschiedlich aus. In Deutschland selbst fand Angela Merkels Energiewende viel Beifall, obwohl sie einer Kehrtwende der bisherigen Politik gleichkam, die die Verlängerung der Laufzeiten der Kernreaktoren vorsah. Im Ausland und insbesondere bei Deutschlands europäischen Partnern hingegen stieß die Energiewende auf große Kritik. Hauptgrund ist dabei, dass diese Partner vor der Entscheidung nicht konsultiert wurden, und das trotz der weitreichenden Auswirkungen, die die deutsche Energiewende auf deren Energiesicherheit hatten und nach wie vor haben. Vier Jahre nachdem Angela Merkel die Energiewende ankündigte steht fest, dass noch viele Anstrengungen vonnöten und die festgelegten Ziele noch lange nicht erreicht sind. Der deutschen Energiepolitik ist es nicht gelungen, sich an den globalen Kontext anzupassen, der unter anderem von der amerikanischen Schiefergasrevolution; geopolitischer Unruhe und der mangelnden Bereitschaft der großen Verschmutzter zum Klimaschutz gekennzeichnet ist. Derzeit ist es ihr auch nicht gelungen, ein nachhaltiges Gleichgewicht zwischen Umweltschutz, Energiesicherheit und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit zu finden. Darüber hinaus muss Deutschland mit seinen europäischen Partnern zusammenarbeiten, da es nur so den Herausforderungen des Klimawandels und begegnen und Europas Energieversorgung sicherstellen kann. Gelingt es Deutschland nicht, diese Ziele zu erreichen können seine Wettbewerbsfähigkeit und sein weltweiter Einfluss darunter leiden, was auch Auswirkungen auf die internationale Stellung der EU hätte. 2 © Ifri Executive Summary In reaction to the March 2011 nuclear disaster that occurred in Fukushima/Japan, Germany has unilaterally decided to launch an energy transition of hitherto unseen dimensions. Berlin set extremely ambitious objectives such as phasing out nuclear energy by 2020, as well as, in the long run, the creation of a sustainable and autarkic energy system. Reactions to this decision differed. Within her own country, Angela Merkel’s energy transition was largely acclaimed, although it represented a total u-turn with respect to the previous policy which consisted of prolonging nuclear reactors’ lifespan. Abroad and notably among Germany’s European partners, it has, in turn, been heavily criticized. These partners had not been consulted prior to decisions being taken, despite the huge impact these decisions had and continue to have on their own energy security. Four years after Angela Merkel announced the German energy transition, it is obvious that a lot of effort still needs to be put into it and that the objectives defined are far from having been reached. German energy policy has failed to adapt to its global context, notably characterized by the U.S. shale gas revolution, geopolitical upheaval, the great polluters’ absent willingness to commit to climate protection, etc. At the time being, it has also failed to find a sustainable equilibrium between environmental protection, energy security and economic competitiveness. Moreover, Germany needs to act in accordance with its European partners, without whom it will not be able to tackle the global challenge of climate change and attain to European energy security. If Germany fails to reach these objectives, it may see its competitiveness and geopolitical influence decline at the global level, which would also have repercussions on the EU’s standing in the world. 3 © Ifri Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG: GESCHICHTE UND HINTERGRÜNDE DER DEUTSCHEN ENERGIEWENDE ................................................................................. 5 Überhastete Reaktion auf Fukushima ....................................... 5 Die fehlende europäische Dimension: Deutschlands energiepolitischer Alleingang .................................................... 7 Der internationale Kontext: globale energiepolitische Megatrends ................................................................................. 9 DIE DEUTSCHE ENERGIEWENDE: EINE BESTANDSAUFNAHME .............. 12 Noch sind die Ziele nicht erreicht ............................................ 13 Höhere Verwundbarkeit: Konsequenzen für die Versorgungssicherheit ............................................................. 14 Kohleverbrauch und CO2-Emissionen steigen ....................... 17 Die deutschen Stromnetze sind unzureichend ausgebaut. ... 18 DIE WIRTSCHAFTLICHE DIMENSION DER ENERGIEWENDE .................... 20 Reformbedarf beim Erneuerbare Energien-Gesetz: Warnungen vor der „Deindustrialisierung“ ............................ 20 Die soziale Dimension steigender Energiepreise ................... 24 FAZIT UND PERSPEKTIVEN................................................................. 25 Reformbedarf im Inneren ......................................................... 25 Deutschland als Vorbild und Modell einer erneuerbaren Energiewende in anderen Ländern? ....................................... 27 NOTES DU CERFA ............................................................................. 28 Letzte Veröffentlichungen des Cerfa ....................................... 28 DAS CERFA ...................................................................................... 29 4 © Ifri Einleitung: Geschichte und Hintergründe der deutschen Energiewende Die Energiewende in Deutschland war eine reflexartige Reaktion der Regierung auf die Nuklear-Katastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 und sieht den vollständigen Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022 und eine Umwandlung des gesamten Energiesystems in einer längerfristigen Perspektive bis 2050 vor. Dabei soll die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen beendet und der Anteil an Wind-, Solar- und anderen erneuerbaren Energien schrittweise auf 50 Prozent der gesamten Stromerzeugung bis 2030 und auf 80 Prozent bis 2050 ausgeweitet werden. Langfristig ist der Übergang vom fossilen in ein regeneratives Energiezeitalter zweifelsohne richtig. Die Frage ist somit nicht ob, sondern nur wie (schnell) dieser Übergang vollziehbar ist bzw. wie dieser ohne zu große wirtschaftliche, technologische, politische und finanzielle Risiken sowie sonstige Transformationskosten vollzogen werden kann und sollte. Die folgende Analyse will vier Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima Überblick über die Entwicklungen der Energiewende geben und dabei das bereits Erreichte hervorheben, vor allem aber die verbleibenden strategischen Herausforderungen und Probleme der Umsetzung der EnergiewendeStrategie untersuchen. Überhastete Reaktion auf Fukushima Außerhalb Japans hatte die Nuklearkatastrophe in keinem anderen Land so weitreichende Auswirkungen auf die Energiepolitik wie in Deutschland. Die Bundesregierung unter Angela Merkel traf eine schnelle, unilaterale und als überhastet kritisierte Entscheidung zum Atomausstieg, mit weitreichenden Folgen nicht nur für Deutschland, sondern auch für die gemeinsame Energiepolitik der EU. Dabei wurden weder die Nachbarstaaten noch die für Energiepolitik zuständige Europäische Kommission vorab konsultiert. Wie sehr die Entscheidung übers Knie gebrochen wurde, zeigte sich auch in der Tatsache, dass selbst innenpolitisch die zuständige Bundesnetzagentur nicht wirklich über die Entscheidung, acht 5 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Reaktoren vom Netz zu nehmen, informiert wurde. Ihre Kompetenz wurde bei der Entscheidung nicht einbezogen. Auch wurde bis zur Verabschiedung des „Energiewende“-Programms im Juni 2011 weder ein „Masterplan“ im Sinne einer umsetzbaren Strategie noch ein Finanzierungsplan erarbeitet1. Die Entscheidung war einerseits durch den „situativen Politikstil“ der Bundeskanzlerin, andererseits durch den Blick der Regierungskoalition auf die nächsten Wahlen im April 2011 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz determiniert. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten war die deutsche Entscheidung zu einer umfassenden Energiewende durch eine fast „hysterische Reaktion“ der deutschen Öffentlichkeit und Medien auf Fukushima geprägt, die in einen „Supergau“ der politischen Kommunikation mündete2. Mit dem im Juli 2011 bekräftigten Ausstieg aus der Kernenergie und der Abschaltung von acht der siebzehn deutschen Nuklearreaktoren wurde nicht nur die energiepolitische Entscheidung vom September 2010 rückgängig gemacht, die Laufzeiten der Kernkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre zu verlängern3. Damit wurde auch eine Kapazität von 8 Gigawatt (GW) sofort vom Stromnetz genommen. Dies war fast die Hälfte der Gesamtleistung der deutschen Kernkraftwerke, die zu diesem Zeitpunkt rund 20 GW betrug – ein Viertel des Energiebedarfs des Landes. Der Deutsche Bundestag stimmte im Juni 2011 mit großer Mehrheit für den Atomausstieg bis 2022 und segnete damit die Idee einer Art autarken „grünen Energieinsel“ auf nationaler Basis ab, die sich bis spätestens 2050 rein aus erneuerbaren Energiequellen versorgen soll. Die zunächst temporär vom Netz genommenen acht Reaktoren wurden – wie erwartet – auch später nicht wieder in Betrieb genommen. Weder im Vorfeld des ursprünglichen Kernenergieausstiegs im März/April 2011 noch im Juni/Juli 2011 wurden die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit bei der Stromversorgung, die kurzsowie mittelfristigen Konsequenzen oder langfristigen finanziellen Kosten detailliert analysiert. Bezeichnenderweise wurde auch nach dem April-Beschluss der Regierung keine energiepolitische Expertengruppe zu den unmittelbaren Auswirkungen ins Leben gerufen, sondern eine Ethik-Kommission, die den energiepolitischen Kurswechsel lediglich gesellschaftspolitisch – weitgehend ungeachtet der Fragen nach Umsetz- und Finanzierbarkeit – legitimieren sollte. 1. F. Umbach, „Deutschlands Energiewende. Gesellschaftliche Hypersensibilität und der Verlust strategischer Versorgungssicherheit“, in C. Daase, S. Engert, J. Junk (Hrsg.), Verunsicherte Gesellschaft – überforderter Staat: Zum Wandel der Sicherheitskultur, Frankfurt/ New York, 2013, S. 235-257. 2. H. M. Kepplinger, R. Lemke, „Augen zu und durch“, Die Welt, 13.8.2012, S. 10. 3. Durch diese Verlängerung sollte mehr Zeit für den Umbau des Energiesystems auf Erneuerbare Energien gewonnen und die technologischen Risiken sowie finanziellen Lasten reduziert werden. 6 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende So warnte Matthias Kurth, der ausgeschiedene Präsident der Bundesnetzagentur, im März 2012: „Dass neben Ethik und Moral bei der Stromerzeugung auch noch Physik, das Wetter und die Netze Einfluss haben, dringt erst langsam und bei weitem noch nicht adäquat ins öffentliche Bewusstsein. … Das zentrale Problem der Energiewende wird bleiben, dass ihre gravierenden Konsequenzen wahlweise verniedlicht, 4 dramatisiert oder schlicht geleugnet werden .“ Die Regierung rechtfertigte ihren politischen Schritt mit dem Argument, dass die zivile Nutzung von Kernkraft angesichts des „Restrisikos“ nicht absolut sicher wäre. Wie sich später bei den offiziellen und mehreren unabhängigen Untersuchungen der Reaktorhavarie in Fukushima herausstellte, wäre die Katastrophe jedoch bei adäquaten Sicherheitsmaßnahmen zu verhindern gewesen5. Insofern kann die Reaktorkatastrophe nicht mit einem unkalkulierbaren „Restrisiko“ verklärt werden. Der erklärte Kernenergieausstieg erfreute sich jedoch in der Öffentlichkeit und im Bundestag breiter Unterstützung. Die Unterstützer erneuerbarer Energien hielten die Kernenergie niemals für eine geeignete Brückentechnologie. Aus ihrer Sicht stand die Atomkraft vielmehr neuen und innovativen Energielösungen sowie einer dezentralisierteren Restrukturierung der Energieversorgung im Weg. Kritik an der Energiewende kam innenpolitisch nur noch aus der traditionellen (Energie-)Wirtschaft und von Energieexperten sowie einigen Journalisten. Umso größer war die Kritik an diesem energiepolitischen Alleingang der größten Wirtschaftsmacht Europas in der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und in den Nachbarstaaten. Diese wurde und wird jedoch in Deutschland bis heute weitgehend übersehen, ignoriert oder marginalisiert. Die fehlende europäische Dimension: Deutschlands energiepolitischer Alleingang Die Energiewende ist nicht der erste energiepolitische Alleingang Deutschlands, wie die Geschichte von North Stream zeigt. Ursprünglich als bilaterales deutsch-russisches Pipelineprojekt gedacht, zog es massive Kritik und politischen Widerstand auf sich und wurde erst nach seiner „Europäisierung“ durch Beteiligung weiterer europäischer Partner in der EU politisch durchsetzbar. 4. M. Kurth, „Energiewende zwischen Mythos und Wirklichkeit“, FAZ, 16.3.2012, S 12. 5. F. Umbach, „The Energy Security of Japan after Fukushima 3/11“, in E. Moe, P. Midford (Eds.), The Political Economy of Renewable Energy and Energy Security. Common Challenges and National Responses in Japan, China and Northern Europe, Houndmille/Basingstoke-New York, 2014, S. 46-66. 7 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Brisant ist dies nicht zuletzt deshalb, weil Deutschland größtes Mitgliedsland und wichtigster Akteur in der EU-28 ist und insofern eine Vorbildrolle einnimmt. Erklärt werden konnte die Politik seinerzeit durch den Umstand, dass weder die deutsche Politik des Kernenergieausstiegs noch die deutsche Kohle- und Russlandpolitik in der EU mehrheitsfähig war6. Nach Auffassung Brüssels und zahlreicher Nachbarländer hat Deutschlands Alleingang das in der gemeinsamen Energiepolitik der EU und im Vertrag von Lissabon verankerte Prinzip der „politischen Solidarität“ verletzt7. Laut Vertragstext müssen nationale Entscheidungen in Energiefragen im „Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ und mit dem Ziel der „Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarkts“ und der „Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union“ getroffen werden. Als größte Volkswirtschaft in der EU im geografischen Herzen Europas muss jede größere energiepolitische Wende Deutschlands automatisch Folgen für seine Energiepartner in der EU haben. Zudem wird die gemeinsame Energiepolitik der EU durch die einseitige Entscheidung implizit in Frage gestellt und geschwächt, obwohl nur sie realistische und kostengünstigere Lösungen bietet. So hatte die Bundesnetzagentur bereits im April 2011 gewarnt: „Bei einer dauerhaften Stilllegung der acht Kernkraftwerke des Moratoriums kann Deutschland nicht mehr im bisherigen Umfang als eine der Stützen der Versorgungssicherheit im europäischen Verbund 8 auftreten .“ Dabei sind auch die internationalen Dimensionen der deutschen Energiewende von strategischer Bedeutung, da Deutschland als Exportvizeweltmeister und einer der größten Energie- sowie Rohstoffimporteure der Welt noch mehr als andere Staaten von der politisch-ökonomischen Stabilität seiner Handelspartner und Energie- und Rohstoffexporteure abhängig ist. Daher ist es überraschend und beunruhigend zugleich, wenn in den beiden energiepolitischen Konzeptionen vom September 2010 und Juli 2011 die globalen energiepolitischen Herausforderungen und internationalen Machtverschiebungen kaum erwähnt werden und der Eindruck einer bereits bestehenden weitgehend „grünen Autarkieinsel“ erweckt wird – als ob Deutschland nicht länger von 6. F. Umbach, „Deutschland, Polen und die gemeinsame EU-Energiepolitik: Chancen der Kooperation in puncto Versorgungssicherheit“, in T. Jäger, D. Dylla (Hrsg.), Deutschland und Polen. Die europäische und internationale Politik, Wiesbaden, 2008, S. 261-288. 7. Vor allem auch der deutsche Energiekommissar Guenther Oettinger hat wiederholt den deutschen „Alleingang“ in der Energiepolitik in den letzten Jahren kritisiert. Vgl. z.B. „Oettinger Warns Germany Against Solo Efforts on Energy“, EurActiv, 2.10.2014. 8. Bundesnetzagentur, „Auswirkungen des Kernkraftwerk-Moratoriums auf die Übertragungsnetze und die Versorgungssicherheit“. in Bericht an das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin, 11. April 2011, S. VI. 8 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Energieimporten aus politisch instabilen Weltregionen abhängig sei. Sogar die zunehmende Gasimportabhängigkeit wird kaum angesprochen oder problematisiert9. Von daher ist es auch wenig überraschend, dass viele öffentliche und politische Diskussionen der Energiepolitik und Energiewende in Deutschland noch immer ausgesprochen provinziell sind und weder die globalen noch die europäischen Dimensionen angemessen diskutiert und hinsichtlich der Auswirkungen auf Deutschland analysiert werden. Der internationale Kontext: globale energiepolitische Megatrends Sowohl die deutsche Energiewendekonzeption von 2011 als auch die gemeinsame EU-Energiepolitik von 2007 mit ihrem Aktionsplan der drei 20-Prozentziele und deren Weiterentwicklung waren und sind von einer Reihe von Annahmen geprägt, die sich inzwischen als überholt erwiesen haben. Die Preise für Erdöl, Gas und auch Kohle sind gegenüber 2011 zum Teil dramatisch gesunken. Aufgrund der US-Schieferölproduktion haben die Erdölpreise trotz der Produktionsausfälle im politisch instabilen Mittleren Osten und Nordafrika seit Juli 2014 um mehr als 60 Prozent nachgegeben. Infolge dessen haben sich die internationalen Diskussionen zu Peak Oil vorerst erübrigt. Die geopolitischen Umwälzungen der letzten Jahre (insbesondere der „arabische Frühling“ und der russisch-ukrainische Konflikt) und die anhaltende Instabilität im Mittleren Osten (Syrien, Irak, Jemen) haben die Energieversorgungssicherheit stärker denn je auf die internationale Agenda der Energie- und Sicherheitspolitik gesetzt. Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft begreifen die globale und regionale Energieversorgungssicherheit als dringende nationale Sicherheitsherausforderungen, gemeinsam mit der eher langfristigen Problematik des Klimawandels. Zusammen mit der Sorge um mangelnde und abnehmende Wettbewerbsfähigkeit sind diese Themen daher auf der politischen Tagesordnung nach oben gerückt. 9. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Energiekonzept für eine schonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung, Berlin, 28.9.2010 und idem, Der Weg zur Energie der Zukunft - sicher, bezahlbar und umweltfreundlich. Eckpunkte für ein energiepolitisches Konzept, Berlin 6.6.2011. 9 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Die verstärkte Unterstützung und Subventionierung der erneuerbaren Energien hat Europa wie auch Deutschland bisher keine wirklich nachhaltigen ökonomischen Vorteile beschert. Zum einen erfordert deren Ausbau den vollständigen und teuren Umbau des gesamten Energiesystems, zum anderen haben Länder wie China wesentlich schnellere Fortschritte bei Forschung und Entwicklung gemacht; ein Großteil der Fertigung der Solarpanels europäischer und deutscher Konzerne erfolgt ohnehin in China. Die Pleitewelle deutscher und europäischer Solarfirmen in den letzten Jahren hat diese Problematik noch verschärft. Bemühungen um höhere CO2-Preise sind bisher vollständig gescheitert. In Deutschland und Europa wird mehr Kohle denn je konsumiert, während das prinzipiell klimafreundliche Erdgas aufgrund der billigeren Kohle und der weiterhin starken Subventionierung der erneuerbaren Energien zunehmend aus dem Strommarkt gedrängt wird. Bisher ist keiner der weltgrößten Treibhausgasemittenten wie die USA, China, Indien, Brasilien der ehrgeizigen deutschen und EUKlimapolitik mit ihrem Selbstbild einer globalen Führungsrolle gefolgt. Keiner von ihnen tritt wie die EU für bindend ambitionierte Zielvorgaben ein. Trotz der bilateralen US-China-Deklaration vom November 201410 haben sich die Aussichten auf ein umfassendes und bindendes globales Abkommen auf dem Ende des Jahres in Paris stattfindenden UN-Klimagipfel nicht wirklich verbessert. Bereits seit 2010 hat die Internationale Energieagentur (IEA) wiederholt gewarnt, dass die Welt in Sachen Energieversorgung wegen der gewaltig steigenden globalen Energienachfrage und der Zunahme politischer Risiken vor „beispielloser Ungewissheit“ steht. Aufgrund der Ölschwemme und weltweit sinkenden Öl- und Gaspreise ist dies zwar temporär verdeckt, doch auch die sinkenden Preise haben weitreichende Auswirkungen auf die sozioökonomische Stabilität derjenigen Produzentenstaaten, deren 10. China hat sich darin erstmals zum Peak seiner Treibhausgasemissionen im Jahre 2030 bekannt; danach würden sie stärker fallen. Bis 2030 würden die Erneuerbaren auf 20% seines Primärenergiemix ausgebaut. Vgl. Office of the Press Secretary of The White House, U.S.-China Joint Announcement on Climate Change, Washington D.C., 11. November 2014. 10 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Staatshaushalte zu mehr als 50 Prozent von hohen Öl- und Gaspreisen abhängig sind (z.B. Iran, Venezuela, Russland)11. Zudem gilt die künftige Energiepolitik Chinas als wichtigster Schlüsselfaktor für die globale Energiesicherheit12. China ist weitaus früher als erwartet zum weltweit größten Energiekonsumenten aufgestiegen. Sein Energiebedarf könnte bis 2035 um weitere 50 Prozent zunehmen. Chinas Anteil an der weltweiten Energienachfrage beträgt derzeit 18 Prozent und wird bei einem anhaltenden höheren Wirtschaftswachstum bis 2035 auf mindestens 22 Prozent steigen und dabei allein 33 Prozent des gesamten globalen Anstiegs der Energienachfrage darstellen. Es ist zugleich seit 2006 der weltweit größte Treibhausgasemittent und hat 2014 bei den Pro-Kopf-Emissionen erstmals die EU-28 übertroffen. Entscheidend bleibt, dass die Welt in 2040 selbst nach dem optimistischsten IEA-Szenario –weltweite Klimaschutzpolitik und erreichtes 2°C-Ziel – zu 60 bis 70 Prozent von fossilen Energieträgern abhängig bleibt und bis dahin rund ein Drittel mehr Energie benötigen wird. Auch für Deutschland gehen die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, die deutsche Industrie und viele Energieexperten gehen davon aus, dass das Land noch auf Jahrzehnte von fossilen Energieträgern abhängig bleibt13. 11. Vgl. F. Umbach, „The Geopolitical Impact of Falling Oil Prices“, Geopolitical Information Service, 19. November 2014: <www.geopolitical-info.com>. 12. Vgl. International Energy Agency (IEA), World Energy Outlook (WEO) 2014, Paris (OECD), 2014. 13. Vgl. BGR, Energiestudie 2014: Reserven, Ressourcen und Verfügbarkeit von Energierohstoffen, Hannover, Dezember 2014. 11 © Ifri Die deutsche Energiewende: eine Bestandsaufnahme Auf den ersten Blick ist die Energiewende eine Erfolgsgeschichte. 2014 konnte der Anteil der erneuerbaren Energien auf 26 Prozent der deutschen Stromerzeugung ausgebaut werden. Damit hat die Stromerzeugung auf erneuerbarer Basis seit 1990 um das Achtfache und seit 2000 um das Vierfache zugenommen14. Dennoch blieb auch 2014 die Braunkohlenverstromung mit 25,6 Prozent maßgeblich für die Strom- und Energieversorgungssicherheit Deutschlands. Obwohl die Steinkohlenverstromung 2014 mit 18 Prozent das niedrigste Niveau seit 1990 erreichte, bleibt sie eine unverzichtbare Energiequelle. Zusammen garantierten Braun- und Steinkohle mit mehr als 43 Prozent die Stromerzeugung des Landes. Demgegenüber nahm die klimafreundlichere, aber erheblich teurere, gasbefeuerte Stromerzeugung im gleichen Jahr weiter auf 9,6 Prozent ab. Nachdem die Treibhausgasemissionen zuletzt bis 2013 sogar gestiegen waren, sanken sie 2014 wieder und erreichten das niedrigste Niveau seit 2009. Deutschland blieb zudem auch 2014 der größte Produzent von Solarstrom, während die Preise an der Leipziger Strombörse einen neuen Niedrigstand von 33 Euro pro MWh (2013: 35 € pro MWh) erreichten. Auch nimmt Deutschland mit 30,4 Prozent der gesamten installierten Windenergie die Führungsrolle in der EU-28 ein15. Der Zuwachs bei Windkraftanlagen erreichte 2014 ein neues Rekordniveau, lag jedoch mit einem Nettozuwachs von 3.350 MW rund 35 Prozent über den vereinbarten Zielkorridor, was eher zusätzliche Probleme und Kosten für einen nachhaltigen Ausbau verursacht und ohne entsprechende Netze zum Abtransport zu den Konsumentenregionen wenig sinnvoll und vor allem kostspielig ist16. Darüber hinaus gilt Deutschland inzwischen als „energieeffizientestes Land“ weltweit17. 14. Vgl. „Erneuerbare Energien in Deutschland seit 2000 vervierfacht“, EurActiv, 27.2.2015 15. „Renewables Dominate German Energy Mix“, EurActiv, 8.1.2015 und J. Vasagar, „Renewables Take Top Spot in Germany’s Power Supply Stakes“, Financial Times, 7.1.2015. 16. Vgl. D. Wetzel, „Windkratausbau sprengt gesetzlichen Zielkorridor“, Die Welt, 30.12.2014, S. 9. 17. Vgl. „Germany Most Energy Efficient Nation“, Agence France Presse, 18.7.2014. 12 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Abbildung 1: Entwicklung der Stromerzeugung aus erneuerbarer Energien in Deutschland Quelle: BMWi, Erneuerbare Energien im Jahr 2014, Berlin, 27.2. 2015, S. 4. Ungeachtet dieser Erfolgsgeschichte steht Deutschland bei der Implementierung seiner Energiestrategie an einem Scheideweg. Der Ausbau der erneuerbaren Energien hat Auswirkungen auf das gesamte deutsche Energiesystem. Letztendlich sind zwei parallele Energiesysteme entstanden, die beide erhebliche und weiter steigende Subventionen erfordern. Diese wiederum haben in der gegenwärtigen Transformationsphase Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit. Die Kostenschätzungen für die Energiewende haben sich seit 2011 mit bis zu einer Billion Euro für die kommenden 25 Jahre dramatisch erhöht. Noch sind die Ziele nicht erreicht Als Herkulesaufgabe erscheint vor diesem Hintergrund, wenigstens eines der drei Hauptziele bis 2020 zu erreichen: ein Anteil von einem Drittel der Energie aus Erneuerbaren. Doch beim zweiten Hauptziel, nämlich den Energieverbrauch bis 2020 um ein Fünftel zu reduzieren, droht die Energiewende zu scheitern. Dadurch wird es zugleich deutlich schwerer, das dritte Ziel zu erreichen: den Rückgang der Emissionen um 40 Prozent bis 2020. Neueste Studien zeigen, dass dieses Ziel verfehlt wird und nur eine 33-34 Prozentige Reduzierung realistisch ist, wenn nicht deutlich größere Anstrengungen (wie die Schließung alter Kohlekraftwerke) als bisher erfolgen18. Dies aber würde die Kosten der Energiewende für private Verbraucher wie 18. Vgl. Agentur für Erneuerbare Energien (AEE), Keine Entwarnung: Erreichen der Klimaschutzziele erfordert weitere Anstrengungen, Berlin, 31.3.2015; F. Reitz u.a.‚ „Verminderte Kohleverstromung könnte zeitnah einen relevanten Beitrag zum deutschen Klimaschutzziel leisten“, DIW-Wochenbericht, 47/2014, S. 1219-1229. 13 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Industrie noch weiter erhöhen. Dabei hat das Erneuerbare-EnergienGesetz (EEG) bereits bis 2013 etwa 348 Mrd. Euro gekostet und könnte bis 2022 sogar bis zu 680 Mrd. Euro verschlingen19. Im Dezember 2014 hat die Bundesregierung ein neues Aktionsprogramm für den Klimaschutz verabschiedet, das die drohende Kluft von 6-7 Prozent zum 40-Prozent-Ziel bei den CO2Emissionen bis 2020 wieder schließen soll. Dabei sollen die Kraftwerksbetreiber 22 Mio. t CO2 bei den rund 500 Kraftwerken im Stromsektor einsparen. Diese Einsparungen sollen bei Kraftwerken erfolgen, die älter als 20 Jahre sind20. Dies aber läuft auf einen sukzessiven Ausstieg auch aus der heimischen Kohleverstromung hinaus. Dabei hatte Wirtschaftsminister Gabriel einen gleichzeitigen Ausstieg aus sowohl Kernenergie als auch Kohle wenige Wochen zuvor kategorisch abgelehnt, da dies Versorgungssicherheit wie Wettbewerbsfähigkeit gefährde21. Sowohl die Industrie als auch zahlreiche ostdeutsche Politiker lehnen die „Strafabgabe für Kraftwerke“ mit denselben Argumenten ab. Zudem führe eine Verteuerung des Kohlestroms keineswegs zwangsläufig zu weniger Emissionen, da Kohlekraftwerke nicht durch teurere, gasbefeuerte Kraftwerke ersetzt würden, sondern durch Importe billigeren Kohlestroms aus Polen und Tschechien22. Höhere Verwundbarkeit: Konsequenzen für die Versorgungssicherheit Deutschland deckt lediglich 3 Prozent seines Energiebedarfs durch einheimische Energieträger. Daher ist es auf hohe Importe von Erdöl, Gas und Kohle aus politisch instabilen Ländern und Regionen abhängig. 2012 beliefen sich die Energieimportkosten auf mehr als 90 Mrd. Euro23 .Die Energieversorgungssicherheit Deutschlands wie Europas ist jedoch zunehmend gefährdet24 . In Deutschland wird der Hauptgrund vor allem im Doppelausstieg aus der Kernenergie und der heimischen 19. Vgl. J. Vasagar, „Clean Energy Proves a Costly Exercise for Germany“, Financial Times, 22.10.2014. 20. Vgl., D. Wetzel, „Klimapaket soll Milliarden an Investitionen anschieben“, Die Welt, 4.12.20124. 21. Vgl. „Germany Denies Plans to Close Old Coal Plants in Sprint to 2020 Targets“, EurActiv, 25.11.2014; „Germany May Shut Down Eight More Coal Power Plants“, EurActiv, 24.11.2014. 22. Vgl. auch „BDI warnt vor Stilllegung von Kohlekraftwerken“, Die Welt, 25.11.2014, S. 9. 23. Vgl. „Energiewende: Gabriel wirbt mit Wohlstand und Arbeitsplätzen“, EurActiv, 27.3.2015. 24. Vgl. Institute for 21st Century/U.S. Chamber of Commerce, International Index of Energy Security Risk. Assessing Risk in a Global Energy Market, Washington D.C., 2012. 14 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Steinkohleproduktion gesehen, der höhere Kohle- und insbesondere Gasimporte vor allem aus Russland zur Folge hatte. Russland ist inzwischen nicht nur der größte Gas-, sondern auch der größte Diesel- und Kohlelieferant Deutschlands – und liefert damit nicht weniger als 20 Prozent der Primärenergie, während die heimische Primärenergiegewinnung bereits 2008/9 auf 27 Prozent abgesunken ist25. Abbildung 2: Deutsche Energieimporte und Anteil der Inlandsförderung 2000 und 2013 Quelle: Arbeitsgemeinschaft, Energiebilanzen e.V., 2014 Deutschlands Abhängigkeit von instabilen Energieimporten stieg im Jahr 2012 auf 61 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs – und lag damit sogar deutlich über dem EU-Durchschnitt von 53 Prozent. Dabei bleibt die Gasversorgungssicherheit und Abhängigkeit von Russland weiterhin eine besondere Herausforderung für die Energieversorgungssicherheit Deutschlands und der EU, auch wenn sich die Lage hier inzwischen bereits verbessert hat26. 25. Vgl. auch M. Frondel, C. Schmidt, „Am Tropf Russlands? Ein Konzept zur empirischen Messung von Energieversorgungssicherheit“, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 1/2009, S. 79-91. 26. Vgl. H. Bardt, Abhängigkeit gleich Verletzlichkeit? Energieimporte in Deutschland und Europa, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, 22.9.2014; H. Hecking, M. Martinez, M. Paletar, The 2014 Ukrainian Crisis: Europe’s Increased Security Position. Natural Gas Network Assessment and Scenario Simulations, EWI, Köln, 19.3.2015. 15 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Bis zur sofortigen Abschaltung von acht Kernreaktoren im März 2011 war Deutschland Europas größter Nettoexporteur von Strom. Es wurde binnen drei Wochen zum Nettoimporteur, wobei es oftmals Energie aus Kernkraftwerken in Frankreich und der Tschechischen Republik bezieht. 2012 wurde das Land wieder zu einem Netto-Exporteur von Elektrizität, aber dieses Mal auf Basis der instabilen Erzeugung aus Erneuerbaren, mit einer Zunahme ungeplanter Stromexporte. Deutschland muss bis 2022 neun Kernreaktoren abschalten. Die ehrgeizige Umgestaltung des deutschen Energiesystems soll 20 GW an Kernkraftkapazität durch den Bau von mindestens 10 GW erzeugenden Wind- und Solaranlagen sowie durch weitere 10 GW, die moderne hocheffiziente Gaskraftwerke zur Grundlastsicherung bereitstellen sollen, ersetzen. Doch weder der Bau noch der Betrieb neuer Gaskraftwerke ist für die Privatindustrie derzeit rentabel. 2013 konnten temporär bereits bis zu 60 Prozent des deutschen Stroms aus Sonne und Wind gewonnen werden. Doch diese Produktion, generiert mit über 23.000 Windkraftanlagen, kam Anfang Dezember 2013 fast vollständig zum Erliegen. Eine Woche lang mussten Kohle-, Kern- und Gaskraftwerke etwa 95 Prozent der Stromversorgung in Deutschland übernehmen. Auch derzeit drohen neue Sturmtiefs und eine Einspeisung von bis zu 30.000 MW Windenergie das Stromnetz zu destabilisieren, wenn nicht umfangreiche Netzeingriffe und Abschaltungen vorgenommen werden. Die stromwirtschaftliche Relevanz der Windenergie war 2013 mit 5.332 Stunden nur marginal27. Mit dem weiteren Ausbau der volatilen Erneuerbaren nimmt die Gefahr von bundesweiten Stromausfällen tendenziell zu. Jede Stunde eines größeren bundesweiten „Blackouts“ kostet rund 600 Mio. Euro28. Pro Jahr fallen durch die Netzeingriffe beim Netzbetreiber Tennet allein Kosten in Höhe von 250 Mio. Euro an, die auf die Stromkunden umgewälzt werden29. Das Netz muss zudem ein Spannungsgleichgewicht aus Nachfrage und Angebot innerhalb einer Marge von etwa jeweils 5 Prozent aufrechterhalten, da ansonsten größere Stromausfälle drohen. Doch Deutschland hat weiterhin viel zu wenige Speicherkapazitäten, die als Puffer gegen das schwankende Angebot von Wind- und Sonnenenergie dienen könnten. Im Ergebnis können selbst größere Stromausfälle wie in Süddeutschland nicht ausgeschlossen werden. So muss in den letzten Jahren ein enormer Anstieg der täglichen Eingriffe der Netzbetreiber zur Netzstabilisierung und Grundlastsicherheit konstatiert werden. Die 27. Vgl. „Die Verfügbarkeit von Windkapazitäten“, Sonderdruck Zukunftsfragen, Meinungen&Fakten, ET-Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 2014. 28. Vgl. D. Wetzel, „Jede Stunde Blackout kostet 600 Millionen“, Die Welt, 28.10.2013, S. 10. 29. Vgl. D. Wetzel, „Sturmfront bringt Stromnetz an die Grenzen“, ebd., 31.3.2015, S. 9. 16 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende deutschen Quersubventionen durch hohe Einspeisevergütungen für Wind- und vor allem Solaranlagen waren so „erfolgreich“, dass die volatilen Erneuerbaren das Stromnetz zunehmend überlasten. Mit deren Ausbau und der fehlenden Rentabilität fossiler Kraftwerke ist aber der notwendige Aufbau eines Kapazitätsmarkts dringender geworden. Dabei müssen die zur Grundlastsicherung erforderlichen Kraftwerke als Stabilitätsreserve zur Verfügung stehen und jederzeit kurzfristig sowie flexibel wieder ans Netz gehen können und dafür staatlich unterstützt werden. In einem ersten Schritt hat nun Wirtschaftsminister Gabriel den Aufbauplan einer Kapazitätsreserve von 4 MW angekündet – dies entspricht bis zu acht Kohlekraftwerken und 5 Prozent der maximalen Nachfrage30. Immerhin hat sich die Stromversorgungssicherheit in Deutschland inzwischen etwas verbessert und ist größer als in mehreren anderen EU-Staaten31. Bisher war Gabriel jedoch strikt gegen den Aufbau eines Kapazitätsmechanismus, da dieser die Stromkosten weiter ansteigen ließe32. Die Koalitionsregierung vereinbarte zunächst, den angestrebten Ausbau der Offshore-Windkraft von ursprünglich 10 GW auf 6,5 GW bis 2020 und von 25 GW auf 15 GW bis 2030 zu reduzieren. Gabriel wollte umfassendere und tiefergehende Reformen des EEG vorantreiben, zumal er seit dem Transfer der energiepolitischen Abteilung des Umweltin sein Wirtschaftsministerium deutlich mehr Macht hat. Doch noch immer scheint das Umweltministerium zulasten des Wirtschaftsministeriums die künftige energiepolitische Agenda ausrichten und bestimmen zu können. Kohleverbrauch und CO2-Emissionen steigen Versorger wie RWE und E.On haben damit gedroht, selbst die modernsten und effizientesten, 23.000 Megawatt produzierenden Gaskraftwerke vom Netz zu nehmen. Gleichzeitig wurden in Deutschland 23 moderne und wesentlich effizientere Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 24 GW zwar geplant, doch die grüne Lobby versucht, den Bau neuer Kohlekraftwerke zu verhindern. Dies blockiere den weiteren Ausbau der Erneuerbaren und widerspräche den Klimaschutzzielen. Die Versorgungsunternehmen hatten bereits 2013 selbst einen Plan vorgelegt, 26 Kraftwerke mit einer Kapazität von fast 7.000 MW ab 2015 vom Netz zu nehmen33. 30. Vgl. „Germany Outlines Plans for Reserve Power Capacity-Government Paper“, Reuters, 23.3.2015. 31. Vgl. A. Botzki, „Germany’s Energy Secure, Others May Fall Short“, Interfax-NGD, 27.3.2015. 32. Vgl. „Das Gegenteil von vernünftiger Energiepolitik“, EurActiv, 20.1.2015. 33. Vgl. „26 Gas- und Kohlekraftwerke vor dem Aus“, Die Welt, 9.10.2013, S. 14. 17 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Letztendlich entscheidet die Bundesnetzagentur, entweder diesen Plan oder die Schließung nur einiger Kraftwerke umzusetzen. Die Leistung derjenigen, die abgeschaltet werden, muss durch den Staat kompensiert werden, damit die Grundlastversorgung trotz des Ausbaus der instabilen Produktion aus Erneuerbaren aufrechterhalten werden kann. Gleichzeitig sind dringend Neuinvestitionen notwendig, doch in Ermangelung eines klaren gesetzlichen Rahmens planen oder investieren weder die deutschen Versorger noch ausländische Investoren. Die Versorgungsunternehmen wiederum haben bei einer Preisdifferenz der Rohstoffkosten von rund 35 Euro je MWh in 2012 auf billigere Kohle (insbesondere Braunkohle) anstatt auf das umweltfreundlichere Erdgas gesetzt. Sonst wären die Kosten noch weiter explodiert. Dies hat dazu geführt, dass 2012 und 2013 die CO2Emissionen in Deutschland wieder gestiegen sind – im Gegensatz zur offiziellen Berliner Klimaschutzpolitik, die eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 40 Prozent bis 2020 im Vergleich zu 1990 vorsieht. Infolge der Schiefergas-Revolution und der Umstellung von Kohle auf Gas sind die US-Kohleexporte nach Europa zwischen 2010 und 2011 um 38 Prozent gestiegen; im Jahr 2012 wuchsen sie noch einmal um 29 Prozent. Die Nachfrage aus der Gaskrafterzeugung ging im Jahr 2012 um fast 27 Prozent zurück und die Emissionen aus der Kohleverbrennung stiegen im Jahr 2013 auf den höchsten Stand seit mehr als 20 Jahren34. Erst im letzten Jahr sind sie wieder gefallen. Doch um wie in den USA einen Brennstoffwechsel von Kohle zu Gas herbeizuführen, müssten sich die CO2-Preise fast verzehnfachen und die Großhandelspreise für Strom annähernd verdoppeln. Damit wäre der Strom entsprechend noch wesentlich teurer35. Die deutschen Stromnetze sind unzureichend ausgebaut. Ein besonderes Problem stellen die Offshore-Windparks in Nord- und Ostsee dar, deren Gesamtleistung einmal mit 10.000 MW geplant war. Die vorherige Bundesregierung hatte Pläne vorgelegt, insgesamt 1.855 km an Hochspannungsstromleitungen quer durch das Land zu bauen, allerdings in erster Linie eine Art Energie-Autobahn aus dem Norden in den hochindustrialisierten und energiehungrigen Süden. Die Kosten für diese beiden Nord-Süd-Super-Netze wurden auf 10 bis 12 Mrd. Euro geschätzt. Die weitere Modernisierung und 34. Vgl. „Global Comparison Reveals Germany’s „Energiewende Dilemma““, EurActiv, 9.12.2014.. 35. Vgl. „Zur Bedeutung preiswerter Stromerzeugungskapazitäten“, in „Zukunftsfragen, Meinungen & Fakten 2012-2014“, in Sonderdruck ET, Energiewirtschaftliche Tagesfragen 2014, S. 14. 18 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Verbesserung des bestehenden Netzsystems sowie weitere 2.650 bis 4.000 km wären erforderlich, um die Kapazitäten auszubauen und die technische Defizite zu beheben sowie generell flexibler zu werden. Dies wird weitere 32 Milliarden Euro kosten. Im Jahr 2012 wurden nur 320 km, im Jahr 2013 weitere 50 km errichtet; 15 von 24 Netzausbauprojekten lagen teilweise bis zu sieben Jahre hinter ihrem Zeitplan zurück36. Gabriels Reformvorschläge vom Januar 2014 riefen unmittelbar Proteste von einigen Bundesländern und aus seiner eigenen Partei hervor. Aber der größte Protest kam von der konservativen bayerischen Regierung, die mit der Blockade der 800 km langen Nord-Süd-Stromtrasse drohte. Doch Deutschland braucht diese „Aorta der Energie-Revolution“ so schnell wie möglich, wie die Bundesregierung und die Europäische Kommission anmahnen. So wurde der bayerischen Staatsregierung vorgeworfen, die gesamte Energiewende zu sabotieren, während sie gleichzeitig die bayerische Stromversorgungssicherheit gefährde37. 36. Vgl. F. Umbach, Germany’s Energy Policy Cost Growth, Jobs and Living Standards. 37. Vgl. auch D. Wetzel, „Bayerischer Kurzschluss“, Die Welt, 5.11.2014. 19 © Ifri Die wirtschaftliche Dimension der Energiewende Sein Einspeisevergütungssystem hat Deutschland zum weltweit größten und meist subventionierten Solarmarkt gemacht. Nach Auffassung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) haben die rapide steigenden Kosten der Energiewende die tolerierbaren Grenzen bereits überschritten und gefährden nun die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie38. Der schlecht organisierte und verwaltete Energiemarkt sowie die inkohärente und unausgewogene Energiewende-Strategie haben die Kosten für Privatkunden und Industrie in die Höhe getrieben. Der subventionierte Ausbau erneuerbarer Energien hat die Strompreise – ohnehin unter den höchsten in Europa – zu einem wachsenden Problem für die Politik und die wirtschaftliche Verlässlichkeit werden lassen. Die Koalitionsregierung muss sich nun der unbequemen Frage stellen, ob sie eine mutmaßlich „faire Lastenteilung“ zwischen privaten Verbrauchern und der Industrie will, oder ob sie, zur zukünftigen Sicherung von Arbeitsplätzen, die produzierende Industrie als stärkste wirtschaftliche Säule beibehalten möchte. Letzteres würde einschneidende Veränderungen in der Politik der Energiewende oder aber eine weiter zunehmende Subventionierung auch der energieintensiven Wirtschaft zur Folge haben39. Reformbedarf beim Erneuerbare EnergienGesetz: Warnungen vor der „Deindustrialisierung“ Fast alle politischen und industriellen Akteure der Energiewende haben die Notwendigkeit einer umfassenden Reform der Energiepolitik erkannt. Aufgrund der weit verbreiteten und 38. Vgl. „German Industry Issues Stark Warning ahead of EU Climate Summit“, EurActiv, 22.10.2014; „Teuer, ineffizient und fortschrittsfeindlich?“, Welt am Sonntag, Nr. 48, 30.11.2014, S. 34 und „Germany Feels the Burden of its Shift to Renewable Energy“, Stratfor, 4.2.2015. 39. Vgl. „German Industry Issues Stark Warning ahead of EU Climate Summit“, EurActiv, 22.10.2014 und D. Wetzel, „Teuer, ineffizient, fortschrittsfeindlich?“, Welt am Sonntag, 30.11.2014, S. 34. 20 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende divergierenden Interessen ist jede Anpassung jedoch äußerst schwierig. Politisch gesehen hat Deutschland 17 Konzepte für eine Energiewende – das strategische der Bundesregierung sowie die 16 Konzepte der einzelnen deutschen Bundesländer. So wollen die nördlichen Bundesländer ihre geplanten Offshore-Windparks massiv ausbauen, um den Großteil des so erzeugten Stroms nach Bayern zu liefern. Bayern jedoch will bei seinem traditionellen Modell einer vom Bund autarken Energieversorgung bleiben und sucht durch den Bau neuer gemeinsamer Gaskraftwerke eher an der Abhängigkeit vom russischen Energiekonzern Gazprom festzuhalten, als Strom aus anderen Bundesländern einzuführen. Frühere deutsche Regierungen haben das Chaos beim Management der Energiewende weitgehend ignoriert und waren nicht bereit oder in der Lage, zwischen den verschiedenen Ebenen und Akteuren ausreichend zu koordinieren. Die Trennlinien verliefen dabei keineswegs zwischen den konkurrierenden politischen Parteien. Sowohl die CDU/CSU als auch die SPD stehen vielmehr vor der Schwierigkeit, ihre parteieigenen Positionen bei einzelnen Problemen gegenüber den eigenen Regierungen und Parteivertretern auf Landesebene durchzusetzen und letztere gesamtstaatlichen Interessen entsprechend einzubinden. Das Erneuerbare Energien-Gesetz (kurz EEG), wichtigstes Instrument für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energiewende, hat sich als unkontrollierbares „Monstrum“ erwiesen. Regierungsberater haben sogar für die Abschaffung des EEG und damit der Förderung von Ökostrom plädiert40. Es hat jedoch so viele neue Gewinner, Verlierer, Partikularinteressen und konkurrierende Akteure hervorgebracht, dass eine umfassende Reform politisch fast unmöglich erscheint. Die Kosten der Subventionierung von Einspeisevergütungen unter dem EEG sind zwischen 2000 und dem Jahresende 2013 auf mehr als 129 Milliarden Euro gestiegen. Deutsche Verbraucher müssen bis 2022 mindestens weitere 100 Milliarden Euro für bereits installierte Anlagen zahlen. Gabriels Versuch einer größeren Reform Anfang 201441, die den weiteren Ausbau der Erneuerbaren nur noch in einem gesetzlich geregelten Korridor erlaubt, ist weitgehend gescheitert42. In Deutschland ist Strom für private Verbraucher um 40 Prozent und für industrielle Konsumenten um 20 Prozent teurer als im EU-Durchschnitt. Gebühren, Steuern und anderen Abgaben machen dabei mehr als die Hälfte der Strompreise aus. Deutschland kämpft neben den EU-weit dritthöchsten Strompreisen zudem mit dem wachsenden Gaspreisunterschied zwischen Europa und den USA. 40. Vgl. A. Mihm, „Regierungsberater wollen das EEG abschaffen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 26.2.2014. 41. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Eckpunkte für die Reform des EEG, Berlin, 21.1.2014. 42. Vgl. M. Greive, „Das Neue EEG-Gesetz ist schon jetzt eine Baustelle“, Die Welt, 25.7.2014. 21 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Die jährlichen Gesamtkosten für das 14 Jahre alte EEG stiegen von 14,1 Milliarden Euro im Jahr 2012 auf mehr als 23 Milliarden Euro in 2014. Während der vierjährigen Regierungszeit der vorherigen Koalition aus CDU/CSU und FDP verfünffachten sich die Kosten. Die jährlichen Kosten könnten bis zum Jahr 2020 sogar 35 bis 40 Milliarden Euro erreichen, falls keine umfassende Reform durchgeführt wird. Im Jahr 2011 versprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel einen zukünftigen Höchstwert von 3,5 Cent pro kWh, doch die Kosten stiegen weiter auf 6 Cent im Jahr 2013 und sie könnten in naher Zukunft sogar 8 Cent pro kWh erreichen, wenn nicht entsprechend politisch gegengesteuert wird43. Einer der umstrittensten Punkte sind die Ausnahmen, die einige Unternehmen vor den Kosten der Energiewende schützen sollen. Die Kosten dieses Schutzes für energieintensive Unternehmen, deren Energiekosten in der Regel bis 40 Prozent der Gesamtkosten ausmachen, betrugen 2013 auf 4 Mrd. Euro, nachdem sich die Anträge auf Befreiung von den Netzentgelten von über 1.600 im Jahr 2011 auf 3.400 im Jahr 2012 mehr als verdoppelten. Damit wird die Last der Kosten für die Energiewende von einer immer kleineren Zahl von Verbrauchern getragen. Gleichzeitig steigt die Zahl energieintensiver Industrieunternehmen, die zum Erhalt ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit subventioniert werden. Aufgrund der hohen Energiekosten hat Deutschland 2013 Exporte in Höhe von rund 15 Mrd. Euro eingebüßt. Insgesamt verzeichneten die energieintensiven Industrien rund 30 Mrd. Euro Einbußen, wovon 60 Prozent auf die hohen Energiekosten im selben Jahr zurückgeführt werden44. Warnungen vor einer „Deindustrialisierung“, falls die Energiewende nicht reformiert werde, kommen sowohl von Regierungsmitgliedern als auch aus der Industrie45. Die deutsche Industrie erklärte bereits, dass die steigenden Energiekosten die globale Wettbewerbsfähigkeit des Landes sowie etwa 900.000 Arbeitsplätze gefährden. Auch der sozialdemokratische Minister für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, hatte kurz nach Amtsantritt im Januar 2014 vor einer „dramatischen Deindustrialisierung“ Deutschlands und deren Folgen gewarnt, falls die Energiewende schlecht verwaltet bliebe46. Die Energiepreise in Deutschland stiegen zum Jahresbeginn 2014 auf einen Wert von 48 Prozent über dem europäischen 43. Vgl. F. Umbach, Germany’s Energy Policy Cost Growth, Jobs and Living Standards. 44. Vgl. „Germans Told of Billions Lost to Trade Due to Energy Policy“, FT, 26.2.2014 45. Vgl. auch HIS, „A More Competitive Energiewende. Securing Germany’s Global Competitiveness in a New Energy World“, HIS-Report, March 2014; P. Spiegel, „Schäuble Warns Green Policies are Harming German Economy“, FT, 28.1.2014. 46. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, „Rede Bundesminister Gabriel auf der 21. Handelsblatt Jahrestagung“, Berlin, 21.1.2014. 22 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Durchschnitt. Die Industriepreise sind um 19 Prozent höher als der EU-Durchschnitt, was immer mehr zum Wettbewerbsnachteil für die deutsche Industrie wird47. Wie neueste Wirtschaftsanalysen zum Industriestandort Deutschland zeigen, ist eine Deindustrialisierung Deutschlands und ein schleichender Desinvestitionsprozess empirisch bereits nachweisbar48. Die amerikanische Schiefergasrevolution und die hohen Gaspreise in Europa und Deutschland sind jedoch auch Folge der Langfristverträge und ihrer „Take-or-Pay“-Klauseln mit Russland und dessen Unwillen, an einer Ölpreisindexierung festzuhalten. Sie drohen sowohl die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Industrie als auch die Zukunft von Erdgas in Europa zu gefährden. Auch die IEA erwartet, dass sich der EU-Anteil am globalen Exportmarkt für energieintensive Güter von derzeit noch 36 Prozent bis 2035 um nicht weniger als 10 Prozent verringern wird49. Abbildung 3: Anteile am weltweiten Exportmarkt für energieintensive Güter Quelle: IEA, World Energy Outlook 2013 (WEO 2013), Paris: IEA/OECD, 2013. Ein weiterer Kostenfaktor – und zugleich eine wachsende politische Hürde – ist der bisher ausschließliche Fokus auf die Steigerung der Produktion von erneuerbaren Energien ohne Rücksicht auf den zeitgerechten Ausbau eines entsprechenden Netzes. Dies führte zur Produktion zusätzlichen Stroms aus Erneuerbaren, der aufgrund unzureichender 47. Vgl. D. Wetzel, „Ökostrom-Kosten belasten Industrie“, Die Welt, 4.2.2014, S. 9. 48. Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft (IW 2013), Die Zukunft der Industrie in Deutschland und Europa. IW-Analysen 88 – Forschungsberichte aus dem IW, Köln; Bundesverband der deutschen Industrie, Positionspapier Förderung von unkonventionellem Erdgas im Industrieland Deutschland, Berlin, März 2013. 49. Vgl. das Kap. „Energy and Competitiveness“ in IEA, ‘WEO 2013’, S. 261 ff. 23 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Verbindungsnetzinfrastrukturen überhaupt nicht zu den Verbrauchern transportiert werden kann. Der Netzausbau und die Modernisierung des Stromnetzes liegen jedoch weit hinter dem Zeitplan zurück. Der deutsche Steuerzahler zahlt somit für eine stark subventionierte Stromerzeugung, deren Ergebnis nicht transportiert oder von Verbrauchern genutzt werden kann. Weitere zusätzliche Kosten entstanden durch die verbindliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Januar 2014, wonach das Land Hessen dem deutschen Stromversorger RWE Schadenersatz bezahlen muss für die von der Regierung erzwungene Schließung des Kernkraftwerks Biblis im Rahmen des beschleunigten Atomausstiegs. Das Versorgungsunternehmen erklärte, dass es allein im Jahr 2011 eine Milliarde Euro aufgrund der erzwungenen Schließung des AKW verloren habe. Experten haben die Bundesregierung gewarnt, dass die möglichen Auszahlungen an die Kernkraftwerksbetreiber für entgangene Einnahmen und redundante Investitionen bis zu 15 Milliarden Euro umfassen könnten. E.On und Vattenfall haben ähnliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschaltung geäußert, doch bisher haben sie sich noch nicht an die Gerichte gewandt, obwohl Vattenfall bestreitet, dass die Abschaltung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit standhielte. Die soziale Dimension steigender Energiepreise Hinzu kommt die wachsende Zahl von armen Menschen, die sich die steigenden Stromkosten nur noch mit Unterstützung leisten können. Etwa 10 bis 15 Prozent der Deutschen können ihre Stromrechnungen kaum bezahlen. 2012 wurde rund 600.000 Haushalten der Strom abgeschaltet. Die wachsenden Stromkosten bedeuten für einen durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt Mehrkosten von über 1.000 Euro im Jahr50. Dies hat eine komplizierte soziale Dimension geschaffen und führte dazu, dass die Energiewende von der Mittelschicht finanziert wird. Da diese jedoch stetig schrumpft, ist dieses sensible politische Problem zu einem Thema mit breiter öffentlicher Aufmerksamkeit geworden. 50. Vgl. F. Diekmann, „Energiearmut in Deutschland nimmt drastisch zu“, SpiegelOnline, 24.2.2014. 24 © Ifri Fazit und Perspektiven Die Probleme mit der Energiewende sind nicht nur das Ergebnis einer unkoordinierten und schlecht geführten Energiepolitik auf verschiedenen Ebenen. Die Wurzeln der Probleme gehen viel tiefer. Letztere werden indes nicht unter der Prämisse diskutiert, dass die Energiewende in Deutschland schwerlich implementiert werden kann, ohne dass den europäischen und globalen energiepolitischen Entwicklungen Rechnung getragen wird. Aufgrund der Auswirkungen der amerikanischen Schiefergas-Revolution auf die globalen und europäischen Gas- und Kohlemärkte, die Preise für fossile Brennstoffe sowie die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Industrie, haben sich zahlreiche Annahmen für die mittelfristige Perspektive der globalen und europäischen Energiemärkte als falsch erwiesen. Deutschland braucht daher weitaus pragmatischere Ansätze, um im deutschen Energie-Dreieck Nachhaltigkeit, Erschwinglichkeit und Wettbewerbsfähigkeit untereinander auszugleichen. Der Quartalsbericht der Unternehmensberatung McKinsey vom Frühjahr 2014 kam in seinem vierteljährigen „EnergiewendeIndex“, der die Umsetzung der drei Hauptziele Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Nachhaltigkeit (Klima- und Umweltschutz) in 15 Indikatoren bewertet, zu dem Ergebnis, dass die Erfolgsaussichten noch geringer seien als im September 2012. Der Index vom Frühjahr 2014 verdeutlicht, dass nur sechs der 15 indizierten Ziele „realistisch“ bis 2020 erreicht werden können. Der Indexwert für die IndustrieEnergiepreise verschlechterte sich seit 2012 „drastisch“. Reformbedarf im Inneren Die Bundesregierung unter Angela Merkel hat die Kontrolle über die deutsche Energie- und Umwelt-Klimapolitik fast vollständig an ihren Koalitionspartner abgetreten. Sie kann damit zukünftig jegliche Schuld oder Kritik von sich weisen, sollte der Energiewende ins Wanken geraten oder drohen, ihre Popularität zu untergraben. Zugleich läuft die unkoordinierte grüne Energie-Agenda Gefahr, sich zunehmend selbst zu zerstören, wenn sie weiterhin mit überzogenen Zielvorstellungen verknüpft wird und die neuen globalen energiepolitischen Megatrends versucht auszublenden. Mit Rücksicht auf die Energieversorgungssicherheit und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit wäre ein nachhaltiges Gleichgewicht und pragmatischere Politik hinsichtlich des „Energietrilemmas“ von 25 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Umweltund Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit erforderlich. Versorgungssicherheit sowie Obwohl das Wirtschaftsministerium mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet wurde, um die Energiewende in die richtige Richtung zu lenken, können zahlreiche Probleme weder durch dieses allein noch durch die Bundesregierung gelöst werden – völlig unabhängig von der gesellschaftlichen Akzeptanz. Eine Reform des Europäischen Emissionshandelssystems (ETS) oder Maßnahmen, um Gas gegenüber Kohle wettbewerbsfähiger zu machen, können z.B. nur von der EU und den globalen Energiemärkten in Angriff genommen werden. Die deutsche Entscheidung zum Atomausstieg erfolgte zu einer Zeit, in der Deutschland mehr denn je zur engen Kooperation mit seinen Partnern bei der gemeinsamen Energie- und Klimapolitik gezwungen ist. Nur so können die beiden großen Herausforderungen des Klimawandels und der globalen Energiesicherheit bewältiget werden. Nationale Alleingänge, auch wenn diese als Vorreiterrolle legitimiert werden, sind angesichts dessen unzureichend und vor allem hinsichtlich der Transformationskosten völlig kontraproduktiv. Deutschlands integrierte Energiepolitik und seine Energiemärkte erfordern heute mehr denn je gemeinsame europäische Lösungen unter Berücksichtigung mit globalen Ansätzen und pragmatisch-strategischen Visionen für den EUEnergiebinnenmarkt, der nicht zuletzt wegen des energiepolitischen Alleingangs Deutschlands bisher nicht vollendet werden konnte. Ein nationaler Strommarkt ist jedoch schon heute weitgehend Vergangenheit. Größere Investitionen erfolgen zumeist bei transnationalen Energieinfrastrukturen – wie derzeit beim Bau von zahlreichen neuen Gas- und Strominterkonnektoren zwischen den 28 Mitgliedsstaaten, um so die physischen und infrastrukturellen Voraussetzungen für einen einheitlichen und liberalisierten Energieraum vollständig umzusetzen. Für die deutsche Energiewende wäre es bereits ein WorstCase-Szenario, wenn Deutschland die Ziele der Energiewende nur partiell erreichen könnte, wie z.B. den geplanten Anteil der Erneuerbaren am Energiemix bis 2020 oder 2030, viele andere Ziele aber verfehlen würde. Deutschland droht damit die globale Wettbewerbsfähigkeit seiner Industrie zu verlieren, da energieintensive Branchen wie die chemische Industrie nach einem schleichenden Investitionsabbau das Land verlassen würden. Dies aber hätte erhebliche Auswirkungen auf die eng verknüpften und integrierten Wertschöpfungs- und Lieferketten der deutschen Industrie und könnte Hunderttausende von Arbeitsplätzen kosten und den geopolitischen und wirtschaftlichen Einfluss Deutschlands in Europa und der Welt signifikant schmälern. Deutschland wäre nicht mehr Europas wirtschaftliches Kraftzentrum, und der weltweite Einfluss der EU weiter sinken, so dass Deutschland und die EU zusätzlich geschwächt und marginalisiert würden. 26 © Ifri F. Umbach/ Deutsche Energiewende Deutschland als Vorbild und Modell einer erneuerbaren Energiewende in anderen Ländern? Eine Meinungsumfrage unter den Energie-Experten des World Energy Council (WEC) zeigte im März 2013 und Januar 2015 eine wachsende Skepsis über das Erreichen der Ziele und die Vorgaben der deutsche Energiewende. Abbildung 4: Umfrage: Quelle: WEC Survey Kein Land der Welt kann sich derzeit vorstellen, dass der deutsche Weg eine Blaupause für die eigene nationale Energiepolitik sein könnte. Die Lehre der deutschen Energiewende ist nicht zuletzt für ausländische Energieexperten, dass die Probleme und Kosten der energiepolitischen Transformation und der Dekarbonisierung der Wirtschaft gewaltig unterschätzt worden sind, dass der radikale Ausbau der erneuerbaren Energien zwei kostspielige parallele Energiesysteme schafft und der Ausbau von Ökostrom einen vollständigen Umbau des gesamten Energiesystems zur Folge hat. 27 © Ifri Notes du Cerfa Die Reihe „Notes du Cerfa“ erscheint seit 2003 in monatlichem Rhythmus und analysiert die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung des heutigen Deutschlands: Außen- und Innenpolitik, Wirtschaftspolitik und Gesellschaftsthemen. Die „Notes du Cerfa“ bieten kurze wissenschaftliche Analysen mit einer klaren policyOrientierung. Die Publikation wird in elektronischer Form kostenlos an etwa 2.000 Abonnenten versandt, ebenso wie die „Visions francoallemandes“, und ist zudem auf der Internetseite des Cerfa verfügbar, von der die Beiträge ebenfalls kostenlos heruntergeladen werden können. Letzte Veröffentlichungen des Cerfa Marcus Engler, Martin Weinmann, „ EU-Migration nach Deutschland : Aktuelle Trends “, Note du Cerfa, n°121, mars 2015. Hannes Adomeit, „ Les relations germano-russes : entre changement de paradigme et maintien du statu quo “, Note du Cerfa, n°120, février 2015. Pascal Kauffmann, Henrik Uterwedde, „ Quel policy mix de sortie de crise pour la zone euro ? Vers de nouvelles convergences franco-allemandes “, Vision franco-allemande, n°25, janvier 2015. Tobias Koepf, „ L’Allemagne à la recherche d’une stratégie de politique africaine “, Note du Cerfa, n°119, janvier 2015. Michel Drain, „ L’engagement de la Bundeswehr en Afghanistan : quels enseignements pour la politique de défense allemande ? “, Note du Cerfa, n°118, décembre°2014. 28 © Ifri Das Cerfa Das „Comité d’études des relations franco-allemandes“ (Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen, Cerfa) wurde 1954 durch ein Regierungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gegründet. Die Amtsvormundschaft des Cerfa kommt seitens Frankreich dem Ifri und seitens Deutschland dem DGAP zu. Das Cerfa wird paritätisch durch das Ministère des Affaires étrangères et européennes und das Auswärtigen Amt finanziert. Des Weiteren besteht der Verwaltungsrat aus einer gleichen Anzahl an deutschen und französischen Persönlichkeiten. Das Cerfa setzt sich das Ziel, Prinzipien, Bedingungen und Lage der deutsch-französischen Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher und internationaler Ebene zu analysieren; Fragen und konkrete Probleme, die diese Beziehungen auf Regierungsebene stellen, zu definieren; Vorschläge und praktische Anregungen zu finden und vorzustellen, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu vertiefen und zu harmonisieren. Dieses Ziel wird durch regelmäßige Veranstaltungen und Seminare, die hohe Beamte, Experten und Journalisten versammeln sowie durch Studien in Bereichen gemeinsamen Interesses verwirklicht. Prof. Dr. Hans Stark leitet das Generalsekretariat des Cerfa seit 1991. Dr. Barbara Kunz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin. Nele Wissmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und für das Projekt „Deutsch-französischer Zukunftsdialog“ zuständig. Lea Metke ist Projektbeauftragte im Cerfa. 29 © Ifri
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