4. Über die Verschiedenheit der Rechtsquellen

4. Über die Verschiedenheit der Rechtsquellen
Der Begriff der Rechtsquelle
Naturrecht
Antike
Christentum
Vernunftrecht
Positives Recht
Gewohnheitsrecht
Gesetzesrecht
Rechtsprechung
Präjudizienwirkung
Case Law
VO Politik und Recht – Rechtsquellen
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Über das Wesen des Naturrechts
• Das Naturrecht
 Recht ist in einer natürlichen, moralischen Ordnung begründet
 Naturrecht kann durch positives Recht kodifiziert werden, es besteht jedoch völlig unabhängig von diesem
• Was charakterisiert demnach das Naturrecht?
 Ein ewig gleichbleibendes vorgegebenes Sittengesetz, dass jeder Mensch qua seines Menschsein erkennen muss und an dem er sich auch zu orientieren hat
 Richtiges Handeln als Voraussetzung für das individuelle und kollektive Glück (Deontologie)
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Das antike Naturrecht
• Vier Determinanten des Naturrechts in der Antike
1
Es gilt universell und ist unveränderlich.
2
Es steht dadurch hierarchisch über den kodifizierten Gesetzen, die von politischen Autoritäten geschaffen worden sind.
3
Bestimmt, ob positive Gesetze bindend sind
• ersetzt positives Recht, wenn es nicht naturrechtskonform ist
• richtungweisendes Element der Rechtssetzung
4
Naturrecht wird durch die Vernunfteinsicht eines Menschen von diesem erkannt.
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Das antike Naturrecht am Beispiel Ciceros
Logos =
„Das wahre Gesetz aber ist die richtige Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht und für alle Menschen gilt. Es ist unveränderlich und ewig,[. . .]. Wer ihm nicht gehorcht, flieht vor sich selber und verleugnet das Wesen des Menschen. Aber eben dadurch erleidet er die schwerste Strafe, auch wenn er allen anderen Strafen entgeht.“
Cicero höchste Form
der Vernunft
Lex aeterna =
ewig, göttliches Recht
Cicero
106 v. Chr. – 43 v. Chr.
Lex naturalis =
allgemeingültiges Naturrecht
(Über die Gesetze)
Lex humana =
Positives Recht
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Naturrecht und Christentum
•
Recht entstammt einer göttlichen, metaphysischen Schöpfungsordnung
•
Natürlich‐göttliches Recht einzig relevanter Maßstab für das Gesetzesrecht
•
Dadurch ist es (scheinbar)
–
–
–
–
•
Wurzel aller Sittlichkeit
vollkommen
vernünftig
aber durch den Sündenfall nachhaltig determiniert
Bewirkt enge Verwobenheit von Kirche und Staat
Augustinus (354 – 430)
Thomas von Aquin
(1226 – 1274)
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Naturrecht als Vernunftrecht (1/2)
• Krise des teleologischen Naturrechts
– Antizipation und Perzeption der individuellen Vernunft
– Vordenker Hugo Grotius
• Die Fiktion des Naturzustandes
–
–
–
–
Hobbes, Rousseau, später auch Rawls
Gedankenexperiment
Zustand sozialer Ordnung ohne Recht
Willkür – Konflikte – Gefährdung des sozialen Friedens
• Ausweg Kontraktualismus (politische Theorie)
Hugo Grotius (1583 – 1645)
– Selbstbeschränkung und Selbstbindung durch einen Gesellschaftsvertrag
– Übergang vom (gewalttätigen) Natur‐ in einen (gewaltfreien) Vertragszustand
• Verschiedenste Modelle
– Hobbes: Leviathan (starke autoritäre Machtstrukturen)
– Rousseau: Contrat social (Gesellschaftsvertrag)
– Rawls: Die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit
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Naturrecht als Vernunftrecht (2/2)
•
Initiiert durch die Entstehung der modernen Naturwissenschaften
 Darlegung von gesellschaftlichen Kausalzusammenhängen
 Bedeutungszunahme der Empirie statt der Metaphysik
 Herausbildung neuer natürlicher, rationaler Gesetzmäßigkeiten
•
Geburtsstunde der ersten großen modernen Kodifizierungen und der gegenwärtig ausdifferenzierten Rechtsdogmatik
 1807 Code Civil (später dann auch Code Napoléon genannt)
 1812 ABGB (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch)
 gilt zu großen Teilen auch heute noch
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Heutige Bedeutung des Naturrechts
• Anerkannt sind in zivilisierten Kulturbereichen heutzutage einige, wenige oberste Naturrechtssätze, wie etwa
–
–
–
–
–
das Verbot der willkürlichen Tötung
das Verbot der Sklaverei
das Verbot des Menschlichkeitsverbrechens
das Verbot des Angriffskrieges
der Grundsatz „pacta sunt servanda“.
• Spuren naturrechtlicher Elemente in den heutigen Rechtsordnungen
§ 16 ABGB
Art. 1 Abs. 1 GG (deutsches Grundgesetz)
„Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als Person zu betrachten.“
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
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Das Gewohnheitsrecht
• Entstammt aus Brauchtum und Sitte und konnte sich mit der Zeit zu einer Rechtsnorm verdichten
• Bedeutungsverlust im 16 Jhdt.
 Aufstieg der Städte
 Entwicklung des Waren‐ und Geldverkehrs
• Zwei Faktoren sind dabei maßgeblich:
Zwei Faktoren des Gewohnheitsrechts
Über längeren Zeitraum gleichmäßige Übung und Sitte (longa
consuetudo)
Mit der Überzeugung durch dieses Verhalten Recht geschaffen bzw. Recht befolgt zu haben (opinio iuris) • Auch Gewohnheitsrecht als eigene Rechtsquelle ist positives Recht im weitesten Sinne, da es von den Menschen für die Menschen geschaffen worden ist
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Zur aktuellen Bedeutung des Gewohnheitsrechtes
Durch „Verrechtlichung“ und seinem statischen Charakter untergeordnete Bedeutung
Gestattungs‐ vs. Übungstheorie
Das österreichische Privatrecht folgt der Gestattungstheorie
•
•
•
§ 10 ABGB
„Auf Gewohnheiten kann nur in den Fällen, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft, Rücksicht genommen werden.“
Heute noch eine geringe Bedeutung vor allem im Unternehmens‐ und Völkerrecht
•
– Unternehmensrecht
Handelsbräuche und Verkehrssitten
•
– Völkerrecht
Völkergewohnheitsrecht
•
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Das Gesetzesrecht (positives Recht im engeren Sinn)
•
Rechtsnormen als Produkt staatlicher Entscheidungsprozesse
– die regelmäßig wirksam („effektiv“) sind (also von den Rechtsunterworfenen befolgt werden) und
– die im Falle der Nichtbefolgung zwangsweise durchgesetzt werden können (Androhung und Durchführung organisierten Zwanges)
•
Steigerung der Rechtsqualität, Rechtssicherheit und der Effizienz (vgl. Kapitel 3)
– Wurde notwendig aufgrund von
•
•
•
•
größerer Mobilität
größerer Problemlösungskapazität
ausdifferenzierten Gesellschaftsstrukturen
Recht als das zentrale Instrument der Herrschaft in einem Rechtsstaat
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Rechtsbildung durch Rechtsprechung
• Ambivalenz
 Rechtsprechung durch das Recht gebunden (Rechtsprechung als bloße Rechtsanwendung)
 Urteile nur verbindlich für die jeweilige Rechtssache
• In der Praxis Orientierungsfunktion der Präjudizien
 Abstrakter Charakter der Rechtsnorm wird konkret durch seine Anwendung (Inhaltliche Anreicherung der Rechtsnorm)
 Zeitliche Kluft zwischen Rechtssetzung und Normanwendung durch die Gerichte – Einbringung neuer Wertungsgesichtspunkte durch die Gerichtsbarkeit (Rechtsfortentwicklung)
 Abstraktes Recht und konkrete Rechtsanwendung durch Gerichte werden zu einer systematischen Einheit
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Die Wirkung von Präjudizien im österreichischen Rechtssystem
• In Österreich offiziell keine Bindungswirkungen durch Präjudizien von oberen Gerichtshöfen
• Aber: ähnliche Fälle sollen ähnliche Entscheidungen nach sich ziehen





Rechtssicherheit Vorhersehbarkeit und Rechtskontinuität
Entlastungsfunktion
Präjudizienvermutung
Suche nach Ähnlichkeiten oftmals schwieriges Problem der Interpretation
Obwohl in Österreich keine normative Wirkung von Präjudizien existiert, entfalten sie eine de facto Bindungswirkung qua der argumentativen Überzeugungskraft
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Das amerikanische System des Case Law
•
•
•
Historisch begründet durch die Rechtsprechung des Gerichts von Westminster (GB) im 15. und 16. Jhdt.
Es gilt für die Juristen bereits abgeurteilte Fälle (sog. Präzedenzfälle) zu finden, die dem vorliegenden Fall gleichen
Heute noch große Bedeutung im Zivil‐ und Strafrecht
Präzedenzfällen mit leitenden Rechtssätzen
„stare decisions“
•
Bestätigung durch Gericht
„hodling“
Weiterentwicklung des leit. Rechtssatzes
„distinguishing“
Abgehen vom leit. Rechtssatz
„overruling“
Neuer Präzedenzfall
Dissenting bzw. Concurring opinion in den Richtersenaten von oberen Gerichtshöfen
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5. Struktur und Aufbau der Rechtsordnung
Die Lehre über den Stufenbau der Rechtsordnung
• Basierend auf Arbeiten von Adolf Merkl und Hans Kelsen
• Vertikale Gliederung aller Rechtsnormen nach verschiedenen Rangstufen
• Jeder Rechtsakt weist sowohl rechtserzeugende als auch rechtsvollziehende Elemente auf (doppeltes Rechtsantlitz)
Adolf Merkl (1890 – 1970)
VO Politik und Recht – Aufbau der Rechtsordnung
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Der Stufenbau der Rechtsordnung
Aufbau der österreichischen Rechtsordnung
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Grundprinzipien der Verfassung
Demokratisches Prinzip
Republikanisches Prinzip Bundesstaatliches Prinzip
Rechtsstaatliches Prinzip
Gewaltentrennendes Prinzip
Liberales Prinzip
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Das Unionsrecht
• Primäres Unionsrecht
– Verträge und Beitrittsverträge
– Allgemeine Rechtsgrundsätze
– Maßstab für sekundäres Unionsrecht
•
„Europäisches Verfassungsrecht“
Sekundäres Unionsrecht
– Verordnungen
•
Unmittelbare Geltung
– Richtlinien
• Umsetzungsauftrag für Nationalstaaten
Supranationales Recht (vgl. Folie 19)
– Sonstige Rechtsakte
– Individuelle Entscheidungen
• Inzidente Kontrolle des Anwendungsvorranges durch die österreichischen Behörden
• Integrationsschranken der Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung
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Generelle Normen
• Bundes‐ und Landesverfassungsrecht
– Besondere Erzeugungsverfahren
– Höhere Bestandskraft
– Beinhaltet Spielregeln für das jeweilige politische System
• Bundes‐ und Landesgesetze
–
–
–
–
Zentrale normative Grundlage für das Handeln von Verwaltung und Gerichtsbarkeit
Beschlossen von allgemeinen Vertretungskörpern
Kundgemacht in Bundes‐ bzw. Landesgesetzblätter
In Österreich gilt der Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ nicht
• Verordnungen
– Gesetze mit Verordnungsermächtigung für die Verwaltungsorgane
– Dienen zur Gesetzespräzisierung
– Ordnungsmäßige Kundmachung Voraussetzung für die Geltung von Verordnungen
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Individuelle Rechtsakte und Vollstreckung
Bescheide
Urteile
Beschlüsse
Verträge
Vollstreckung
(ultima ratio)
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Zusammenhänge im Stufenbau der Rechtsordnung
1) Entstehungszusammenhang
• Die höherrangige Norm gibt die Erzeugungsbedingungen für die niederrangige Norm vor
• Verhältnis zwischen Normgebundenheit und Ermessensspielraum der normerzeugenden Organe
2) Bedingungs‐ und Inhaltszusammenhang
• Die höherrangige Norm ist inhaltliche Bedingung für die
rangniedrigere Norm
3) Derogationszusammenhang
• Abändern oder Aufheben niedrigerer, zeitlich älterer oder allgemeinerer Normen durch höhere, zeitlich später erlassene oder speziellere Normen
– Lex superior derogat legi inferiori
– Lex posterior derogat priori – Lex specialis derogat legi generali
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