Für manchen findet der Weltkrieg nie ein Ende

Die dritte Seite
Nummer 105
Freitag, 8. Mai 2015
Für manchen findet der Weltkrieg nie ein Ende
Kindergeneration kämpft mit ihren Traumata / Auch Enkel beginnen zu fragen / Radebold fordert Konsequenzen für Arbeit mit Senioren
sind. Sie treibt das Schicksal
ihrer Eltern um, und sie wollen wissen, warum viele von
ihnen so lange geschwiegen
haben und es noch immer
tun. Immer mehr Familien
forschen bei Einrichtungen
wie
Wehrmachtsauskunftsstelle, Kriegsgräberfürsorge,
Militärhistorischem Institut
Freiburg oder der Gedenkstätte Dresden nach.
»Die Kriegskinder machen
sich auf den Weg«, so umschreibt Radebold diese Entwicklung. Das zeigt: Auch 70
Jahre nach dem Waffenstillstand scheint der Zweite Weltkrieg noch lange nicht zu Ende zu sein.
Von Alfred Verstl
Calw/Kassel. Es war ein banaler Auffahrunfall. Die Fahrerin trug ein Schleudertrauma
davon. Selbst für eine Frau
von Mitte 70 keine allzu
schwere Verletzung.
Doch unmittelbar darauf
geschah etwas ganz anderes.
Sie waren wieder da, die Bilder vom Krieg. Von dem Angriff britischer Flugzeuge, die
einen Zug am Nord-OstseeKanal mit MaschinengewehrSalven beschossen hatten.
Menschen starben, Blut floss,
Schreie aus Todesangst. Und
mitten drin das damals knapp
fünfjährige Mädchen mit Mutter und Schwester.
Rund 70 Jahre später hat ein
alltäglicher Autounfall ausgereicht, um die grauenhaften
Kriegserlebnisse wieder wach
werden zu lassen. Von Trauma-Reaktivierung spricht der
Kasseler Psychiater und Psychoanalytiker Hartmut Radebold. Bei ihm hatte diese Frau
wegen ihrer Angstzustände
Hilfe gesucht.
Ein Einzelfall? Keineswegs.
Der Wissenschaftler beschäftigt sich mit der Generation
der Kriegskinder seit rund 15
Jahren. Radebold, selbst Jahrgang 1935, hat ein solches
Schicksal am eigenen Leib erfahren. Nach einer schweren
Herzoperation »ging es mir
richtig schlecht. Ich wurde
von Weinkrämpfen geschüttelt«, erzählt er. Auch bei ihm
wurden schlimme Erinnerungen wach. An die Flucht aus
Westpreußen, an Bombennächte in Berlin, an den toten
Vater und den in die Sowjetunion verschleppten Bruder.
Radebolds Stimme gerät ins
Stocken, wenn er darüber
spricht.
Als der Psychiater und Psychoanalytiker ab 2002 begann, Vorträge zu diesem
Thema zu halten, ist er in hohem Maße angefeindet worden. Als Deutscher könne
man darüber nicht forschen,
hieß es. Es fällt auf, dass von
der Wissenschaft auch erst danach Themen wie Flucht, Vertreibung, die Bombardierung
der Städte oder Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten thematisiert worden
sind. Sehr spät begann man
sich damit zu beschäftigen,
dass auch Deutsche unter
dem Krieg gelitten haben.
In die rechte Ecke möchte
sich Radebold nicht gestellt
sehen. Und das nicht nur, weil
die Kindergeneration, die Mitte der 30er-Jahre geboren worden ist, gar nicht zu den Tätern des Nazi-Regimes gehören kann; sondern, weil es
eine unerträgliche Ambivalenz zwischen Tätern und
INFO
Hartmut
Radebold
Hartmut Radebold, geboren
1935 in Berlin, ist ein deutscher Hochschullehrer, Autor
und Arzt für Psychiatrie/
Neurologie,
Psychoanalyse
und
Psychotherapeutische
Medizin, Lehr- und Kontrollanalytiker und Altersforscher.
Von 1976 bis 1998 hatte er
einen Lehrstuhl für Klinische
Psychologie an der Universität Kassel inne. Radebold lebt
und arbeitet in Kassel. Er gilt
als Begründer und Nestor der
deutschsprachigen Psychotherapie Älterer.
Literaturhinweise
u Sabine
Bode, Die vergessene
Generation: Die Kriegskinder
brechen ihr Schweigen, KlettCotta 2015
Die Kriegskinder kämpften 1945 täglich ums Überleben. Hartmut Radebold (Mitte) meint, viele dieser Zeitzeugen von damals
»funktionierten« im Alter nicht mehr. Das trage zur Trauma-Reaktivierung bei.
Fotos: US Army/Fritsch
Leidtragenden gibt, wie Radebold in Anlehnung an den jüdisch-schweizerischen Erziehungswissenschaftler Micha
Brumlik sagt.
In deutschen
Altenheimen, so drückt
es die Autorin
Katja Thimm drastisch
aus, tobt
der Zweite Weltkrieg
Auch von politischer Seite gab
es so gut wie keine Unterstützung. Einzige Ausnahme war
Johannes Rau (SPD), Bundespräsident von 1999 bis 2004.
Er wurde hellhörig bei dem
Thema, erzählte, wie er als 13Jähriger verkohlte Leichen geborgen hat. Rau sagte seine
Hilfe zu. Ihm war es wesentlich zu verdanken, dass es
2005 in Frankfurt zum ersten
internationalen Kriegskinderkongress mit mehr als 700
Teilnehmern gekommen ist.
Warum werden viele aus
der Kriegskindergeneration
erst jetzt von ihren Traumata
gequält? Radebold: »Wir waren froh, dass es vorbei war.
Wir haben uns entwickelt und
wir haben funktioniert.« Und
viele Funktionen verlieren
diese Menschen im Alter.
Nicht nur im Beruf und zunehmend in der Familie, sondern vielfach auch körperlich.
Das spüren insbesondere diejenigen, die auf Pflege angewiesen sind. Auch dies trägt
zur
Trauma-Reaktivierung
bei. In deutschen Altenheimen, so drückt es die Autorin
Katja Thimm drastisch aus,
tobt der Zweite Weltkrieg.
Für Radebold hat das die
Konsequenz, dass sich alle,
die mit alten Menschen zu tun
haben, mit diesem Thema beschäftigen sollten. Ob das nun
Ärzte, Altenpfleger, Theologen oder Mitarbeiter in Hospizen sind. Denn auf diese
Kriegstraumata lassen sich
viele Panikattacken, Angstzustände und Depressionen zurückführen. Rund 60 Prozent
dieser Generation, so schätzt
Radebold, sind schwer traumatisiert oder beschädigt.
Und das sollte aus seiner Sicht
auch Folgen für den Umgang
mit Menschen haben, die heute aus Syrien, dem Irak oder
Afghanistan aus den kriegerischen Auseinandersetzungen
in ihren Heimatländern nach
Deutschland fliehen. Radebold war auf Einladung von
Reinhard Kafka, dem Geschäftsführer der Evangelischen Erwachsenenbildung
nördlicher Schwarzwald, nach
Calw gekommen.
Dass der Platz im Gemeindehaus im Stadtteil Heumaden nicht ausreichte, ist ein
Hinweis darauf, dass es sich
keineswegs um ein Außenseiterthema handelt. Laufend
mussten weitere Stühle herbeigeschafft werden, am Ende
drängten sich mehr als 100
Menschen in dem kleinen
Saal.
Erstmals, so fiel dem Psychoanalytiker beim Blick ins
Auditorium auf, standen die
Fragen der Enkel im Vordergrund, Menschen also, die
zwischen 45 und 60 Jahre alt
u Sabine
Bode, Kriegsenkel:
Die Erben der vergessenen
Generation, Verlag Klett-Cotta
2009
u Hilke
Lorenz, Kriegskinder:
Das Schicksal einer Generation, List 2003
u Hartmut
Radebold, Die
dunklen Schatten der Vergangenheit. Hilfe für Kriegskinder im Alter, Klett Cotta 2014
u Hartmut
Radebold (Hg.),
Kindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen, Psychosozial-Verlag 2012
u Hartmut
Radebold, Abwesende Väter und Kriegskindheit. Alte Verletzungen bewältigen. Klett-Cotta 2010
u Katja
Thimm, Vatertage.
Eine deutsche Geschichte.
S. Fischer, 2011
Sanierungsfall Großbritannien: viel Arbeit für nächste Regierung
Amtsinhaber David Cameron hat die besten Karten / SNP verblüfft in Schottland mit sensationellem Ergebnis / Labour lässt Federn
Von Teresa Dapp
und Michael Donhauser
London. Die Kommentatoren
in Großbritannien bemühten
seit Tagen wuchtige Begriffe.
Von der »Zukunft der Nation«
war die Rede und vom Scheideweg, an dem das Königreich stehe. Die Briten haben
gestern ein neues Parlament
gewählt. Und offenbar ist dabei die Konservative Partei
von Premier David Cameron
die mit Abstand stärkste politische Kraft geworden.
Laut einer Prognose, die
gestern kurz vor Mitternacht
präsentiert wurde, kommt sie
auf 316 der 650 Sitze und verfehlt die absolute Mehrheit
nur um Haaresbreite. Sollte
sich die Prognose der britischen BBC bestätigen, schnitten die Tories deutlich besser
ab als laut allen Umfragen erwartet und wären der klare
Wahlgewinner.
Camerons Partei hätte der
Prognose zufolge sogar mehr
Sitze gewonnen als bei der zurückliegenden Wahl 2010, als
sie auf 307 Sitze kam. Ob Cameron eine regierungsfähige
Mehrheit schmieden kann,
war zunächst nicht völlig klar.
Sein bisheriger Koalitionspartner, die Liberaldemokraten,
sackten erdrutschartig von bisher 57 auf voraussichtlich
zehn Sitze ab. Gemeinsam kämen die bisherigen Partner damit auf 326 Sitze – und somit
knapp über die nötige Mehrheit von 325. Aber die Zahlen
waren kurz nach Schließung
der Wahllokale, die gestern
bis 23 Uhr unserer Zeit geöffnet hatten, noch nicht belastbar. Feststehen wird der neue
Herr in der Downing Street
Nummer 10 wohl erst heute.
Die Prognose ergab ein
ebenso bitteres wie enttäuschendes Ergebnis für LabourHerausforderer Ed Miliband.
Um diesen Wohnsitz geht es:
Downing Street 10 Foto: Rain
Seine Sozialdemokraten kämen nur auf 239 Sitze und wären damit deutlich von einer
Mehrheit entfernt.
Wer auch immer es wird:
Das Königreich ist so sanierungsbedürftig, wie das Parlamentsgebäude von Westminster, wo es durchs Dach regnet.
Die Verfassungsordnung ist
nicht zuletzt durch die Unabhängigkeitsbewegung
in
Schottland und die anhaltenden
Abspaltungstendenzen
ins Wanken geraten. Der
Schottischen Nationalpartei
SNP sagt die Prognose einen
historischen Sieg mit 58 der
59 im Norden der Insel zu vergebenden Sitze voraus.
Über Jahrzehnte haben Regierungen in Westminster den
Regionalstaaten Nordirland,
Schottland und Wales gerade
genug Einfluss zuerkannt, um
rebellische Strömungen zu beruhigen. Das Referendum in
Schottland hat gezeigt: Flickschusterei reicht nicht mehr.
Ex-Außenminister
William
Hague sollte in den zuletzt ein
kluges Konzept zum Föderalismus in Großbritannien entwerfen. Er scheiterte.
Auch das Wahlrecht steht
auf dem Prüfstand. Das Mehrheitswahlrecht, der deutschen
Erststimme ähnelnd, ist veraltet. Es wurde in viktorianischer Zeit für ein Zwei-Parteien-System gemacht: Die Regierung auf der einen, die Opposition auf der anderen. So
ist auch das Parlament angeordnet – zwischen Premier
und Oppositionsführer passen
exakt zwei Schwertlängen.
Doch seit Victorias Zeiten ist
die Gesellschaft vielfältiger,
das Leben komplizierter geworden. Im politischen Spektrum der Insel sind die Ränder
erstarkt. Regional, wie in
Schottland. Aber auch inhaltlich – der rechtspopulistischen
UKIP von Nigel Farage wurde
bereits seit Wochen ein zweistelliger Prozentsatz bei den
Stimmen vorausgesagt. Das
Wahlrecht will es, dass UKIP
laut der Prognose vermutlich
nur zwei Parlamentarier entsenden kann, während die
SNP mit weniger Stimmen bis
zu 58 Sitze bekommen kann.
Die Wahl hat auch eine Debatte über die politische Kultur im Königreich ausgelöst.
Selbst eine Minderheitsregierung, wie sie sowohl David
Cameron als auch Ed Mili-
band anführen könnten, müsse nicht instabil, ineffektiv
oder erpressbar sein, argumentiert der frühere LabourAbgeordnete und Politikwissenschaftler David Marquand.
Zwar seien fehlende eigene
Mehrheiten eher die Ausnahme als die Regel gewesen,
schreibt er im »Guardian«,
doch habe Großbritannien
diese Legislaturperioden nicht
nur überstanden, sondern sei
damit sogar gut gefahren.
Die Regierungen unter dem
Liberalen Herbert Henry Asquith hätten zwischen 1910
und 1915 »zu den entscheidungsfreudigsten und kreativsten der britischen Geschichte gehört«, blickt Marquand zurück. Sie hätten die
Macht der Lords im Parlament
beschränkt und das Land geeint in den Ersten Weltkrieg
geführt. Und das, obwohl sie
von einer irischen Partei abhängig gewesen seien.