02/2015 soziale psychiatrie im kino »Die Menschenliebe« »Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« Zehn Tage unterm Bärenhimmel Bericht von der 65. Berlinale Von Ilse Eichenbrenner Jede Berlinale-Vorstellung beginnt mit einem Trailer*, bei dessen ersten Tönen Junkies wie mir das Wasser im Augapfel zusammenläuft. Auf dem dunklen LeinwandFirmament erscheint zunächst eine Weltkugel aus lauter Goldbären, die sich in zahllose Sterne auflösen, um sich endlich zum Bären-Logo zu fügen. Schon nach wenigen Tagen fangen viele Journalisten an, nach einem Muster im Sternenhimmel der Berlinale zu suchen. Ich habe schon häufiger über dieses allmählich nervende Phänomen berichtet. Man setzt natürlich bereits bei der Auswahl der Filme entscheidende Prioritäten und Markierungen, die dann letzten Endes das ganz individuelle Sternzeichen ergeben. Für viele Presseleute war dies ein ausgeprägt politischer Jahrgang, für manche das Festival der Religionen, andere zählten wieder einmal, wie viele Tiere – von den Dromedaren bei Herzog bis zu den Mäusen und Eidechsen bei Cinderella – die Leinwand bevölkerten. Auch ich zählte ab, natürlich nicht ohne meine Knäckebrille auf der Nase: Psycho, Behinderung, Therapie und Traumata und jede Menge soziale Notlagen. Die Psychiatrie selbst machte sich rar, und auch 2015 muss als anstaltsfreies Jahr in mein Knäckebuch eingetragen werden. Gern gescheh’n. 46 Im Fokus: Sexualität und Behinderung Mit dem Dokumentarfilm »Die Menschenliebe« endet für mich am Publikumstag das Festival. Zwei Männer werden vorgestellt: Jochen, ein sportlicher und gut aussehender Mann, hat vielleicht eine leichte geistige und seelische Behinderung und ist ganz eingeengt auf seine Liebe zu einer Prostituierten, die er heiraten möchte. Im Bordell hat er Hausverbot, im Bezirksamt ermahnt ihn eine Sozialarbeiterin. Er arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen und ärgert sich darüber, dass seine Schwester seine Pornohefte wegwerfen will. Jochen ist mir ziemlich unsympathisch, ganz im Gegenteil zu Sven, dem der zweite Teil dieses Gewinnerfilms des »First Steps Award« vorbehalten ist. Sven hat eine erhebliche körperliche Behinderung und sitzt im Rollstuhl; routiniert und eloquent bestellt er sich am Telefon gegen Geld die weiblichen und männlichen Sexualpartner in sein Zimmer in der Wohngruppe der ›Spastikerhilfe‹ und lässt sich von der Kamera auch beim Sex beobachten. Hinterher wird am Küchentisch mit den anderen Bewohnerinnen diskutiert. Sven ist witzig, sympathisch und vermag mit hoher Intelligenz seine prekäre Situation zu reflektieren. Nach der Vorstellung eröffnet uns der Regisseur, dass ein großer Teil der angeblich dokumentarischen Handlung des ersten Teils gespielt war, denn beide Männer sind Schauspieler im Theater Rambazamba, das übrigens Teil einer Berliner Werkstatt für Behinderte ist. Ich glaube, nicht nur ich fühle mich ein wenig verarscht. Er wolle die Grenzen der Kategorien überwinden – die zwischen behindert und nicht behindert und eben auch die zwischen Dokumentation und Spielfilm. Ein unangenehmer Nachgeschmack bleibt. Der leicht autistische und längst erwachsene Enea hat »(K)ein besonderes Bedürfnis«: Er möchte endlich Sex und eine Freundin. Seit fünfzehn Jahren hat er zwei nicht behinderte Freunde, die ihm endlich auf die Spur helfen möchten. Das »Anmachen« in der Altstadt von Udine funktioniert nicht, die Kontaktaufnahme mit Prostituierten scheitert an der juristischen Situation in Italien. Die Damen empfehlen eine Fahrt über die Grenze nach Graz, wo sich tatsächlich ein entsprechendes Etablissement findet. Nun erst kapiert Enea, dass er hier keine Freundin fürs Leben finden wird, und lehnt ängstlich ab. Das Trio fährt weiter auf seiner Mission nach Deutschland, wo ein einschlägiger Workshop stattfinden soll. Tatsächlich stößt man in Trebel (Lüchow-Dannenberg) auf eine Gruppe von Menschen mit unterschiedlicher Behinderung, die mit professionellen Sexualbegleiterinnen arbeitet. Enea sucht sich die hübsche Ute aus. Sie erklärt ihm noch einmal, dass sie nun nicht seine Freundin wird, aber anfassen, das dürfe er. Die Kamera entfernt sich diskret, und auf der Rückfahrt nach Italien ist Enea begeistert und aufgekratzt, aber noch immer nicht entjungfert. Auch nach dieser Vorstellung berichtet der Regisseur einem spärlichen Häufchen Presse von den Hintergründen und den Dreharbeiten und seiner langjährigen Freundschaft mit Enea. Hinter dem Workshop in Trebel steckt das ›Rauhe Haus‹ in Hamburg, das entnehme ich dem Abspann und konstatiere: Entwicklungshilfe, europäisch. Aufgekratzt, aber auch begeistert hat mich »Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« zurückgelassen. Dieser Spielfilm, basierend auf einem mir bisher nicht bekannten, aber wohl sehr erfolgreichen gleichnamigen Theaterstück von Lukas Bärfuss, war in der Reihe »Panorama« zu sehen. Die hübsche, geistig behinderte Dora wird 18 Jahre alt. Die Mutter beschließt, die sedierenden Psychopharmaka ganz und gar abzusetzen. Langsam erwacht Dora, vor allem sexuell. Sie fühlt sich von einem Fremden angezogen, läuft ihm hinterher und stört ihn auf der Bahnhofstoilette. Er vergewaltigt sie. Dora ist erschrocken im kino »Vergine giurata« und erregt und berichtet den Vorfall ihren Eltern, die alle Instanzen einschalten. Dora erhält sicherheitshalber die »Pille danach«. Sie begegnet erneut diesem Fremden und folgt ihm; in seinem Apartment haben sie immer wieder Sex. Die Mutter sucht ihn in seiner Stammkneipe auf, er meint nur »Verpiss dich«. Dora ist mündig, doch die Eltern fühlen sich verantwortlich. Sie müssen für Dora sorgen, dürfen sie aber nicht beschützen. Die Situation ist grotesk. Dora wird von Peter schwanger, es folgen die Beratung und der Abbruch. Unterschiedliche Verhütungsmittel werden von der eigenwilligen Dora sabotiert. Als zusätzlichen Konflikt baut das Drehbuch einen heftigen Kinderwunsch der Mutter ein – sie hätte so gerne ein zweites Kind. Als Dora erneut schwanger wird und das Kind austragen will, ist die Mutter so eifersüchtig und wütend, dass Dora ausziehen muss. Sie lebt nun in einer Wohngemeinschaft zusammen mit einem Paar mit Downsyndrom, das sie bereits kennt. Doch sie hat Heimweh. Dora hat einen dicken Bauch, und sie will Peter heiraten. Peter verspricht ihr einen Flug nach Las Vegas, doch er lässt sie in ihrem schönen Hochzeitskleid auf dem Flughafen sitzen. Der Film endet mit dem Blick in die Entbindungsstation und mit Doras fragendem Ruf »Mama, Mama?«. soziale psychiatrie 02/2015 »Hakie – Haki« Dieser Film wühlt auf und haut um. Er ist formal in jeder Hinsicht perfekt; die je eigene Sicht auf die Welt, auf die Menschen und ihre Sexualität ist durch unterschiedliche filmästhetische Mittel hervorragend umgesetzt. Die nicht behinderte Schauspielerin Victoria Schulz verkörpert Dora absolut kongenial; Lars Eidinger als egoistischer Erotomane schafft es, den Film ganz und gar aus der Dunstglocke aller Inklusionsnettigkeiten herauszuheben. Darf das sein, kann das sein? Zur Vertiefung der Thematik sei dieser brillante Film ausdrücklich empfohlen. Sternzeichen: Wahl oder Pflicht? Schon wieder Lars Eidinger, am selben Tag zum zweiten Mal in (fast) derselben Rolle. Diesmal in dem Wettbewerbsbeitrag »Vergine giurata«. Wir bleiben beim Thema Sexualität und einem archaischen Phänomen der albanischen Berge und des »Kanuns«, dem traditionellen Recht. Es bietet Mädchen die Möglichkeit als »Burrnesha« den extrem strengen Regeln der Zwangsehe zu entfliehen, indem sie ewige Jungfräulichkeit schwören und von nun an als Mann leben. Hana hat sich für diesen Weg entschieden und vierzehn Jahre lang als Mark in den Bergen gelebt. Nach dem Tod ihrer Adoptiveltern fährt sie zu ihrer geliebten Stiefschwester und deren Familie nach Bozen und lebt dort zunächst weiter als Mann. Dann beginnt sie, die Rolle einer Frau zu erkunden. Sie begleitet ihre Nichte zum täglichen Training in die Schwimmhalle, wo sie die Körper der Männer und Frauen beobachtet und sich neugierig dem Bademeister und ihrer eigenen Sexualität nähert. Auch hier kommt es zu fast wortlosen, ganz auf die Physis begrenzten Berührungen. Die Reaktionen auf die »Erzjungfrau« waren sehr unterschiedlich. Manche waren betört von den langatmigen Einstellungen, der Gender-Thematik und der albanischen Bergwelt; viele andere fanden wie ich die zierliche Darstellerin Alba Rohrwacher in ihrer angeblich maskulinen Rolle wenig glaubwürdig. Da kam Hakie schon glaubhafter rüber. Ihren Eltern sei bei ihrer Geburt von einem Derwisch der Rat auf den Weg gegeben worden, sie so leben zu lassen, wie sie es wolle. Sie habe sich für ein Leben als »Burrnesha« entschieden. Hakie raucht wie ein Schlot, lebt allein in einem Bauernhaus und dengelt ihre Sense. Die vielen Besucher seien ihr langsam lästig, die Frau, die ein Buch über sie geschrieben habe, und die Kamerateams aus der ganzen Welt. Man glaubt es ihr nach der kurzen Dokumentation »Hakie – Haki. Ein Leben als Mann«, die in der »Perspektive Deutsches Kino« zu sehen war. Natürlich gab es weitere Genderismen und wie immer auf der Berlinale reichlich mehr zu kreuz und queer. Mehr und Ausführliches dazu im Internet. Erwähnen möchte ich noch den Dokumentarfilm »Danielu° v Sve ˇt« (Daniels Welt), weil er mich mit vielen Fragen hinterlassen hat. Der 25-jährige Daniel studiert Literatur; zu Beginn des Films eröffnet ihm ein Sexologe, dass die Untersuchungen bei ihm eine Präferenz für Knaben im Alter von acht bis zehn Jahren ergeben haben. Man bietet ihm medikamentöse Hilfe an. Er dürfe diese vermutlich nicht korrigierbare sexuelle Orientierung niemals leben. Daniel weiß und akzeptiert das und macht sich doch Gedanken, wie er ein erfülltes Leben führen kann. Er hat Kontakt zu Misa, dem Sohn von Bekannten, lebt auf diese monatlichen Begegnungen hin und träumt von einer platonischen Beziehung. Misas Eltern wissen, dass Daniel pädophil ist. Misas Vater sagt: »Wenn du ihn anfasst, breche ich dir den Arm.« Daniel hat bereits seine Autobiografie veröffentlicht, versteckt sich also nicht, und wird in seinem Alltagsleben gefilmt. An der Wand hängen viele Fotos von Misa, die er rasch austauscht, als ein Handwerker in die Wohnung 47 02/2015 soziale psychiatrie im kino »El Club« »Härte« kommt. Er ist Mitglied einer Pädophilengruppe und steht mit den anderen jungen Männern am Rande eines Spielplatzes, und gemeinsam bewundern sie die »süßen« Kinder. Darf man das? Er demonstriert mit seiner Gruppe für das Coming-out Pädophiler beim Christopher-Street-Day-Umzug in Prag. Weshalb, so grüble ich, ist es für ihn so wichtig, sich zu einer Neigung öffentlich zu bekennen, die er niemals wird leben können? Es bleibt ein Gefühl der Beklemmung, auch nachdem die Regisseurin die vielen Fragen des Publikums beantwortet hat. Konstellation: Täter und Opfer Rosa von Praunheims neuester Film »Härte« lief außerhalb des Wettbewerbs in der Reihe »Panorama«. Im Mittelpunkt des Films steht Andreas Marquardt, ein Kampfsportler, Zuhälter, Krimineller und inzwischen Inhaber einer Karateschule in Berlin. Persönliche Statements des inzwischen alten Marquardt sind gekoppelt mit nachgespielten Szenen aus Kindheit und Jugend, mit denen die Traumatisierungen und ihre Folgen veranschaulicht werden. Marquardt wurde als Kind von seinem Vater misshandelt und von der Mutter über viele Jahre hin sexuell missbraucht. Er entwickelt sich zu einem gnadenlos harten, sadistischen jungen Mann, 48 der Frauen auf den Strich schickt und misshandelt. Hanno Koffler verkörpert diesen Widerling auf verstörende Weise. Nach einer Karriere als Kampfsportler und Zuhälter landet er im Knast und erzwingt dort eine Therapie, in deren Verlauf er seine Kindheit aufarbeiten und geläutert in ein neues Leben zurückkehren kann. Nicht nur die Härte dieser Figur ist für den Zuschauer unerträglich, sondern auch die Loyalität seiner jetzigen Lebensgefährtin, die sich als junge Prostituierte ebenfalls von ihm quälen und ausbeuten ließ, aber ein ganzes Leben lang immer zu ihm hielt. Schwer zu entscheiden, wessen Deformation schwerer wiegt. Ganz von hinten packt der erfrischende chilenische Wettbewerbsbeitrag »El Club« das Thema des sexuellen Missbrauchs an. Einige Priester leben gemeinsam in einem Haus an der Küste, umsorgt von einer Ordensschwester namens Monica. Sie haben einen Windhund, den sie für Hunderennen trainieren, die sie aber selbst nicht besuchen dürfen. Monica bringt den Hund an die Rennstrecke, mit dem Fernglas beobachten die Männer den Verlauf des Rennens und jubilieren. Ein neuer Priester trifft ein, und plötzlich steht ein abgerissener Obdachloser vor dem Haus und beschimpft den Neuankömmling mit heftigen Vorwürfen. Der schnappt sich eine Pistole und geht vor das Haus, um sich, völlig überraschend, zu erschießen. Es kommt ein Ermittler der Kirche, um den Vorfall zu untersuchen. Nun stellt sich heraus, dass alle Bewohner des Hauses Priester sind, die vor allem wegen Missbrauchs ihr Amt aufgeben mussten. Nach und nach kommen die Verfehlungen und Geheimnisse zur Sprache; auch der junge Obdachlose taucht immer wieder auf, denn er sucht den Schutz der Kirche und ihrer Vertreter, die ihn einst versorgt, aber auch missbraucht haben. Die Handlung macht ein paar erstaunliche Überschläge, und der junge Obdachlose darf schließlich in das Haus einziehen. Nun brauche er noch ein wenig Stoff, meint er zu dem Ermittler, und gibt seine Bestellung auf: Ritalin, Tavor, Valium, Abilify, Truxal … »El Club« hat den Silbernen Bär/Großer Preis der Jury gewonnen und wird – wann ist noch unklar – auch in unsere Kinos kommen. Supernova: Beach Boys und die Superwelt Nach all diesen sexuellen Verwirrungen wird es Zeit für ein paar handfeste Störungen: »Love & Mercy«. Und schon (Bababaaaa…) fangen die Beach Boys zu singen an. Sie stehen mit ihren Gitarren an einem kalifornischen Strand, doch halt, die Geschichte fängt ganz anders an. Melinda verkauft Cadillacs, und auf einmal kommt der ernste Brian mit seinen Leibwächtern und kauft den ersten Wagen, den sie ihm zeigt, und später verabredet er sich mit ihr. Die Handlung springt nun hin und her zwischen der aktuellen Beziehung von Melinda und Beach Boy Brian Wilson und der Geschichte der jungen Band, als einst alles anfing. Brian war der geniale Kopf der Gruppe, weigerte sich aber schon früh, mit auf Tour zu gehen, sondern zog sich in sein Studio zurück und komponierte. Der strenge Vater verachtete seine Söhne, besonders Brian, der anfing, Stimmen zu hören, immer mehr Alkohol und Drogen konsumierte und schließlich einige Jahre lang das Bett nicht mehr verließ. Bis Dr. Eugene Landy auftauchte und den über 140 Kilogramm schweren Brian einer drastischen Diät unterzog, ihn medikamentös behandelte und so wieder leidlich arbeitsfähig machte. Der Film zeigt die Zwanghaftigkeit, mit der Brian Wilson im Studio versucht, die Klänge in seinem Kopf musikalisch umzusetzen. Immer wieder wird verändert, wiederholt, wiederholt, wiederholt, bis alle Studiomusiker und Bandmitglieder entnervt das Weite suchen. Brian wird von seinem Privatarzt Dr. Landy streng bewacht und reglementiert – keine Drogen, kein Kochsalz, keine Verliebtheiten. Hier trifft nun die Rückblende auf die Gegenwart. Brian und die toughe Melinda werden vorsichtig und heimlich ein Paar, und nach ein paar weiteren Verwicklungen gelingt es Amanda, dem intriganten Psy- im kino »Superwelt« »HomeSick« chiater das Handwerk zu legen. Am Ende steht Brian wieder im Studio und quält die Musiker mit seinen obsessiven Klangvorstellungen. Bei der Galavorstellung im Friedrichstadt-Palast gab es neben dem jungen Darsteller Paul Dano auch den echten, wahren und inzwischen ziemlich alten Brian Wilson mit seiner originalen Retterin Melinda zu sehen. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass aus Rücksicht auf den sicher nach wie vor empfindsamen Brian Wilson nicht alles auf den Tisch gepackt wird. So bleiben viele Fragen offen. Hatte Brian Wilson eine Schizophrenie oder – wie der Nachspann meint – eine weitaus harmlosere psychische Störung? Hatte er eine drogeninduzierte Psychose? Wie kam es zu dem Vertrag mit Dr. Landy, was war sein Motiv, und welche Rolle spielten in diesem Komplott die anderen Bandmitglieder, bestehend aus Brüdern und einem Cousin? Trotz dieser Leerstellen besticht der Film mit einigen bemerkenswerten Momenten: Bei einer gemeinsamen Mahlzeit in großer Runde werden die Geräusche des kratzenden Bestecks auf den Tellern so laut und quälend, dass Brian davonrennen muss, und wir hinterher. Wer die Beach Boys liebt und sich auch für die Details ihrer Aufnahmen interessiert, der kann ab 11. Juni 2015 das Werk und die Störung begutachten. soziale psychiatrie 02/2015 Schon wieder Musik? Vor der Projektion von »HomeSick« in der »Perspektive Deutsches Kino« wurde das Publikum durch die Live-Performance einer Cellistin mit den Solosuiten von Bach eingestimmt. Die gab es dann im Film noch häufiger zu hören, gespielt auf einem jener modernen elektronischen Instrumente, die ohne Resonanzkörper und nur mit Kopfhörer gespielt werden. Das junge Paar ist gerade erst in die großzügige Berliner Altbauwohnung eingezogen. Jessica übt auf ihrem Cello für einen Wettbewerb in Moskau. Wird sie es schaffen? Und weshalb wird sie von der Nachbarin ständig beobachtet? Weshalb sind plötzlich alle gegen sie? Als das kleine Kätzchen nicht mehr aufzufinden ist, spitzt sich die Situation zu. Von nun an schlägt Jessica zurück. Bis zum letzten Moment bleibt der Zuschauer im Ungewissen: Wahn oder Realität? Die kleine PsychoStudie ist formal bestechend, bis zum irren Finale. In »Superwelt« sitzt Gabi Kovanda im Supermarkt an der Kasse und säubert das Fließband. Sie stiert ins Nichts. Plötzlich kommt es über sie. Was eigentlich? Der Sound lässt uns ahnen – hier geschieht etwas. Und zwar in Gabi Kovandas Kopf. Zunächst geht sie noch brav zur Arbeit, versorgt Ehemann und Sohn mit Mahlzeiten und stippt vernünftig einen Diätkeks in den Magerjoghurt. Die Tochter kommt, es wird gegrillt, doch Gabi Kovanda geht immer häufiger um die Häuser. Sie geht barfuß, sie ist glücklich, die ganze Welt schwirrt und strahlt um sie herum. Es ist Gott, und er spricht zu ihr. Sie schläft nicht mehr, läuft über die Landstraßen, lässt das Auto einfach in der Pampa stehen und kann es noch immer nicht fassen. Die Familie ist besorgt, aber erstaunlich nachsichtig – ein Wunder? Der Film bleibt in der Realität des Alltags, beobachtet dabei genau und mit trockenem Witz, sodass eine köstliche Spannung zwischen dieser Frau unter göttlichem Einfluss und der schon wieder rumpelnden Waschmaschine entsteht. Mir schien Gabi Kovanda alias Ulrike Beimpold zweifelsfrei in eine Psychose geraten zu sein. Aber der berühmte Schauspieler und geniale Regisseur Karl Markovics bleibt nach der Vorstellung stur: Es ist ein Gotteserlebnis. Er muss es ja wissen, denn hier ist er in göttlicher Funktion. Erkaltete Sonnen: Hedi, Olga und Katja stecken fest »Hedi Schneider steckt fest«, im Fahrstuhl natürlich. Kein Problem, sie (Laura Tonke) plaudert mit dem Notdienst, und schon bald ist alles vorbei. Sie macht Blödsinn mit ihrem Sohn Finn und mit Uli, ihrem Mann, und gemeinsam albern sie herum. Eine junge, glückliche, neugierige Familie. Doch plötzlich hat Hedi ihre erste Panikattacke, und dann kommt die nächste und die Ärztin diagnostiziert eine Angststörung und verordnet Antidepressiva. Ein Psychotherapeut hilft nicht viel weiter. Uli hingegen reagiert einfach wunderbar; er ist verständnisvoll, er hält Hedi fest, doch irgendwann ist auch er genervt und läuft weg. Dieser unglaublich witzige und sympathische Spielfilm beobachtet die Irritationen, die durch eine derartige Störung in einem kleinen, familiären Biotop entstehen. Hedi kommt wieder los, und der Film endet mit alberner Zuversicht und wird ab 23. April 2015 in den Kinos zu sehen sein. Auch Olga steckt fest, seit ihre Mutter gestorben ist. Ihr Vater Janusz ist als Untersuchungsrichter ständig an den absurdesten Tatorten. Wenn er sein fettes Essen in sich hineinschaufelt, geht Olga aufs Klo, zum Kotzen. Sie ist magersüchtig und bulimisch, und ihr Vater bringt sie in die Klinik. Stumm und blass stehen die Mädchen in der Gruppentherapie herum und rühren in ihrer pürierten Mahlzeit; die Therapeutin ist selbst ein wenig merkwürdig, vielleicht weil ihr kleiner Sohn gestorben ist. Das Bett teilt sie sich nun mit einem riesigen Hund, und sie spricht tatsächlich mit den Toten. Auch zu Olgas Mutter versucht sie Kontakt aufzunehmen; Vater und Tochter lachen sich beinahe kaputt, als die Konversation misslingt – am Ende des polnischen Wettbewerbsbeitrags »Body«. Für die Regisseurin Maägorzata Szumowska gab es den Silbernen Bären. 49 02/2015 soziale psychiatrie im kino »Mr. Holmes« »Body« Den Gläsernen Bären als bester Film der »Sektion Generation« gewann der schwedische Film »Min lilla syster« (Stella). Dieses herrlich natürlich und eigenwillig agierende Pummelchen ist die kleine Schwester von Katja, die Eiskunstläuferin werden will. Auch Katja fängt an zu hungern und zu kotzen; Stella bekommt es mit und gerät in gewaltige Loyalitätskonflikte. Soll sie es den Eltern sagen? Schließlich wird das Geheimnis gelüftet, und im Sommerhaus sitzen die Eltern vor Katja und betteln sie an, sie möge doch wenigstens einen Happen essen. Natürlich verlieren sie den Machtkampf, und erst in der Klinik scheint eine Annäherung wieder möglich. Wieso, warum und überhaupt – einfache Antworten gibt es hier glücklicherweise nicht. Nebenan in der Milchstraße: Demenz und Drogen Der alte Sherlock Holmes widmet sich endlich den Bienen auf seinem Landsitz in Sussex. Mit 93 blickt er noch einmal auf sein Leben zurück, sinniert über ein paar ungeklärte Fälle, löst sie letzten Endes und ordnet seine Geschäfte. Mit ganz speziellen Heilkräutern, persönlich in Japan ausgegraben, versucht er, den demenziellen Abbau aufzuhalten. Das Zeug schmeckt einfach 50 scheußlich! Der kleine Sohn seiner Haushälterin bewundert ihn und erhält einen Schnellkurs als Imker, denn er soll sich um die geliebten Bienen kümmern. Ian McKellen verkörpert »Mr. Holmes« im gleichnamigen Film so wunderlich und sympathisch, dass man ihm gerne noch rasch einen Preis verliehen hätte. Aber die haben ja schon die weitaus jüngeren Darsteller Charlotte Rampling und Tom Courtenay abgegriffen. Anne Ratte-Polle ist eine renommierte Schauspielerin. Sie war in diesem Jahr gleich in zwei Hauptrollen zu sehen. Mich hat sie sehr beeindruckt als »Wanja« in dem gleichnamigen Film der »Perspektive Deutsches Kino«. Aus langjähriger Haft entlassen, bemüht sie sich um einen Neuanfang. Der Bewährungshelfer drückt ihr den Schlüssel für ein möbliertes Apartment in die Hand. Beim Jobcenter wird ihr ein Praktikum bei einer Tierhandlung vermittelt. Sie fliegt raus und findet einen Job in einem Reitstall. Ganz allmählich belebt sich ihr Apartment: eine Krähe sitzt im Wohnzimmer, Enten schwimmen in der Badewanne. Wanja hat die Auflage, eine Selbsthilfegruppe für Suchtkranke zu besuchen. Drei Jahre sei sie schon clean, meint sie, und die anderen applaudieren. Im Reitstall wird sie zunächst gemieden und gemobbt, doch allmählich erobert sie sich Respekt und freundet sich mit der jungen Emma an. Emma gleitet ab, in Alkohol und Drogen – Wanja kennt die Signale und versucht, Emma zu retten. Doch manchmal wird man mitgerissen. Schwarze Löcher: Berlin extrem So stellt sich der australische Regisseur Brodie Higgs die Berliner Subkultur vor: Junge Leute aus aller Welt leben und werkeln seit fünfzehn Jahren in ihren Ateliers im »Glashaus«, berauschen und lieben sich, reden ausschließlich englisch miteinander und huldigen dem Surrealismus. Nun bedroht die Gentrifizierung ihre Behausung, und sie schmieden ein Komplott zur Rettung. André Breton im altmodischen Anzug spielt eine Rolle, außerdem die junge Streunerin Lexia, die Herren Tristan Tzara und Jaques Vaché. Dies alles ist zusammengerührt im Spielfilm »Elixir«, natürlich in den passenden Brauntönen, mit kleinen Ausflügen in die böse bunte Berliner ›Art Week‹. Der Regisseur hat einige Wochen oder Monate in Berlin verbracht und ist nun enttäuscht nach Polen umgesiedelt. Vielleicht hat er es genau so erlebt? Von den vielen Porträts der angeblich so wilden Berliner Kunstszene trägt sicher »Elixir« die dickste Patina. Stets ausverkauft war »B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin«. Der britische Musiker Mark Reeder hat in den Achtzigern seine Kamera draufgehalten, auf das Risiko mit Blixa Bargeld, das Kant-Kino (Joy Division!), den ›Dschungel‹ und das ›SO 36‹, auf Gudrun Gut und Nick Cave. Die Regisseure haben aus den Schnipseln einen rasanten Streifen geklebt, Mark Reeder kommentiert ihn, Englisch natürlich, obwohl er hervorragend Deutsch spricht. Mir ging das alles ein bisschen zu schnell, und diese Achtziger waren mir ein wenig zu fortgeschritten, um in den eigenen Erinnerungen an ›Dschungel‹, ›SO 36‹ und ›Xzess‹ schwelgen zu können. Zeitsprung in das aktuelle Ostberlin. Die Kamera greift sich die junge Spanierin Victoria in einem Club heraus, folgt ihr beim Geplänkel mit vier Berliner Jungs, folgt der Gruppe im Fahrstuhl auf das Dach und wieder hinunter zu dem Café, das Victoria gegen morgen öffnen muss, zeigt sie am Klavier, wie sie »Mephisto« spielt, und folgt den Jungs in eine Tiefgarage und zu einem kleinen Banküberfall (bleibt aber artig bei der wartenden Victoria im Auto) und rast zurück zu den Plattenbauten und einer Schießerei mit der Polizei und folgt Victoria und Sonne in eine Wohnung zu einer Geiselnahme und der Fahrt im Taxi ins ›Best Western‹ und blickt aus dem Fenster Victoria nach, die als Einzige überlebt und in einer Plastiktüte die Beute von dannen trägt. im kino »Ixanul« »Wanja« Keine Luft mehr? »Victoria« ist tatsächlich in einer einzigen Kameraeinstellung (One Take!) mit sechs Ortswechseln gedreht, ungeschnitten, eine filmtechnische Sensation. Regisseur Sebastian Schipper war so stolz auf seinen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, der sich einen Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung abholen durfte. Silberner Bär aus einer anderen Galaxie: »Aferim!« und »Ixcanul«. Stellvertretend für all die Entdeckungen, die ich natürlich abseits der Knäckepfade auf der Berlinale gemacht habe, seien diese beiden Filme gepriesen, die ebenfalls mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurden. »Aferim!« führt uns in die Walachei im Jahr 1835. Vater Gendarm und sein Sohn suchen einen entlaufenen Sklaven, einen »Zigeuner«, hoch zu Ross. Auf ihrer Patrouille stoßen sie auf Türken und Rumänen, auf Christen und Juden und Muslime und immer wieder auf »Krähen«, wie die Roma verächtlich genannt werden. Vater Gendarm folgt seinen Vorschriften und klopft Sprüche, Sohn Constantin wundert sich und stellt Fragen, naiv und klug. Der Berlinale-Katalog spricht von einem Balkan-Western, das scheint mir zu simpel. Eine ergreifende, lehrreiche Geschichte, deren Schatten auf jeder Metropole Europas liegt. soziale psychiatrie 02/2015 Und noch ein größerer Sprung und wir landen an einem aktiven »Ixcanul« (Vulkan) in Guatemala. Hier leben auf und von einer Kaffeeplantage María und ihre Eltern. Sie soll den verwitweten Vorarbeiter heiraten, erhofft sich aber von Pepe die gemeinsame Flucht ins gelobte Land Amerika. Als Vorleistung soll sie ihn »ranlassen«, und prompt ist sie schwanger. Doch der erwartete Skandal bleibt aus; Mutter und Vater kümmern sich liebevoll, und als María sich und ihr ungeborenes Kind durch einen Schlangenbiss gefährdet, rast der Vorarbeiter mit ihnen ins Krankenhaus. Leider habe man das Baby nicht retten können und benötige nun noch eine Unterschrift … Später folgt man einem sonderbaren Trauerzug, einer Graböffnung, und schließlich schmückt sich María doch noch für die Hochzeit. Bisher nie gesehene Bilder und Bräuche, archaische Riten und der Einbruch der Moderne glänzen in den dunklen Lavafeldern. Die beiden Maya-Frauen María und María wurden eingeflogen zur Bären-Verleihung und fühlten sich vermutlich wie Außerirdische, absolutamente galaktica. ■ Die Menschenliebe, Deutschland 2014, 99 Min., Dokumentarfilm, Regie: Maximilian Haslberger (K)ein besonderes Bedürfnis, Deutschland/Italien 2014, 84 Min., Dokumentarfilm, Regie: Carlo Zoratti Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (ab 21. Mai 2015 im Kino), Schweiz/Deutschland 2015, 90 Min., Regie: Stina Werenfels; Darsteller: Victoria Schulz, Jenny Schily, Lars Eidinger, Urs Jucker Vergine giurata, Italien/Schweiz/Deutschland/ Albanien/Rep. Kosovo 2015, 90 Min., Regie: Laura Bispuri; Darsteller: Alba Rohrwacher, Flonja Kodheli, Lars Eidinger Hakie – Haki. Ein Leben als Mann, Deutschland 2014, 29 Min., Regie: Anabela Angelovska Danielu°v Svˇe t (Daniel‘s World), Dokumentarfilm, Tschechische Republik 2014, 74 Min., Regie: Veronika Liçková Härte (ab 23. April 2015 im Kino), Deutschland 2015, 89 Min., Regie: Rosa von Praunheim; Darsteller: Hanno Koffler, Andreas Marquardt, Katy Karrenbauer El Club, Chile 2015, 98 Min., Regie: Pablo Larrain; Darsteller: Roberto Farías, Antonia Zegers, Alfredo Castro Love & Mercy (ab 11. Juni 2015 im Kino), USA 2014, 122 Min., Regie: Bill Pohlad; Darsteller: Paul Dano, John Cusack, Elizabeth Banks HomeSick, Deutschland 2015, 98 Min., Regie: Jakob M. Erwa; Darsteller: Esther Maria Pietsch, Tatja Seibt Superwelt (ab 20. März 2015 im Kino), Österreich 2015, 120 Min., Regie: Karl Markovics; Darsteller: Ulrike Beimpold, Rainer Wöss Hedi Schneider steckt fest (ab 23. April 2015 im Kino), Deutschland/Norwegen 2015, 92 Min., Regie: Sonja Heiss; Darsteller: Laura Tonke, Hans Löw Body, Polen 2015, 90 Min., Regie: Maägorzata Szumowska; Darsteller: Janusz Gajos, Maja Ostaszewska, Justyna Suwaäa Min lilla syster (Stella), Schweden/ Deutschland 2015, 95 Min., Regie: Sanna Lenken; Darsteller: Rebecka Josephson, Amy Deasismont Mr. Holmes, Großbritannien 2014, 103 Min., Regie: Bill Condon; Darsteller: Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker Wanja, Deutschland 2015, 87 Min., Regie: Carolina Hellsgård; Darsteller: Anne Ratte-Polle, Nele Trebs Elixir, Deutschland/Australien 2015, 111 Min., Regie: Brodie Higgs; Darsteller: Swann Arlaud, Natasha Petrovikj B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin, Deutschland 2015, 92 Min., Dokumentarfilm, Regie: Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck, Heiko Lange Victoria (ab 11. Juni 2015 im Kino), Deutschland 2015, 140 Min., Regie: Sebastian Schipper; Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski Aferim!, Rumänien/Bulgarien/Tschech. Republik, 108 Min., Regie: Radu Jude; Darsteller: Teodor Corban, Mihai Comanoiu Ixcanul (Vulkan), Guatemala/Frankreich 2015, 90 Min., Regie: Jayro Bustamante; Darsteller: María Mercedes Coroy, María Telón Mehr gibt es unter www.psychiatrie.de/ bibliothek/aktuelle-kinofilme/ * Berlinale-Trailer: https://www.berlinale.de/de/im_ fokus/trailer/index.html 51
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