EVANGELISCH-LUTHERISCHE DOM-GEMEINDE VIKARIN JOHANNA LEVETZOW Predigt über Lukas 19,37-40 am Sonntag Kantate 03. Mai 2015 Sie blickt sich noch einmal um, die Straße entlang. Hoffentlich hat sie auch niemand gesehen. Ihr Herz klopft. Erst einmal drinnen in dem schummrigen Raum schließt sie schnell die Tür hinter sich. Staub flirrt in der Sonne, die durch die Rillen des heruntergelassenen Rolladens in Streifen in den Raum fällt. Der Mann hinter der Ladentheke schaut prüfend über seine Brille. Sie meint ein verschmitztes Lachen in seinen Augen zu sehen. Die Platte wollte sie sich schon lange kaufen. Nun endlich ist es so weit. Sie hat nur gehört, dass es sie hier geben soll. Wer weiß, woher der Mann hinter dem Tresen sie hat. Vielleicht hat jemand die Platten aus Ungarn mitgebracht. Oder er ist selbst in Westberlin gewesen? VE sagen sie hier dazu manchmal: Verbotene Einfuhr. Zu solcher Musik. Warum nur? Verbotene Musik. Die Spießer! Er reicht ihr die Schallplatte über den Ladentisch. Hastig steckt sie sie in ihren Beutel, schlüpft aus der Tür und steht wieder in der Sonne. Draußen auf dem Kopfsteinpflaster. Die Aufregung verlässt langsam ihren Körper. Sie geht schnell die Straße hinunter. Was diese Steine wohl erzählen würden, wenn sie sprechen könnten. Von Pferdefuhrwerken und stinkenden Autos. Von schweren Stiefeln und leichten Sandalen könnten sie erzählen. Von festen Schritten und von zögerlichen. Wie die des Mädchens, kurz bevor sie den Laden betreten hat. Doch nun zögert sie nicht mehr. Als sie neulich das Lied zum ersten Mal gehört hat, hat sie sich noch nie so verstanden gefühlt. Das war`s doch! Genau so geht es ihr doch! Ihr ist beim Hören so gewesen, als hätte jemand ihr Innerstes nach außen gekehrt. Das, was sie fühlt in Worte gefasst. Sie selbst hatte dafür gerade keine. Ich lese noch einmal den Text aus dem Lukasevangelium: 37 Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, 38 und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! 39 Und einige Pharisäer in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! 40 Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien. Die Jünger wandern mit Jesus. Sie wandern Richtung Jerusalem. Staubige Pfade gehen sie. Die Kiesel knirschen unter ihren Füßen. Was diese Steine wohl erzählen würden, wenn sie sprechen könnten. Sie würden erzählen von den Jüngern. Von den durchgelaufenen Sohlen. Sie würden vielleicht erzählen, wie ihre Füße plötzlich zum Stehen kommen. Am Abhang des Ölbergs. Mitten in der Fremde. Der Blick der Jünger geht weit. Sie können Jerusalem schon sehen! Sie, die Fischer und Bauern aus Galiläa. Sie sind einfach mit ihm mitgewandert. Und nach allem, was sie mit ihm erlebt haben, geht ihnen das Herz über. So aufgeregt sind sie. Er hat den Kranken geheilt. Und er hat von den Verlorensten und Kleinsten erzählt. Dass sie auch dazu gehören. Und er hat mit ihnen zusammen gegessen und getrunken. Und er hat ihnen berichtet von der großen Hoffnung. Es geht ihnen das Herz über. Und die Jünger wissen nicht, was sie sagen sollen. Und dann jubeln sie drauf los. Die alten Worte, die sie kennen. Gelobt sei, der da kommt, der König im Namen des Herrn! Friede sei 1 im Himmel und Ehre in der Höhe! Davon hat er ihnen ja auch erzählt. Wie schön seine Worte klangen. Sie gingen den Jüngern durch und durch. Und nun wird Jesus immer stiller. Immer schweigsamer. Auf ihrem Weg kommen sie der Stadt immer näher. Was wird da sein? In Jerusalem? Er hatte ihnen auch davon erzählt. Er wird überantwortet, verspottet, gegeißelt und getötet werden. Und trotzdem sind sie mit ihm gegangen. Ihre Faszination war größer als ihre Angst. Die Jünger loben gemeinsam Gott, mit lauten Stimmen, so steht es da. Sie jubeln und sie singen. Sie singen sich Mut an. Hier in der Fremde. Kurz vor Jerusalem. Sie loben Gott für alles, was sie gesehen haben. Sie bedienen sich der alten Worte aus einem Psalm. Vor Aufregung fehlen ihnen die eigenen. Den alten Psalm, den können sie auswendig! Den sprechen sie aus vollem Halse mit. Mit pochendem Herzen. Zurück auf der Straße atmet sie tief durch. Die Henkel ihres Beutels hält sie fest umklammert. Hinter der Ecke warten die Freundinnen. Sie schauen besorgt. Sie öffnet die Tasche ein wenig. Die beiden anderen sehen hinein. Unausgesprochene Freude. Hastig biegen sie um die nächste Ecke. Schnell nach Hause. Sie nehmen nicht den Umweg durch den Park. Im Treppenhaus trauen sie sich noch nicht zu sprechen. Drinnen holt sie die Platte vorsichtig aus der Hülle und legt die auf den Plattenteller. „Meister, weise deine Jünger zurecht.“ Die Stimmen der Pharisäer klingen nüchtern. Und streng. Die Jünger lassen die Köpfe hängen. Eben noch die Münder voll vom Jubel. Und jetzt? Sie haben doch die Taten von Jesus gesehen! Alle Wunder! Gott war doch die ganze Zeit dabei. Anders können sie es sich nicht erklären. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Und Jesus? Jesus antwortet: Ich sage euch: Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien. Die Steine werden schreien. das klingt wie im Märchen. Steine, kalt und tot. Regungslos und gleichgültig. Sie schreien, so sagt es Jesus. Sie schreien, wenn den Jüngern der Mund verboten wird. Sie schreien, wenn die Jünger es nicht mehr können. Sie schreien, wenn ihnen das Loben verboten wird. Sie schreien, wenn die Jünger schweigen. Wenn das, was ihnen das Herz übergehen lässt, nicht heraus darf. Wenn das, was gesagt werden muss, nicht gesagt werden darf. Dann werden sie schreien, die stummen Steine. Dann werden sie schreien, so laut, dass alle es hören müssen. Und hier? Die Backsteine um uns herum? Was würden sie erzählen, wenn sie sprechen könnten? Vielleicht würden sie erzählen von der vielen Musik, die sie gehört haben. Vielleicht würden sie erzählen von leichten Sopranstimmen und schmetternden Tenören. Von Trompeten und von den Zimbeln an der Orgel. Vielleicht von Gesang, so wie heute: Kantate heißt der Sonntag, den wir heute feiern. Kantate - singt! Lobt Gott, wie die Jünger mit geliehenen Worten oder mit eigenen. Aber Kantate, das meint auch mehr als zu jeder Gelegenheit ein passendes Lied. Mehr als nur Jauchzen. Wer Gott lobt, im Singen oder im Beten, der ist Teil eines großen Chores. Es heißt eben auch: Brich mit den Hungrigen dein Brot. Sing mit den Traurigen ein Lied. Dem Herrn singen heißt: Ansingen gegen den Chor der Schweigenden. Ansingen gegen die, die andere zum Schweigen bringen. Und es heißt, denen eine Stimme zu geben, die keine haben. Sprich mit den Sprachlosen ein Wort. Es heißt, nicht nur einstimmen in freudigen, harmonischen Jubel. Sondern es kann auch heißen zu schreien. Laut zu schreien, wenn andere es nicht können. Weiter rufen, wenn anderen die Stimme fehlt, wenn sie leise geworden sind, oder stumm. Die stummen Schreie der Menschen im Mittelmeer, das Rufen der Menschen in Lagern und Gefängnissen, das leise Seufzen der Kinder. Alle ungehörten Stimmen. Das Lied ist in der Welt. Von Gott singen heißt auch, anderen davon zu erzählen, was einem das Herz übergehen lässt. Und dafür zu sorgen, dass andere auch erzählen dürfen. Singen und sagen von dem, der Frieden im Himmel und auf der Erde verheißt. Wenn die Backsteine unserer Kirchen erzählen könnten und das Kopfsteinpflaster unserer Städte, und die Mauersteine in den Häusern? Würden sie dann auch erzählen von dem, was nur hinter verschlossenen Türen gesagt und gesungen wird? Von all der Musik, die nicht gespielt 2 werden durfte? Von leisem Gesang? Und stillem Flüstern? Würden sie erzählen von ängstlichem Schreien und lauten Rufen? Das Lied ist in der Welt. Und Jesus stellt sich vor die, die es ersticken wollen. Er versperrt denen den Weg, die zensieren und mundtot machen. Er stellt sich gegen die, die die Herrlichkeit des Lebens in Formeln bringen wollen. Gegen die, die das Sprudeln des Lebens im Gleichklang hören wollen. Dies Lied ist in der Welt. Wenn die Jünger schweigen, so sagt Jesus, werden die Steine schreien. Er weiß, der Lauf der Dinge wird sich nicht aufhalten lassen. Auch wenn die Pharisäer sie zum Schweigen auffordern. Sein Weg ist einer, von dem man sich erzählen wird, von dem man singen und sagen wird. Das Lied Gottes ist in der Welt. Und wenn es die Steine sind, die es schreien. Meister, weise deine Jünger zurecht. Das sagen die Pharisäer. Jesus sagt etwas anderes. In ihrem Zimmer beginnt sich die schwarze Scheibe auf dem Plattenteller zu drehen. Ganz vorsichtig lässt sie die Nadel auf die Schallplatte sinken. Es knistert. Und dann dreht sie auf. Den Lautstärkeregler an dem alten Plattenspieler. Bis es nicht mehr weitergeht. Die Mädchen singen mit. So laut sie können. Die Stimmen überschlagen sich fast. Sie schreien es heraus. Das Herz geht ihnen über. Die drei stehen mitten in ihrem Zimmer. Sie tanzen. Die Dielen knarzen. Die Nachbarin ist ihnen jetzt egal. Im Überschwang des Augenblicks. Frei wie schon lange nicht mehr. Erd und Himmel sollen singen. Singt dem Herrn ein neues Lied! Amen. 3
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