Perspektive für die Volkskirche in der Stadt

Perspektive für die Volkskirche in der Stadt
Referat vor der Stadtsynode Mannheim, 18.4.2015
Oberkirchenrat Dr. Matthias Kreplin, Karlsruhe
Liebe Mitglieder der Stadtsynode!
Liebe Brüder und Schwestern in kirchenleitender Verantwortung!
Ich wohne in Karlsruhe in einem neuen Stadtteil, der erst in den letzten fünf
Jahren entstanden ist. Meine Frau und ich leben – nachdem nun unsere drei Kinder
aus dem Haus sind – seit fast zwei Jahren in einem neu gebauten Wohnblock. Zwei
Stockwerke über uns wohnt ein junges Paar, die beide gerade ihr Studium bzw.
ihre Promotion abgeschlossen haben und nun in den Beruf einsteigen. Die beiden
wollen heiraten – auch kirchlich. Die Kirche im Stadtteil, in dem sie jetzt seit
eineinhalb Jahren wohnen und aus dem sie demnächst wieder wegziehen werden,
erscheint ihnen nicht besonders attraktiv, auch ist die Pfarrerin dort nicht ihr Typ.
Zu ihren Herkunftsgemeinden haben sie keinen Kontakt mehr. Ihre Eltern leben
inzwischen auch anderswo. Ich habe versucht, ihnen einen Pfarrer und eine Kirche
für ihre Trauung zu vermitteln. Aber die Hürden waren offenbar zu hoch. Jetzt
haben sie ihre kirchliche Trauung aufgeschoben und versuchen erst einmal, Umzug
und Berufseinstieg zu bewältigen.
Mit diesem Paar vor Augen möchte ich mit Ihnen zunächst nachdenken über unsere
Bilder von Kirche und was daraus folgt.
1. Ein neues Leitbild von Kirche
Unser Denken über die Kirche geht traditionell von der Gemeinde aus. Dabei sind
für unsere Vorstellungen von Gemeinde stark prägend Bilder, die sich im 19.
Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert haben. Sie haben das
Modell der Dorfgemeinschaft, die bis in die 1960-er Jahre eine enge Arbeits- und
Lebensgemeinschaft war, auf die Kirche übertragen. Diese Kirchenbilder verstehen
Gemeinde als eine Gemeinschaft, vergleichbar einer Familie oder einem Verein.
Eine Gemeinde ist Lebensgemeinschaft, in der Menschen nicht nur durch den
christlichen Glauben, sondern auch durch ein enges Beziehungsnetz miteinander
verbunden sind. Konkret bedeutet dies: In der Kirche als Verein kann ich den
christlichen Glauben nur dadurch leben, dass ich mich in das gemeinschaftliche
Leben integriere, an den Gemeindeveranstaltungen – und zwar nicht nur dem
Gottesdienst, sondern auch den Gruppen und Kreisen – regelmäßig teilnehme. Das
setzt voraus, dass das Netz meiner Beziehungen, in denen ich lebe, zum großen
Teil mit dem Netz der Beziehungen in der Kirchengemeinde zusammenfällt. Ziel
der Gemeindearbeit ist nach diesem Konzept immer, Menschen nicht nur das
Evangelium erfahrbar zu machen, sondern sie in das Beziehungsnetz der Gemeinde
zu integrieren. Gemeindewachstum lautet deshalb die Zielperspektive – und dies
bedeutet: Ausweitung des Beziehungsnetzes der Gemeinde. Und Inhalt der
Gemeindearbeit ist wesentlich: Pflege des Beziehungsnetzes: Durch Gruppen und
Kreise, durch Gemeindefeste und andere gesellige Veranstaltungen.
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erwachte in der evangelischen Kirche
zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass es auch Christenmenschen gibt, die ohne
Integration in das Beziehungsnetz der Ortsgemeinde leben wollen und nur einen
punktuellen Kontakt zur Kirche suchen – man sprach dann häufig von den „treuen
Kirchenfernen. Kasualgottesdienste und Gottesdienste an hohen Feiertagen (wie
z.B. Heilig Abend) waren für solche Menschen ihr Verbindungsglied zur Kirche. Für
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sie war Kirche bei Gelegenheit wichtig – wie es Michael Nüchtern, mein Vorgänger
im Oberkirchenrat - schon 1970 formulierte. Und seit vierzig Jahren gibt es eine
Diskussion darüber, ob diese Form des christlichen Glaubens legitim sei oder doch
höchstens als zu überwindendes Vorstadium des eigentlichen Glaubens zu
verstehen sei, der eine feste Einbindung in die Gemeinde vor Ort brauche.
Diese Diskussion hat in den letzten Jahren durch die wahrnehmbare Veränderung
unserer Gesellschaft eine neue Gewichtung erhalten. Es wird mehr und mehr
deutlich, dass viele Menschen sich nicht mehr in feste Beziehungsnetze größerer
Gemeinschaften integrieren wollen und teilweise aufgrund beruflicher
Anforderungen und ihrer familiären Lebensweise auch gar nicht mehr können
(denken Sie nur an das junge Paar aus unserem Haus), sondern in ihrem Leben an
ganz verschiedenen Beziehungsnetzen immer nur punktuell teilhaben. Wenn die
Evangelische Kirche den christlichen Glauben im 21. Jahrhundert an die nächsten
Generationen weitergeben will, dann müssen wir also alternative Formen zur
Vereins- und Familienkirche entwickeln. Und alternative Formen müssen zwei
Grundkriterien erfüllen: Sie müssen den Menschen die Möglichkeit geben, punktuell
und gelegentlich teilzunehmen und sie müssen das Evangelium viel stärker und
wirksamer für die Menschen erfahrbar machen – weil hier die kontinuierliche
Gemeinschaft, die den Glauben trägt, an Bedeutung verliert.
Das Evangelium wird aber umso stärker und wirksamer erfahren, je mehr es in
Kontakt kommt mit der Lebenswirklichkeit der Menschen. Das bedeutet konkret:
Kirche muss weniger versuchen, die Menschen in das kirchliche Leben zu
integrieren, sondern sich stärker den Menschen zuwenden, in der Lebenswelt der
Menschen präsent sein, „Kirche für andere“ werden, wie es schon Dietrich
Bonhoeffer formulierte. Kirche für andere bedeutet: nach den Bedürfnissen und
der Lebenswirklichkeit der Menschen zu fragen und dann – vielleicht sogar mit den
Menschen zusammen - entdecken, wie in dieser Lebenswirklichkeit die biblische
und christliche Tradition in der Gegenwart zum Evangelium werden kann - zu einer
Botschaft und einer Haltung, die stärkt, ermutigt, befreit, heilt, Hoffnung
begründet, Verantwortung ermöglicht.
2. Kirche für andere – welche Grundhaltungen sind hier relevant?
Kirche für andere ist zunächst einmal nicht danach bestrebt, Menschen zu binden.
Sie lässt Menschen die Freiheit, in der Intensität und Regelmäßigkeit oder
Unregelmäßigkeit an kirchlichen Veranstaltungen teilzunehmen, die sie selbst
bestimmen. Das heißt konkret: Wir freuen uns darüber, wenn 90% eines Jahrgangs
an evangelischen Kindern am Konfirmandenunterricht teilnehmen und sich für den
Konfi-Kurs verpflichten. Aber wir erwarten nicht von ihnen, dass sie hinterher auch
noch weiterhin am Gemeindeleben teilnehmen. Wir freuen uns, wenn die Familie
eines Kindergartenkindes am Familiengottesdienst an Erntedank, bei dem die
Kindergartenkinder mitwirken, am Gottesdienst teilnimmt, erwarten aber nicht,
dass sie am nächsten Sonntag wieder kommen. Den Menschen Freiheit lassen – und
nicht ihre Teilnahme oder Nichtteilnahme bewerten. Nicht unterscheiden zwischen
den wahren Christen, die regelmäßig am Leben der Gemeinde teilnehmen, und den
U-Boot-Christen, die nur gelegentlich auftauchen. Den Menschen Freiheit lassen.
Das muss sich übrigens auch auf ehrenamtliches Engagement beziehen: Wer sich
ehrenamtlich in der Kirche engagiert, muss spüren, dass er oder sie frei ist zum
Engagement, aber auch frei ist, dieses Engagement zu beenden – ohne dass man
ihm ein schlechtes Gewissen macht.
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Eine
zweite
wichtige
Grundhaltung
lautet
Gastfreundschaft
und
Willkommenskultur. Gastfreundschaft äußert sich in vielen Kleinigkeiten, an denen
deutlich wird, ob eine Gemeinde primär ausgerichtet ist auf die Insider, die zum
Verein Kirchengemeinde gehören, oder auf Gäste, die mal vorbei kommen und
dann – zumindest zunächst – fremd sind. Ein paar Beispiele: Ist auf der Homepage
Ihrer Gemeinde oder des Kirchenbezirks das Gottesdienstprogramm zu finden, aus
dem hervorgeht, was konkret am nächsten Sonntag in welcher Kirche im
Gottesdienst zu erwarten ist? Und ist dort auch zu entdecken, wo die Kirche zu
finden ist? Als Gastprediger komme ich oft in fremde Gemeinden und ich kann
Ihnen sagen, dass es manchmal eine detektivische Herausforderung ist, im Internet
herauszufinden, wo genau die jeweilige Kirche zu finden ist, in der ich predigen
soll. Insider wissen das, aber Fremde und Gäste nicht. Ein anderes Beispiel: Gibt es
einen Begrüßungsbrief für Neuzugezogene? Werden Gemeindebriefe an die
Gemeindeglieder oder gar an nicht Kirchenmitglieder verteilt oder liegen sie nur in
der Kirche aus? Begrüßt mich jemand freundlich, wenn ich zum ersten Mal in Ihre
Kirche zum Gottesdienst komme? Gastfreundschaft und Willkommenskultur
bedeutet das ganze Sein und Leben der Kirche auf die Frage hin zu untersuche:
Wie wirkt das auf Menschen, die fremd sind, die Gäste sind? Wie können wir
einladend auf sie zugehen, ohne sie zu vereinnahmen und ihnen die Freiheit zu
nehmen. Was braucht mein Gast?
Wenn Kirche nah bei den Menschen sein will und auf die Lebenswelten zugeht, in
denen Menschen sich bewegen, dann bedeutet dies drittens: Wahrnehmen, dass es
in unserer Gesellschaft ganz verschiedene Lebenswelten gibt. Welche Unterschiede
in Milieus und Kultur es zwischen den einzelnen Stadtteilen allein hier in Mannheim
gibt, muss ich Ihnen nicht sagen. Aber wenn wir noch genauer hinsehen, dann
werden wir feststellen, dass es in jedem Stadtteil selbst noch einmal ganz
verschiedene Lebenswelten gibt. Wenn wir Kirche für andere sein wollen, dann
müssen wir unser Angebot deshalb diversifizieren. Es braucht nicht an vielen Orten
immer das gleiche Angebot, sondern es braucht eine Vielzahl von verschiedenen
Angeboten. Betrachten Sie unter diesem Gesichtspunkt zum Beispiel einmal Ihre
Gottesdienstlandschaft! Über Mannheim kann ich nicht reden, aber in Karlsruhe,
wo ich jetzt lebe, kann ich das genauer sagen: Da finden am Sonntagmorgen allein
im Stadtzentrum eine Vielzahl von Typ her weitgehend gleicher Gottesdienste statt
– wenn ich einmal am Sonntagabend in den Gottesdienst gehen möchte, finde ich
in der ganzen Stadt nur ein einziges Angebot – und wenn ich Pech habe, zielt es auf
Studierende, zu denen ich nun nicht mehr gehöre. Besser viele verschiedene
Angebote für verschiedene Zielgruppen und Lebenswelten als immer mehr vom
gleichen.
Das bedeutet dann aber auch viertens, dass nicht alles an jedem Ort sein kann und
auch nicht sein muss. Unser traditionelles Bild von Kirche als Verein geht ja davon
aus, dass es in einer Ortsgemeinde Angebote für alle gibt, von der Jungschar und
der Jugendgruppe, über den Frauenkreis und den Männertreff und den
Familienkreis bis hin zum Seniorennachmittag. Wenn wir uns auf verschiedene
Lebenswelten einlassen, kann es in einer Gemeinde nicht mehr Angebote für alle
geben – dafür sind die Lebenswelten einfach zu vielfältig. Darum braucht es
zwischen den einzelnen kirchlichen Orten eine wechselseitige Arbeitsteilung. Die
einen bieten erfolgreich „Kirche und Kunst“ an, dann braucht das sonst niemand in
der Stadt mehr zu machen – die daran interessierten Menschen finden schon
dorthin (vorausgesetzt die anderen Gemeinden werben auch dafür). An einer Stelle
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gibt es eine attraktive Jugendkirche. Aber dann sollen die Gemeinden im Umfeld
nicht darüber klagen, dass es bei ihnen keinen Jugendkreis gibt.
Dazu gehört dann auch fünftens das Selbstverständnis, dass eine einzelne
Gemeinde nicht die ganze Kirche ist und eigentlich sich selbst genügt, sondern dass
erst das ganze Netz von Gemeinden und kirchlichen Orten in der Stadt Kirche
wirklich darstellt. Und zu diesem Netzt gehören dann eben nicht nur die ParochialGemeinden, sondern auch andere kirchliche Orte: Die Sozialstation in einem
Stadtteil, die ESG, das Seelsorgeangebot im Krankenhaus, die Bahnhofsmission, die
Telefonseelsorge usw. Die Vorstellung, Kirche baut sich von Gemeinden her auf,
die jeweils an sich schon ganz Kirche darstellen, ist schlichtweg falsch. Kirche ist
ein Netz von vielen verschiedenen kirchlichen Orten ganz unterschiedlicher Art,
die sich gegenseitig stärken und stützen und füreinander einstehen. Deshalb
braucht es auch dann eine ganz bewusste Gestaltung dieses regionalen Netzwerkes, Absprachen, die festlegen, was wo angeboten wird, was an welcher Stelle
weiterentwickelt wird und was wo auch reduziert wird, um Kräfte zu gewinnen für
Neues. Manche Angebote wird es dabei für die ganze Stadt an einer einzigen Stelle
geben müssen, manche Dinge in einer Region, manches auch im Stadtteil oder im
Quartier. Hierfür braucht es ein Konzept für die Stadt.
Eine Nebenbemerkung: Sind diese anderen wichtigen kirchlichen Orte - die
Sozialstation, die Krankenhausseelsorge, die Bahnhofsmission, die Telefonseelsorge
und was das hier in Mannheim noch alles umfasst – auch hier in Ihrer Stadtsynode
mit Sitz und Stimme vertreten? Oder sind hier nur Parochialgemeinden vertreten?
Eine letzte Grundhaltung möchte ich als sechstes noch benennen, die wichtig ist,
um Menschen in ihrer Lebenswelt zu begegnen: Es gilt wertzuschätzen, wo uns das
bereits gelingt. Manchmal denken wir, wir müssten ganz viele neue Dinge
anzetteln, um Menschen zu erreichen, die wir bisher kaum erreichen. Dabei gelingt
uns das schon an ganz vielen Stellen. Ein paar Beispiele: Aus allen Milieus kommen
Menschen zu uns, weil sie eine Taufe, eine Trauung oder eine Bestattung
wünschen. Sind wir darauf eingestellt, das so zu gestalten, dass es die Menschen in
ihrer Lebenswelt wirklich erreicht? In den Kindergärten erreichen wir viele
Familien, die mit Kirche und Religion bisher wenig am Hut haben. Nutzen wir diese
Chance, um auf diese Menschen zuzugehen? Bei der Krankenpflege und
Nachbarschaftshilfe haben wir ganz viel mit Menschen in schwierigen Situationen
zu tun. Machen wir denen auch stimmige Angebote von seelsorglicher Begleitung?
Es gilt also ganz besonderes Augenmerk auf die Kontaktflächen zu richten, an
denen wir bereits viele Menschen erreichen.
3. Kirche für andere – was kann das konkret heißen?
Ich möchte einige Beispiele nennen, wo ich aussichtsreiche Ansatzpunkte dafür
sehe, „Kirche für andere“ stärker erfahrbar zu machen. Anknüpfen möchte ich an
den kirchlichen Handlungsfeldern, die gerade auch für der Kirche ferner Stehende
die Attraktivität von Kirche ausmachen.
Für fast alle Kirchenmitglieder und sogar für manche Konfessionslosen sind die so
genannten Kasualien – also Taufen, Trauungen und Bestattungen - eine attraktive
Kontaktfläche zu Kirche. Hier kann auf besonders intensive Weise das Evangelium
der Lebenswelt der Menschen begegnen. Aber hier machen wir es Menschen, die
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eher in Distanz zu Kirche leben, auch oft schwer. Denken Sie an meine Geschichte
vom jungen Paar zwei Stockwerke über uns. Warum gibt es in einer Stadt wie
Karlsruhe mit 30.000 Studierenden und vielen tausenden Menschen, die nur für ein
Paar Jahre in die Stadt kommen, um an der Uni oder in den vielen Betrieben der
Stadt für einige Jahre zu arbeiten, keine kirchliche Agentur, die den beiden hilft,
einen schönen Ort für ihre Hochzeit zu finden und ein Pfarrer oder eine Pfarrerin,
die auf ihre besonderen Wünsche eingehen kann? Dieses Paar hat Kirche nicht
erreicht, obwohl die beiden ein Interesse an Kirche haben?
Ich könnte mir vorstellen, dass es hilfreich sein könnte, hier in der Stadt besonders
schöne Kirchen als Traukirchen auszuweisen, dort ein besonderes
Beratungsangebot vorzuhalten, auch sicherzustellen, dass heiratswillige Paare dort
auch freundlich empfangen werden, dass schöne Traugottesdienste gestaltet
werden, dass vielleicht dort auch einmal im Jahr zu einem Erinnerungsgottesdienst
eingeladen wird und über einen Newsletter der Kontakt zu ehemaligen
Brautpaaren gepflegt wird.
Im Jahr der Taufe wurden an vielen Orten gute Erfahrungen mit Tauffesten im
Freien gemacht – soweit ich weiß auch hier in Mannheim. Solche Tauffeste, die
bestehen aus einer gemeinsamen intensiven Taufvorbereitung mit den Familien,
aus einem schönen und durch die Taufe im Freien oder gar an einem Gewässer
auch erlebnisreichen Taufgottesdienst und einer gemeinsamen Feier im Anschluss,
die es auch Familien erlaubt, eine Taufe zu feiern, denen es sonst aus den
verschiedensten Gründen schwer fallen mag, ein Fest auszurichten, haben großen
Zulauf. Warum nicht einen Ort in der Stadt etablieren, an dem jedes Jahr ein
solches Tauffest gefeiert wird und dafür in der ganzen Stadt Werbung machen?
Die Ausrichtung an wichtigen Einschnitten im Leben von Menschen kann auch dazu
führen, neue Kasualien zu entwickeln. Einschulungsgottesdienste haben so landauf,
landab in den letzten beiden Jahrzehnten enorm an Attraktivität gewonnen. Aber
es gibt auch andere wichtige Lebenseinschnitte. Hier in Mannheim gibt es ja schon
den Gottesdienst für Menschen in Trennung in Scheidung. Das ist ein Modell auch
für andere Orte. Könnten wir hier nicht auch kreativ werden und ausprobieren, an
welchen anderen Lebensstationen Menschen für eine Begleitung durch das
Evangelium empfänglich sind? Beim Eintritt in den Ruhestand? In der
Schwangerschaft?
Solche neuen Initiativen sind natürlich nur möglich, wo etwas Bestehendes
reduziert wird. Hier kann es hilfreich sein, ein Gottesdienstkonzept für die Stadt
zu entwickeln, das für eine gewisse Zeit einmal festlegt, wo welche besonderen
Gottesdienste in anderer Form oder zu anderer Zeit und welche Kasualien von wem
angeboten werden und wie dafür auch das bisherige traditionelle
Gottesdienstprogramm etwas ausgedünnt wird und unsere traditionellen
Kirchengängern dann hin und wieder zugemutet wird, den Gottesdienst in der
Nachbargemeinde zu besuchen, wenn sie an dem besonderen Angebot nicht
teilnehmen wollen.
Ein weiteres Handlungsfeld von Kirche, das Menschen an Kirche sehr schätzen, ist
unser diakonisches Engagement. Die Zuwendung zu Menschen, die aus welchem
Grund auch immer am Rande stehen und denen Unterstützung gut tut, wird auch
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von denen wertgeschätzt, die dafür selbst keine Zeit oder auch keine Kraft haben.
Und hier geschieht in Mannheim auch schon eine ganze Menge. In diesem
Engagement kommt „Kirche für andere“ unmittelbar zum Ausdruck. Genial ist das
dort, wo sich die verschiedenen Dimensionen von Kirche miteinander verbinden,
wo nicht nur für das leibliche Wohl gesorgt wird, sondern der ganze Mensch im
Blick bleibt – wie zum Beispiel in der Vesperkirche. Wo Diakonie nicht nur von
Profis geleistet wird – das braucht es an manchen Stellen auch – sondern unter
großer Beteiligung von ehrenamtlichem Engagement. Wie in den Tafelläden zum
Beispiel. Ich glaube, die große Herausforderung wird sein, diakonische Angebote so
aufzustellen, dass in ihnen ehrenamtliches Engagement ermöglicht wird und dass
sie verbunden werden mit seelsorglichen, gottesdienstlichen und BildungsAngeboten. Es geht darum, in der Diakonie erkennbar zu machen, dass hier nicht
nur „für andere“ etwas geleistet wird, sondern dass hier „Kirche für andere“ zu
erfahren ist. Warum nicht einen Kurs zum Glauben anbieten für die Eltern eines
Kindergartens oder in der Vesperkirche? Warum nicht eine engere Kooperation
zwischen der Sozialstation und dem Besuchsdienst herstellen? Sie kennen die
diakonische Landschaft hier in Mannheim viel besser als ich und können hier sicher
bessere Vorschläge machen.
Ein letztes Handlungsfeld möchte ich noch ins Spiel bringen, um „Kirche für
andere“ konkret auszumalen: „Kurse zum Glauben“. Sie haben hier in Mannheim
zusammen mit den anderen Kirchenbezirken der Metropolregion auf großartige
Weise die Kampagne „Erwachsen glauben“ durchgeführt bzw. sind noch dabei, das
zu tun. Diese Kampagne nimmt auf, dass es – nicht bei allen, aber doch auch nicht
nur bei ganz wenigen nur – einen Wunsch gibt, Glaube und Religion für sich neu zu
entdecken. Bisher – so die ersten Auswertungen - erreichen unsere Kurse vor allem
Menschen, die mit Kirche schon intensiv verbunden sind und oft schon
ehrenamtlich in der Kirche mitarbeiten. Das ist gut so, denn es braucht immer
auch eine Vergewisserung im Glauben. Aber ich kann mir vorstellen, dass es
möglich sein kann, ohne allzu großen Mehraufwand auch noch Menschen in mehr
Distanz zu Kirche zu erreichen. Warum nicht einmal ein Kurs zum Glauben für
Menschen mit kleinen Kindern anbieten (Sie kennen das Motiv aus der Kampagne:
Für alle, die Warum-Fragen beantworten müssen?) und dann auch ganz gezielt über
unsere Gemeindegliederdaten diejenigen Familien direkt und mit einem
persönlichen Brief einladen, die Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter
haben? Warum nicht einmal einen Kurs in einer Kneipe veranstalten? Das mögen für
Sie Beispiele sein und keine Rezepte, wie „Kirche für andere“ auch die
bestehenden Angebote noch einmal ein wenig anders formatiert und ausrichtet.
4. Was brauchen
Kirchenmitgliedern?
wir
dazu?
Was
brauchen
wir
von
unseren
Auf diese Frage möchte ich zum Schluss eingehen.
Wir brauchen dazu – neben anderen Haltungen und Leitbildern, worüber ich schon
gesprochen habe – vor allem Kraft, Zeit, Menschen, Geld. Alles ist knapp. Wir
müssen also darüber nachdenken, wo wir bisher viel Energie aufwenden, die nicht
optimal eingesetzt wird. Wo wir unsere Angebote reduzieren können, damit wir an
anderer Stelle Freiräume für Neues bekommen. Auch die hier in Mannheim
schwierige und anstrengende Bemühungen, den Bestand an Gebäuden zu
reduzieren, zielt letztlich darauf: Finanzielle Freiräume zu erhalten, um auch
Neues angehen zu können.
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Solche Reduktionen gehen nicht ohne Konflikte. Solche Reduktionen tun weh, weil
viele von uns ja verbunden sind mit dem, was da abgebaut und aufgegeben werden
soll und das über Jahrzehnte hinweg vielleicht aufgebaut und getragen haben.
Aber es ist auch wichtig, dass wir uns gegenseitig die Frage zumuten: Wo sind wir
„Kirche für andere“ und wo verwalten wir nur etwas, das längst seine Lebendigkeit
verloren hat? Diese Frage kann man nicht theoretisch beantworten und auch nicht
im Oberkirchenrat für die ganze Landeskirche. Diese Frage müssen Sie einander
hier vor Ort zumuten. Vielleicht fällt es leichter, wenn das Leitbild „Kirche für
andere“ Ihnen klarer vor Augen steht, wenn es konkrete Ideen gibt, worin eine
solche Kirche für andere sich äußert. Deshalb braucht es sicherlich neben den
Struktur und Gebäude-Diskussionen immer wieder auch einen solchen Blick nach
vorne.
Sicher wird ihnen auch, als ich Ihnen so meine Ideen vorgestellt habe, durch den
Kopf geschossen sein: Woher sollen hierfür die Mitarbeitenden kommen? Wir haben
ja ohnehin schon Mühe, Menschen zu finden, die als Älteste kandidieren? Wer soll
das alles leisten?
In der Tat ist dies eine große Herausforderung. Ich nehme wahr, dass dort, wo es
gute Ideen gibt, die Menschen begeistern, auch Menschen zur ehrenamtlichen
Mitarbeit bereit sind. Dann aber nicht bereit sind, auch noch an anderer Stelle
mitzuarbeiten. Versuchen wir darum Räume zu schaffen, wo Menschen sich mit
ganz begrenztem Einsatz einbringen können. Wir sollten an solche Menschen dann
nicht mit der Erwartung herantreten, dass sie auch noch hier oder dort
mitarbeiten. Das begrenzte Engagement muss unser Leitbild sein. Der Spruch
„Wenn du der Kirche den kleinen Finger gibst, dann nimmt sie dir die Hand“ darf
nicht mehr die Mitarbeit in der Kirche charakterisieren – diese Haltung gehört zur
Vereinskirche. Und das heißt: Wenn es gilt, etwas Neues aufzubauen, dann müssen
dafür neue Menschen gewonnen werden – und nicht einfach den bisherigen
Mitarbeitenden einfach etwas noch oben aufgeladen werden – es sei denn, sie
lassen dafür etwas bleiben. Wenn ich es recht wahrnehme, dann gelingt es auch,
neue Menschen für das Engagement in der Kirche zu gewinnen – wenn das
Miteinander stimmt, wenn es genug Gestaltungsmöglichkeiten gibt, wenn das
Projekt überzeugend ist und wenn man sich auch wieder verabschieden darf.
Menschen als Mitarbeitende gewinnen heißt ja: Sie ansprechen mit der Botschaft
„Wir brauchen Sie“. Ich glaube, hier müssen wir uns mehr trauen. Auch Menschen,
die eher in Distanz zur Kirche sind, sagen: „Wir als Kirche wollen dieses Projekt
durchführen und wir brauchen Sie dazu. Wir brauchen Sie nicht nur als
ehrenamtliche Mitarbeiterin oder ehrenamtlichen Mitarbeiter. Wir brauchen Sie
auch als Spenderin oder Spender, oder schlicht als jemand, der seine
Kirchensteuer zahlt. Und wir sind dankbar für alle Formen der Unterstützung.“
Die Bitte um Unterstützung kann um so eher Resonanz finden, je überzeugender
das Projekt ist, für das wir um Unterstützung bitten – das ist klar. Aber ich denke,
die Bitte muss auch die Menschen wirklich erreichen und in einer Sprache und
einer Form die Menschen erreichen, die auch wirklich anspricht. Sie haben hier in
Mannheim ein – nach meiner Wahrnehmung – sehr gut arbeitendes Fundraisingbüro.
Nutzen Sie diese Chance um nicht nur um Spenden zu werben, sondern so gut als
möglich mit den Menschen in Kontakt zu bleiben und zwei Botschaften zu
kommunizieren: „Wir brauchen Sie!“ und „Vielen Dank für Ihre Unterstützung!“
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Vielleicht findet das Paar, das inzwischen aus unserem Haus ausgezogen ist, in
einigen Jahren den Weg nach Mannheim. Vielleicht lesen sie dann in der
Kirchenzeitung für Mannheim und bringen sie daraufhin ihr zweites Kind bei einem
Tauffest zur Taufe und machen eine richtig gute Erfahrung mit Kirche. Das wäre
schön!
Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, sich mit diesen Perspektiven für das KircheSein auseinanderzusetzen und wünsche Ihnen für Ihre Kirche-Sein hier in Mannheim
Gottes reichen Segen.
Oberkirchenrat Dr. Matthias Kreplin
([email protected])
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