- Dee Borre

Dee Borre
Interview
mit einer
Hexe
TEIL 1
MYSTERY-KurzGESCHICHTE
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Grafwegen / Juli / 2013
„Du bist dir ganz sicher, dass du SIE wirklich treffen willst?“, fragt Hendrik, der Wirt
der Gaststätte `Merlijn´. Er runzelt kurz die Stirn unter seinem weiten hellen Hut und
hält mir den Türschlüssel schwenkend entgegen.
„Ja, das bin ich - absolut!“ Ich trete einen Schritt näher an den bereits gestarteten
Wagen heran, „ich will dieses Treffen unbedingt!“
Hendrik wirkt immer weniger begeistert. Er nickt: „Du musst es wissen, Dee!
Allerdings ist sie halt ein wenig - wie soll ich sagen - seltsam, mit Sicherheit nicht so,
wie du sie dir vorstellst und damit meine ich nicht nur ihr Äußeres! Ich würde, ehrlich
gesagt, es mit ihr alleine in einem Raum nicht lange aushalten. Aber ich muss das ja
auch nicht!“ Er blinzelt mich über den oberen Rand seiner Brille an.
„Würdest du nicht? Wieso? Was willst du damit andeuten?“, frage ich.
„Nur, dass sie einfach ein wenig arg verschroben ist in ihrem Auftreten und ihrer
ganzen Art sogar ein wenig sehr verschroben. Sie bestand darauf, dass ich drei Dinge
bereithalte: eine Schale, gefüllt mit Wasser, eine kleine Schüssel voller Waldbeeren und
eine Eisenfeile, weiß der Teufel wozu. Aber du wolltest die kompetenteste Person für
deine Recherche haben und das ist sie, weiß Gott! Gebe mir aber bitte nachher nicht
die Schuld dafür, wenn nicht alles so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast!“
Ich schaue ihn verunsichert an: „Waldbeeren und eine Feile? Hast du etwa eine
Voodoo-Tante für mich aufgestöbert oder so etwas?“
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„Nein, das nicht. Warte ab, du wirst sie kennenlernen. Ach ja, in der Küche steht
schon ein heißer Koffie und im Gefrierfach liegt ein Oude Genever, für alle Fälle!“
„Gut zu wissen, ha!“
„Den Nachschlüssel habe ich dir bereits gegeben. Die hinteren Türen sind eh
verschlossen und wenn ihr geht, verschieße bitte die Haupttüre und halte den Schlüssel
bei dir. Kannst ihn mir dann nächste Woche zurückgeben! Fast vergessen: du solltest
wissen, dass hier in Grafwegen Handys nur bedingt funktionieren. Also, keine Panik
deswegen, stell dich drauf ein. Dann fahr ich jetzt mal nach Nijmegen deine `Lady´
holen. Du weißt, dass ich danach sofort in meinen Kurzurlaub starte, das heißt, dass du
sie wieder nach Nijmegen zurück bringen musst!“
„Mach ich! Und vielen Dank, dass ich ausgerechnet an deinem ersten Urlaubstag die
Gaststube für mein Treffen mit der `Lady´ nutzen darf.“
„Steht doch eh jetzt leer!“, winkt Hendrik ab und der Wagen rollt los, um gleich
wieder zu stoppen, „und, Dee, sehe zu, dass die Alte vor zwölf Uhr wieder raus ist aus
dem Boscafé. Ganz wichtig!“
„Wieso?“
„Keine Ahnung. Hat mir die Kontaktperson aus Groesbeek so gesteckt. Vielleicht
wird jene nach Mitternacht irgendwie `seltsam´ oder will gar bleiben. Auch, dass man
sich nicht überreden lassen soll, mit ihr einen Findling oder Druidenstein aufzusuchen,
auf keinen Fall!“
„Eine Anspielung auf das Goldene Kalb hier ganz in der Nähe?“, frage ich.
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„Was weiß ich, Dee, jedenfalls pass auf dich auf und dass sie mir nicht das Merlijn
abfackelt!“, dann nuschelt er etwas leiser, mehr zu sich selbst in seinen rotblonden
Bart, „besser, sie käme erst gar nicht mit, lieber Freund, denn ich mag dich irgendwie,
hihi!“
Bevor ich auf das `Abfackeln´ noch etwas erwidern kann, gibt er Gas und rauscht
davon.
Nun sitze ich hier in der Schankstube an einem rustikalen Tisch und rühre, irritiert
durch Hendrik letzten Sätze, angespannt in meinem Koffie herum. Meiner Frau und
den erwachsenen Kindern habe ich von diesem Termin nichts gesagt. Sie glauben, ich
sei bei Freunden auf einer Bandprobe.
Nervös schaue auf die Uhr. 21 Uhr ist vorbei, gut zwanzig Minuten sind jetzt
vergangen.
Mir wird immer bewusster, dass ich mich hier Mutterseelenallein in einem fremden
Haus befinde. Selbst die Hunde scheint Hendrik schon urlaubsbedingt weggebracht zu
haben. Plötzlich gehen mir die Geschichten von den `spukenden´ Soldaten aus dem
Zweiten Weltkrieg durch den Kopf, von deren angeblichen Besuchen in dieser Kneipe
nicht nur einmal erzählt wurde oder von der alten Hanneke Cluster, der `Schwarzen
Hexe´, deren `Hexenhaus´ seit Generationen gleich hier um die Ecke ihren Platz hatte,
bevor eine britische Fliegerbombe es 1944 zerstörte. Warum liegt das Cluster-
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Grundstück immer noch brach? Hat sich niemand getraut, das zugewucherte Areal zu
kaufen?
Oh Gott, brauche ich jetzt schon einen Genever? Nicht doch. Ein kräftiger Schluck
Koffie reicht. Mm lecker, wenn auch schon ein bisschen kalt! Einen feinen Koffie
machen, das kann der Hendrik.
Mein Blick überfliegt die gerahmten Bilder an den Wänden oberhalb des Tisches und
bleibt an einem riesigen ausgestopften Raben neben einem Hirschgeweih hängen. Na,
der passt perfekt zur Stimmung des langsam schummerig werdenden Raumes. Draußen
wird es ebenfalls dunkler. Der nahe Waldrand direkt gegenüber ist daran nicht ganz
unbeteiligt.
Merkwürdig, dass Hendrik bei der Unterredung partout nicht dabei sein will,
normalerweise interessieren ihn derart mysteriöse Geschichten durchaus.
Endlich finde ich den Schalter der antik wirkenden Tischlampe und schalte diese ein.
Der Tisch wird sofort erhellt, der übrige Raum dagegen kaum.
Vor knapp vier Wochen hatte ich den befreundeten Wirt aufgesucht und ihn um seine
Hilfe bei einer Recherche-Angelegenheit gebeten. Es geht um einen zu Papier
gebrachten Erlebnisbericht eines jugendlichen Kranenburgers. In dieser Aufzeichnung
beschreibt der junge Mann ein unheimliches Zusammentreffen mit einem mysteriösen
Kahnführer auf dem Wylermeer, während einer nächtlichen Bootsfahrt mit seiner
Freundin, Mitte der 60er Jahre. Dieser Bericht scheint die `Beeker Legende von Piet
Pieters´ zu bestätigen. Die Legende erzählt, dass Piet Pieters seit Jahrhunderten die
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Ufer dieses Gewässers absucht nach seiner Liebsten `Rieke´ aus Cranenbourgh. In
Vollmondnächten soll er aufrecht im schwankenden Boot stehend den Namen der
Geliebten gegen den bewaldeten Hang rufen. Obwohl, so heißt es, ihm vor seiner
Ermordung Augen und auch der Mund zugenäht worden seien, stakt er seinen Kahn
das Gewässer auf und ab. Auch wurde die Legende, die ab dem ausgehenden 16.
Jahrhunderts entstand, dadurch noch geschürt, dass Augenzeugen immer wieder zu
Protokoll gaben, diesen Piet Pieters nicht nur auf dem Wasser, sondern auch in seinem
Heimatdorf Beek und dem benachbarten Ubbergen begegnet zu sein. Immer wieder
wird von einem Mann berichtet, der auf einem Staken gestützt durch die Mond
erhellten Straßen schlurft, energisch an Haustüren klopft und einen Namen ruft: Rieke.
Da diese Legende auf holländischem Gebiet entstanden sei, glaubte ich, Hendrik könne
mir da einen kompetenten Kenner dieser Materie jenseits der deutsch-holländischen
Grenze vermitteln, womöglich einen Mann oder eine Frau von der Uni Nijmegen.
Schließlich war Hendrik bis Mitte der 80er Jahre selbst dort tätig.
Dann kam sein Anruf. Er hatte Jemanden für mich ausfindig gemacht. Aber es war
kein Gelehrter von der Uni. Vielen Hinweisen nachgehend, sei er schließlich an den
Namen einer sehr alten Frau aus Groesbeek gekommen. Aber auch sie selbst war es
nicht, sondern eine uralte Freundin ihrerseits, die wiederum in Nijmegen lebte. Diese
uralte Freundin ist es nun, derer ich voller Erwartung harre und mit der Hendrik nicht
allein in einem Raum sein wollte.
In diesem Moment fällt mir auf, dass ich den Namen dieser Frau aus Nijmegen
überhaupt nicht kenne. Hendrik sprach immer nur von der `Lady´. Kannte er deren
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Namen auch nicht? Oder doch? Was soll es, ist jetzt eh zu spät. Hoffentlich kann sie ein
wenig deutsch. Mein holländisch ist wirklich gruselig.
Draußen höre ich ein Auto heran nahen. Es klingt wie der Wagen von Hendrik.
Mein Blick geht Richtung Fenster. Das werden sie sein, bin ich mir sicher! Ich stehe
auf und gehe zur Tür, schließe sie auf und trete ins Freie, um sie willkommen zu
heißen.
Obwohl ich es ganz deutlich gehört habe, da ist kein Auto zu entdecken, keine
Scheinwerfer, auch kein Hendrik und eine alte `Lady´ schon erst recht nicht. Nur ein
prächtiger Pfau stolziert am gegenüber liegenden Straßenrand entlang. Er gehört zu
Hendriks vielen Tieren, die hier mit ihm leben. Also, falscher Alarm, okay. Weiter
warten und Koffie trinken, auch wenn er jetzt kalt ist.
Gerade verschließe ich erneut die Türe, als ich deutlich im Raum hinter dem
Schankbereich das Verschieben eines Stuhles wahrnehme.
Schnell drehe ich mich um und bekomme einen Riesenschrecken.
Im dunklen Durchgang hinter der Theke erkenne ich schemenhaft die Umrisse einer
kleinen leicht gebeugten Frau. Sie steht völlig regungslos da und hält den Kopf
gesenkt. Ihre Arme stecken in den seitlichen Taschen einer zu weiten, grauen
Strickjacke, die bis zum Hals zugeknöpft ist. Über den Schultern breitet sich eine Art
dunkelroter Stola aus.
Wie gelähmt schaue ich auf die Person, die jetzt ihren Kopf bedächtig anhebt. „Herr
Borre? Sind Sie es? Wollen Sie mich sprechen?“, höre ich eine brüchige Stimme
fragen.
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„Äh, ich, äh, ja - schon möglich“, stottere ich, „aber wie sind Sie hereingekommen?
Alle Türen sind verschlossen! Und wo ist der Mann, der Sie hergebracht hat? Ist
Hendrik schon wieder weg?“
„Sicher! Jedenfalls, ich bin da.“, sie blinzelt zu mir herauf, „Sie sind doch der Herr
Borre?“
Immer noch steht die Frau unbeweglich unter dem Türbogen.
Ich gehe auf sie zu und strecke ihr zur Begrüßung die Hand entgegen: „Ich dachte
wirklich, dass alle Türen verschlossen waren. Wurden Sie eben durch die Seitentür
hereingelassen? Okay! Werde ich nachher dran denken müssen, wenn ich alles
abschließe. Also, ich bin tatsächlich der Herr Borre. Und wie darf ich sie Ansprechen,
gute Frau?“
„Mine“, ist die gleichermaßen knappe wie barsche Antwort, „Sie sind der, der wissen
will, ob die Geschichte von `Piet Pieters´, dem Fischer und seiner `Rieke´ wahr ist?
Wollen Sie sie wirklich hören? Sind Sie sich da ganz sicher?“ Sie schaut mir direkt in
die Augen. Meine, ihr entgegen gestreckte Hand ignoriert sie. „Vorab, wissen Sie, dass
`Rieke´ auch `Hexe Rieke´ in den Überlieferungen genannt wird?“
Verdammt dunkle Augen, die Alte, denke ich und wieso habe ich da auf einmal so ein
flaues Gefühl im Magen?
„Hm, bis jetzt nicht, Frau Mine!“, antworte ich und ziehe meine Hand zurück,
„sollen wir uns setzen, vielleicht an dem Tisch dort?“ Ich deute auf den Tisch, auf dem
bereits meine Tasse steht.
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Ohne zu antworten kommt sie hinter der Theke hervor: „Hab ich mir schon gedacht,
nun denn!“
Sie tippelt auf den gezeigten Tisch zu. Immer noch hielt sie ihre Hände in den
Taschen der zu großen Strickjacke.
Im Licht der Tischleuchte kann ich sie jetzt besser sehen. Ihr gefurchtes Gesicht mit
den tiefbraunen Augen hat was Grimmiges, Trauriges und wird von langen rötlichen
Haaren eingefasst. Unter ihrer Jacke lugt ein schwarzer Faltenrock hervor, der bis zum
Boden reicht. Jedenfalls sehe ich ihre Schuhe nicht.
„Bitte setzen Sie sich, Frau Mine, welchen Stuhl möchten Sie!“, fordere ich sie auf
und deutete auf drei Stühle an meinem Tisch, „möchte Sie etwas trinken, vielleicht
einen Koffie? In der Kanne müsste noch genügend sein.“
Mich durchdringend, ja fast prüfend anschauend setzt sie sich: „Ich bin nicht
hergekommen, um etwas zu trinken, das wissen Sie! Ich bin hier, weil ihr Bekannter
meiner Freundin glaubhaft versicherte, dass Sie es ernst meinen mit der
Wahrheitsfindung um die Legende über `Piet´ und `Rieke´. Wie ernst meinen Sie es
wirklich? Nun setzen Sie sich schon, mir direkt gegenüber, damit ich sie besser sehen
kann, besonders ihre blauen Augen!“
Deutlich dringt der holländische Schlag in ihrer Stimme durch.
„Oh, ich denke, doch sehr ernst“, erwidere ich und während ich mich setze, „ich will
schließlich darüber schreiben und es soll der Wahrheit entsprechen, was ich zu Papier
bringe!“
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„Soso, Sie wollen die Wahrheit erfahren? Die ganze Wahrheit mit all seinem Gräuel
und seinen Unmenschlichkeiten?“, fragt sie misstrauisch und zieht dabei ganz langsam
ihre in auffallend langen Handschuhen steckenden Hände aus der Jacke und lässt sie
nacheinander geradezu derbe auf den Tisch fallen.
Meine Tasse vibriert kurz.
„Ja sicher, wenn diese Sachen dazu gehören, will ich es wissen, denn“, ich stocke
mitten im Satz, als ich ihre Hände sehe. Nicht einer ihrer Finger bewegte sich.
Sie bemerkt meine Verwunderung. „Ja, Herr Borre, schauen Sie nur drauf auf meine
Hände. Sie stehen auch für eine Art Wahrheit. Oder eine Gräueltat? Es war das Jahr
1944, das Jahr der Invasion der Alliierten. Die Deutschen zwangen mich, wie auch
andere Frauen, im Grenzbereich als Abwehrmaßnahme gegen die Alliierten Minen mit
bloßen Händen zu vergraben. Dabei hatte ich Pech. Eine ging hoch. Nach dem Krieg
durfte ich bzw. wir nichts davon erzählen. Die Wahrheit wollte niemand hören. Es war
Frieden und die Niederländer mit den Deutschen waren nun wieder friedliche
Nachbarn!“
Jetzt erkenne ich die aus schwarzem Leder gefertigten Handprothesen, die ich
zunächst für Handschuhe gehalten habe und bin doch ziemlich geschockt.
Sekundenlang ist es ruhig im Raum. Nur die alte Wanduhr, sicher mal auf einem
Flohmarkt erworben, ist zu vernehmen.
„Was ist nun?“, unterbricht die Alte die Stille, „immer noch neugierig auf `Piet´ und
`Rieke´ und deren Wahrheit?“
Ich nicke heftig mit dem Kopf. „Sicher doch, sicher!“
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„Bestimmt?“
Ich nicke. „Ja. Wirklich!“
„So sei es denn. Also, Herr Borre, Ich kenne jedes Detail `Piet´ und `Rieke´
betreffend. Alles, was zur späteren Legendenbildung führte. So, als wäre ich dabei
gewesen. Na ja, das `dabei gewesen´ war so eine Sache, ein paar Bewusstsein
erweiternde Mittelchen halfen natürlich mit, Feinheiten wahrzunehmen!“
„Mittelchen? Bitte was für Mittelchen denn?“
„Die kennen Sie doch nicht. Jedenfalls sind es nicht die herkömmlichen Drogen, die
ihr Hippies in den 70er Jahren zu euch nahmt. Viel, viel ältere Tröpfchen, aus dem
Orient! Seit Jahrzehnten schon nehme ich die nicht mehr!“
„Und warum nicht?“, frage ich und schäme mich fast für die Frage
In ihrem zerfurchten Gesicht entdecke ich den Hauch eines Lächelns.
„Ganz einfach, weil seit damals sich niemand mehr für die Legende interessierte. Bis
jetzt, wo Sie aufgetaucht sind!“
„Rein interessehalber, wer fragte zuletzt danach?“
„Es war im Belvèdére in Nijmegen. Ich erinnere mich gut an die junge Frau. Sie war
ganz in Rot gekleidet, hm - oder war es nur eine rote Jacke? Ich weiß es nicht mehr
genau.“
„Okay, Frau Mine, wie gehen wir vor? Soll ich Fragen stellen und Sie antworten oder
wollen sie einfach erzählen? Ganz, wie Sie möchten!“
Ich setze mich aufrecht hin. Dabei versuche ich, entspannt zu wirken und nicht auf
ihre Hände zu starren.
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„Ich werde erzählen. Aber bevor ich anfange, kommen Sie her und greifen mir in die
linke Tasche meiner Jacke. Dann holen sie ein darin befindliches Fläschchen heraus.
Sie werden sich wieder setzen, das Fläschchen öffnen und daraus sich je einen Tropfen
in jedes Auge träufeln!“
„Wie bitte? Wozu soll das gut sein?“
„Oh ho, Herr Borre, Angst? Sehe ich da Angst? Keine Sorge, die Tinktur ist
ungefährlich, aber mit erstaunlicher Wirkung. Es lässt alles, was ich Ihnen erzähle,
realer erscheinen. Es wird Ihr Vorstellungsvermögen steigern. Sie werden förmlich
eintauchen in die Geschichte, so, als wären sie ein Teil davon. Aber Sie werden nur
Beobachter sein. Eingreifen in die Handlung geht nicht. Klingt das nach Hexerei, Herr
Borre? Machen Sie jetzt einen Rückzieher? Wenn ja, verschwinde ich auf der Stelle
und Sie werden nie erfahren, welch zauberhaftes Mädchen Rieke ist!“
„Sie meinen `war´!“, korrigiere ich.
Sogar ein kurzes Lächeln gibt Sie mir: „Nein, ich meine `ist´! Rieke ist, genau wie
Piet noch gegenwärtig. Nun kommen Sie schon her, Herr Borre, und greifen Sie mir,
verdammt noch mal, in die Jackentasche. Holen Sie sich das Fläschchen mit den
Zaubertropfen. Machen Sie schon, junger Mann!“
Ich erhebe mich.
Kurz stütze ich mich auf dem Tisch ab und starre die `Lady´ wortlos an.
Nur ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Ob ich das alles so wollte, Auge in
Auge mit einer verdammt schrägen `Lady´ namens Mine, uralt und ohne Arme, aber
mit Drogen in der Tasche? Hendrik hat mich vor der `Tante´ gewarnt. Bestimmt
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kommen gleich auch noch die spukenden Soldaten und als Krönung die `Schwarze
Hexe´ um die Ecke. Aber wie sagt die Alte immer `Nun denn´! Handy geht ohnehin
nicht und bis zwölf Uhr ist noch lange hin. Komm, Dee, du hast es doch gewollt!
Mit einem beidhändigen Schlag auf dem Tisch sage ich „nun denn, aber erst `ne
Stärkung“, und gehe rüber zur Theke, das heißt, zum Kühlschrank. Sekunden später ist
nach einem eisgekühlten Oude Genever kurzes Schütteln angesagt.
„Was ist nun?“, kommt es mürrisch vom Tisch herüber, „nicht die große Flasche,
Kerl, sondern das kleine Fläschchen ist jetzt wichtig. Machen Sie schon!“
„Klar, Frau Mine, ich komme!“
„Und bringen Sie die flache Schale, randvoll mit Wasser gefüllt, sowie die Schale mit
Waldbeeren gleich mit an den Tisch. Der Fahrer sprach davon, dass er sie hinter dem
Tresen bereit gestellt hätte. Ich mag diese Beeren!“
Ich entdecke sie und stelle sie auf den Tisch. Wozu diese gefüllten Schalen dienen
sollen, traue ich mich nicht zu fragen. Ich stelle aber auch die Flasche Genever samt
Pinneken mit auf den Tisch, für alle Fälle.
Tatsächlich ertaste ich dann das Fläschchen in ihrer Jackentasche, hole es heraus,
setze mich wieder und stelle es auf den Tisch, neben dem Hochprozentigen.
„Und nun?“, frage ich und nehme vorsichtshalber die Brille ab.
„Dass ich Ihnen die Tropfen nicht verabreichen kann, erklärt sich wohl von selbst!“
Die Alte deutete kurz auf ihre `Hände´. „Also los“, drängelt sie und eine gewisse
Anspannung spüre ich nicht nur bei mir, auch nun verstärkt bei ihr.
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„Wie lange dauert es, bis die Tropfen wirken?“, will ich wissen, während ich mir oh, wie leichtsinnig - diese bräunliche Tunke meinen Augen antue.
Die `Lady´ schlägt applaudierend die Prothesen aneinander und meint lapidar: „Kann
ich nicht sagen. Aber wenn Sie mit einem Male sich nicht mehr in der Kneipe wähnen,
dann heißt es: „Festhalten, es geht los, bzw. Sie sind mittendrin. Schauen Sie mir jetzt
in die Augen!“
Sie atmet einmal ganz tief ein, ohne ihren Blick von meinen Augen zu nehmen und
beginnt dann zu reden:
„Ich beginne mal mit dem Tag, an dem die achtjährige Rieke van Bossom ihren Vater
Wim bei einer Holzlieferung über den Kanal von Crannebourgh nach Nyeumeghen
begleiten durfte. Wir haben das Jahr 1582 … legen Sie ihre Hände jetzt auf meine
Prothesen und richten Sie ihren Blick auf das Wasser in der Schale. Nun stellen Sie
sich das Wylermeer vor: das Plätschern der Wellen, das Knarren der geladenen
Holzplanken bei jedem Auf und Ab des Kahns, die Zurufe entgegenkommender
Bootsführer über Neuigkeiten aus Nyeumeghen in kleverländischer, holländischer und
auch in spanischer Sprache. Über allen das Gekreische der Möwen, Sie sehen die
kleinen Strohhütten rechts in den Wiesen, einige davon schon ziemlich zerstört durch
marodierende Plünderer, links die bewaldete Hügelkette, wo die viele Kahlschläge
zeugen, vom Bedarf an Holz für die Befestigung der großen Stadt an der Waal.
Während der Kahnführer in Sorge um die berufliche Zukunft versunken über das
Wasser schaut, beeindruckt Sie dagegen die Unbekümmertheit eines kleinen
Mädchens, das vorne am Bug des Kahns sitzt und eine fröhliche Melodie summt. Trotz
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des fröhlichen Mädchens spüren Sie die dunkler werdenden Wolken des Krieges, wie
sie sich unaufhaltsam über dieses deutsch-niederländische Grenzgebiet immer mehr
zusammenziehen. Sie sehen immer komplexer die allgegenwärtige Armut und mit
einem Male ist Ihnen bewusst, dass Sie mittendrin sind sind im SpanischHolländischen Religionskrieg und Sie spüren zum Greifen nah die Gegenwart der
Rieke van Bossom. Hören sie das Schreien der Möwen im Hafen?“
Wim van Bossom schaute gen Himmel: „Verdammte Möwenbrut, schreien und mir
aufs Deck scheißen, das können sie“, maulte er, „und immer hier im Nyeumeghense
Hafen!“ Der Schiffer aus Cranneburgh hatte vor einer Stunde unweit des Krantores
seine Frachtkahn angedockt und überwachte nun die Löschung seiner Ladung Bauholz.
Zuvor hatte er in einem der Hafen-Kontore das Geschäftliche erledigt.
Von Inhaber seines Kontors bekam er seine Bestellungen und Frachtaufträge, die
diese ihrerseits von zumeist holländischen Kunden bekamen. Nicht selten waren
Vertreter der Kunden bei den Anlieferungen zugegen und nahmen, während im Kontor
noch verhandelt wurde, die bestellte Ware noch auf dem Boot in Augenschein. Er selbst
kannte die eigentlichen Kunden so gut wie gar nicht. So hatte er sich auch nicht
gewundert, das just zur selben Zeit, da er das Kontor verließ, eine fremde Frau an
seinem Kahn stand und es betrachtete, beziehungsweise das geladene Holz. Als er sich
ihr näherte, verließ sie spontan die Pier. Wim van Bossom war es egal. Mehr
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beschäftigte hatte ihn, dass er wieder keine Ladung für die Rücktour nach Cranneburgh
oder Cleef bekommen würde. Wieder eine Leerfahrt. Schlecht, aber fast zu erwarten.
Seit dem Ausbruch des Spanisch-Holländischen Religionskrieges. Seit dem waren die
Aufträge deutlich zurückgegangen. Wim machte sich Sorgen um die Zukunft.
Während des Entladens blieb er auf seinem Kahn, passte auf, dass sein Boot nicht in
irgendeiner Weise beschädigt wurde.
Dabei besah er sich nicht nur die vielen, deutlich größeren Kähne und Schiffe auf der
Waal an, sondern er verfolgte auch das rege Treiben an und um die Kaimauer herum.
Entladen wurden neben Unmengen an Holz und Bau-Materialien vor allem
Nahrungsmittel und viel Tuche.
Nicht weit entfernt warteten schon diverse Pferde- und Ochsen-Karren auf den
Weitertransport der Waren. Etwas entfernter zur Anhöhe hin standen aufgereiht die
vornehmeren Gespanne. Diese gehörten zu den Einkäufern wie Auftraggeber. Ein
Gespann der letzteren Gattung fiel besonders auf. Dieses hatte überhaupt keine
Ladungsmöglichkeit, sondern es war ein elegantes Reisegespann, überdacht und mit
dunkelgrün gestrichenen, schmaleren Rädern. Ein Rappe stand in teurem Geschirr
eingespannt davor. Im Inneren des Einspänners konnte Wim einen Mann und eine
junge Frau wahrnehmen.
„War sie nicht die Frau, die gerade bei seinem Boot stand, als er vom Kontor kam?“,
murmelte er. Dann könnte der Herr neben ihr möglicherweise jener Kunde sein, für den
er das geschlagene Holz aus dem Reichswald oberhalb Cranneburghs hergeschafft
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hatte! Aber vielleicht war er nur ein Schiffseigner, der auf die Ankunft einer anderen
Ladung wartete, gar auf Güter aus der Karibik, die über Rotterdam Fluss aufwärts auf
dem Weg hierher sind? Beim Gedanken an die `Karibik´ im Atlantik verspürte er einen
Hauch von Fernweh. Sicher kam der fremde Geschäftsmann aus dem Landesinneren,
denn ihn und selbst den Wagen mit den grünen Rädern hatte er hier im Hafen noch nie
gesehen. Aber sei es drum. Er schenkte dem Paar keine weitere Beachtung, zumal jetzt
eine seltsame Unruhe unter den Hafenarbeitern aufkam. Viele ließen ihre Arbeit liegen
und hasteten Richtung Belvèdére zum Hoenderpoort. Sollen sie doch, er jedenfalls
hatte sein Tagwerk zu verrichten.
Zwei Stunden später war die Ladung gelöscht und Wim machte sich wieder auf die
Heimfahrt, zurück nach Cranneburgh.
Kaum hatte er die Waal auf Höhe des Hoenderpoorts verlassen und war in den
Cranneburghse Kanal eingeschwenkt, da hörte er schon das entfernte Gegröle aus
unzähligen Kehlen und eine kleine Biegung sowie zwei üppige Sträucher weiter, sah er
auch die Ursache: hell lodernde Flammen. Wenige hundert Meter entfernt brannte das
Kasteel Opburghe lichterloh.
Jetzt hatte er die Erklärung für die Unruhe im Hafen.
Während der Herfahrt nach Nyeumeghen hatte am Kasteel noch absolut Ruhe
geherrscht, geschweige irgendetwas gebrannt, nun wimmelte es rund um die
Wasserburg von großen und kleinen Booten, vollbesetzt mit scheinbar gutgelaunten
Menschen. Einige der Boote kamen ihm entgegen, wollten wohl zurück zum Hafen.
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„Was ist passiert?“, wollte er wissen, „wer war das? Plünderer?“
Doch weil es zu laut war, konnte er die Leute nicht richtig verstehen. Nur das Wort
`Bürger´ fiel einige Male.
Bürger? Er schaute sich die grölende Menge an. Bei den meisten der Anwesenden
schien es sich tatsächlich um Bürger aus der Umgebung und aus der Nyeumeghens zu
handeln. Und da zudem auch viele in der Uniform der niederländischen
Befreiungsarmee steckten, war Wim schnell klar: dieses Kasteel wurde nicht von den
verhassten Spaniern in Brand gesetzt, sondern von den eigenen Leuten aus der WaalStadt, sicher auf Befehl des Stadtrates beziehungsweise des militärischen Befehlshaber
Nyeumeghens. In diesem so lang schon andauernden Krieg war die Zerstörung von
Kastelen und Burghen eine oft angewandte Taktik gegen eine etwaige Belagerungen
größerer Städte, wie halt Nyeumeghen. Dem Feind wurden so befestigte Ausgangsbeziehungsweise Basislager für Belagerungen genommen. Na dann wird dem
benachbarten Kasteel Ooij wenig später sicher das gleiche Schicksal ereilen. Wieso
stimmten die Herrschaften dieser Kastele dieser Vorgehensweise eigentlich zu?
Arnoldus van Boonenburg, Herr zu Opburghe, zum Beispiel? Wo war er jetzt? Würde
man ihm seine Hütte oder seinen Kahn anzünden, würde er sich wehren! Oder hatte
van Boonenburg mit den Spaniern sympathisiert?
Aber was ginge es ihn an, er wollte nur zurück nach Cranneburgh.
Doch das sah nicht gut aus. Die Vielzahl großer und kleiner Boote blockierten ihm
nun den an dieser Stelle ohnehin sehr schmalen Wasserweg zurück in sein Städtchen.
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Eine zusätzliche Gefahr drohte von den älteren, ziemlich morschen Kähnen mit
brennenden Stroh- und Holzhaufen, die hier überall noch steuerlos umher trieben.
Um keinen Schaden zu nehmen, entschied Wim, seinen Kahn in gebotenem Abstand
zum brennenden Kasteel ans südliche Ufer zu staken und erst einmal abzuwarten bis
eine gefahrlose Weiterfahrt möglich erschien. Sorge bereitete ihm allein die Tatsache,
dass er nicht alleine jetzt und hier auf dem Kahn war.
Da sich dieser milde August-Tag heute schon sehr früh andeutete, hatte der Witwer
den Wunsch seiner Tochter Rieke entsprochen und sie mit nach Nyeumeghen
genommen. Aber sie habe ihm versprechen müssen, während des Aufenthalts im Hafen
nicht von seiner Seite zu weichen oder aber unter dem halbrunden Schutzdach im
hinteren Teil des Bootes versteckt zu bleiben. Er wusste, dass es für `verwaist´
erscheinende Kinder schnell gefährlich werden konnte in diesem Teil der Stadt und
gerade in diesen unruhigen Zeiten.
Die Achtjährige, die im Hafen lieber auf dem Boot geblieben war als sich im Kontor
zu langweilen, stand jetzt neben ihrem Vater auf dem Boot und bestaunte das hektische
Treiben und besonders das knisternde und immer noch hoch lodernde Feuer.
Gerade stürzte ein weiteres Stück des Daches mit Getöse und Funkenflug in sich
zusammen, direkt auf die nach Westen hin angelegte hölzerne Zugbrücke zum Kasteel.
Niemand war bemüht das Feuer zu löschen, obwohl die Anlage nun wirklich schon
mehr als zerstört wirkte.
Rieke starrte auf das Feuer, war fasziniert und hatte gleichzeitig Angst davor. Sie
spürte ihr Herz klopfen und glaubte, dass ihre Hände für Augenblicke glühend heiß
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wurden. Zudem vernahm sie eine Stimme, die aus den Flammen zu kommen schien:
`Rieke, pass auf, Rieke …´
„Rieke, komm, wir gehen an Land! ... Rieke, träumst du?“, Wim stieß die Tochter
kurz an.
Riekes Kopf fuhr herum und sah ihren Vater die flache Böschung zum befestigten
Weg hinauf steigen.
Sie folgte ihm und sie blickte wieder irritiert zum Feuer: Hatte sie eine warnende
Stimme aus dem Feuer gehört oder war es der Zuruf des Vaters gewesen? Das Glühen
der Hände wie auch das seltsame Herzklopfen war auch nicht mehr zu spüren.
Auf dem parallel zum Kanal verlaufende Opburghse Weg am Fuße der Hügelkette
war ebenfalls viel Volk unterwegs. Aus Beeck und selbst aus Wylre waren Neugierige
heran geeilt. Viele zu Fuß, aber auch zu Pferd oder per Wagen drängten sie über den
befestigten breiten Weg.
Aus Richtung Nyeumeghen näherte sich ein Reiter, gefolgt von einer Kutsche. Der
Reiter war herrschaftlich gekleidet.
Wim sah ihn, aber sein Blick ging sofort auf die Kutsche.
Es war eindeutig der Einspänner vom Hafen mit den dunkelgrünen Rädern. Eine
Frau lenkte das Gefährt. Hatte der Brand diese Beiden ebenfalls angelockt?
Plötzlich überkam ihn ein ungutes Gefühl, denn der Reiter und die Kutsche stoppten
genau vor ihnen. Der Mann stieg vom Pferd und kam erhabenen Schrittes auf ihn zu.
Rieke drängte sich dichter an ihren Vater und zupfte an seinem Ärmel: „Papa, die
Frau auf dem Kutschbock war heute auf unserem Boot, als du im Kontor warst“,
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flüstere sie, „sie wollte wissen, ob mein Name `van Bossom´ sei und ob das Boot aus
Cranneburgh gekommen sei. Sie meinte, die Ladung wäre für ihren Herrn bestimmt!“
„Ist gut Rieke, ich habe die Frau auch gesehen, als sie gerade vom Boot kam!“
„Aber in Cranneburgh habe ich sie auch schon einmal gesehen, am Nyeumeghse
Poort, glaube ich. Sie hat mich da auch gesehen, sogar zugewunken!“
Nun stand der Fremde vor Wim und fixierte diesen von oben bis unten.
Er nickte zufrieden. „Deine heutige Lieferung Holz war für mich bestimmt, wusstest
Du das?“, begann er mit charmantem Unterton und hörbar spanischem Akzent.
„Nein, mein Herr“, antwortete Wim, der durch das brennende Kasteel im Rücken
seines Gegenübers als einen etwa 50-jährigen Edelmann mit orientalischem Aussehen
gut sehen konnte. Dieser war teuer gekleidet und trug einen Degen mit aufwendigem
Zierwerk an seiner Seite. Auf dem Kopf trug er einen Hut mit einer Feder dran.
„Ich bekomme die Aufträge von meinem Kontor in Nyeumeghen!“, erwiderte Wim.
„Ich weiß, Schiffer van Bossom, ich weiß!“, der Fremde winkte seine Begleiterin zu
sich, „ich habe mich erkundigt und weil Du Dein Tagwerk gewissenhaft erfüllst, will
ich, dass Du zukünftig nur für mich schaffst, die Fahrten ausschließlich für mich
machst. Diese Silberlinge hier gebe ich Dir als Anreiz, `Ja´ zu sagen!“
Die Frau war ebenfalls teuer gekleidet und trug ihr dunkles Haar nach hinten
zusammen gebunden. Nahe des rechten Ohres verlief eine schmale. frisch verheilte
Narbe zum Hals hinunter. Mit einer metallischen Schatulle in der Hand stieg sie vom
Kutschbock und hielt diese dem Orientalen jetzt geöffnet entgegen.
Er griff hinein und nahm zwei Münzen heraus. Diese hielt er Wim lächelnd entgegen.
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Wim reagierte zögerlich, war verunsichert und irritiert zugleich. Er überlegte - dachte
aber auch daran, dass durch die Kriegswirren die Zahl seiner Fahrten auf dem Kanal
mangels Aufträge wohl noch weiter abnehmen wird.
Er nahm die Münzen entgegen: „Ich danke mein Herr, das ist sehr großzügig von
Euch. Aber ich weiß nicht, wie ich Euch dienen kann, so doch zu befürchten ist, dass
der Cranneburghse Kanal nach Nyeumeghen in absehbarer Zeit dicht gemacht wird?“,
er deutete auf Rieke an seiner Seite, „ich muss an meine kleine Tochter denken!“
„So, dass ist Deine Tochter. Die ist doch sicher schon zehn Jahre alt, oder gar elf?“
Bevor Wim antworten konnte, sprudelte es aus Rieke heraus: „Ich bin acht Jahre alt!“
Der Mann schaute auf das Mädchen herunter: „Ist das wahr? Das hätte ich nicht
gedacht, so jung und schon so hübsch! Das hast Du doch sicher von deiner Mutter und
Großmutter geerbt, vermute ich!“
„Das weiß ich nicht. Meine Mutter lebt nicht mehr und meine Großmutter kenne ich
nicht. Von der weiß ich auch nichts!“
Wim streicht seiner Tochter über den Kopf: „Rieke, das will der feine Herr doch
bestimmt nicht wissen!“
„Tja, lieber Wim van Bossom, Du solltest mein Angebot annehmen, allein schon
wegen Deiner kleinen hübschen Tochter oder Deinen anderen Kindern! Du bist Witwer
und wenn etwas passiert? Wer kümmert sich um die? Aber vielleicht hast Du ja noch
Geschwister oder Deine verstorbene Frau hat welche, die noch Leben!“
Nein, weder noch. Ich habe nur meine Tochter und sie hat nur mich.
„Ja, wir haben nur uns!“, nickte Rieke zustimmend.
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„Oh, solch eine Tochter hätte ich auch gerne. Komm mal, Mädchen, lasse Dich mal
drücken“, und zu Wim schauend, „darf ich?“
Wim nahm sein Hand von Riekes Schulter: „Aber ja, mein Herr!“
Mit einem Lächeln breitete der Mann seine Arme aus, um Sekunden später diese um
das Mädchen zu legen und die Kleine an sich zu drücken. Dann löste er seine
Umklammerung und fragte das Mädchen: „Hast Du schon mal ein solch großes und
helles Feuer gesehen?“
„Nein, nur kleiner Feuer!“
„Ich schon oft. Mein erstes großes Feuer sah ich in der Nähe von Arnhem im Jahre
1559, als ich noch ein junger Mann war. Danach noch viele. Und immer, wenn ich
seitdem in solch ein Feuer hinein schaue, kommt es mir vor, als wenn die Flammen zu
mir sprechen und dann bekomme ich ganz heiße Hände, puh. Da bin ich wohl der
Einzige, dem so etwas widerfährt!“
„Ich habe vorhin auch ganz heiße Hände bekommen, als ich in die Flammen
geschaut habe - und mein Herz klopfte ganz doll!“, entgegnete Rieke, „war aber gleich
wieder vorbei!“
„Das ist gut so!“, sagte der Mann und drückte Rieke abermals an sich.
Dieses Drücken kam Wim wie eine Ewigkeit vor. Als er sah, dass dann der Mann
Riekes kleine Hand zwischen seine großen Hände presste und etwas Unverständliches
zu murmeln begann, wurde er unruhig: „Komm jetzt Rieke, ich glaube der Kanal ist für
die Weiterfahrt wieder frei!“
Der Mann schaute kurz zu der Frau rüber, nickte zufrieden und ließ das Mädchen los.
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Wim zog die Kleine sofort an sich heran.
Der fremde `Gönner´ klatsche zufrieden in die Hände und wandte sich wieder an
Wim: „Lieber Mann, was hältst Du davon, wenn nicht nur Du einen Anstellung bei mir
bekommst, sondern ich mich auch um die Zukunft Deiner Tochter kümmere?“
„Wim hatte sich wohl verhört: „Was meint Ihr - meine Tochter wollt ihr mir
wegnehmen?“
„Nein, doch nicht wegnehmen, guter Mann. Und jetzt schon gar nicht. Wenn sie ihr
17. Lebensjahr fast vollendet hat, dann erst bekäme sie eine Ausbildung als Zofe bei
mir. Aber sie müsste es auch wollen, also völlig freiwillig zu mir kommen. Können wir
uns darauf einigen, Wim van Bossom?“
„Ich bedaure sehr, mein Herr! Wenn Rieke das besagte Alter erreicht hat, wird sie
selber darüber entscheiden wollen und auch sollen, wie sie ihre Zukunft planen will!“
Das Gesicht des Edelmannes nahm ernste Züge an. Mit einer Kopfbewegung
schickte er die Frau zurück zur Kutsche und trat dann dichter an Wim heran.
„ Ich bestehe darauf, dass Du jetzt zustimmst, hörst Du! Schlag ein“ Er hielt Wim die
geöffnete Hand entgegen.
„Das werde ich nicht tun!“
„Das wirst Du tun! Oder was glaubst Du, was mit einem `Protestanten´ passiert,
wenn die Spanier erst mal hier sind? Und mit dessen Nachkommen? Und die Spanier
werden in drei Jahren hier sein und Nyeumeghen und die ganze Region beherrschen.
Darum tue es für Deine Rieke, schlage ein!“
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Wim spürte, dass es auf einen Streit hinauslief und schickt Rieke zurück aufs Boot.
Als die Tochter außer Hörweite war, ging er furchtlos auf den Mann zu: „Ihr könnt jede
junge Frau haben, jetzt oder in neun Jahren, wieso ausgerechnet meine Rieke?“
„Weil ich seit über 30 Jahren ständig auf der Suche nach ihr bin, seit ich ihrer
Großmutter Ruth kurz vor derem Tod in Arnhem versprechen musste, ihre Enkeltochter
ihrer einzigen Tochter Rethel zu beschützen, obwohl diese zu jenem Zeitpunkt noch
nicht mal geboren war.
„Ihr redet wirres Zeug, mein Herr. Meine Mutter kommt nicht aus Arnhem. Und die
Mutter meiner Frau - Gott habe sie selig - auch nicht. Sie stammt aus dem Dorpje
Leuth, sagte meine Frau.“
Wieder zog ein überlegendes Grinsen auf das Gesicht des Orientalen: „Deine Mutter
ist aus Cranneburgh, ich weiß, aber Deine verstorbene Frau Rethel war eine geborene
Bouten, richtig? Und sie war das einzige Kind der Ruth Bouten und die stammte aus
Arnhem nicht aus Leuth. Glaub mir. Und diese beherrschte die Kunst der Magie.
Damals wie heute eine gefährliche Gabe. Übrigens entstammte sie einer langen Linie
von Frauen, von denen jede zweite Generation mit diesen Fähigkeiten ausgestattet sein
soll und diese auch zutage tritt, so sie alleinige Tochter ist und bleibt, seit der KeltenZeit - sagt man, Geschwister würden diese `Linie´ trennen. Und rate mal, wer der
Gesetzmäßigkeit folgend wieder über diese Fähigkeiten verfügen wird, so aus dem
Mädchen eine Frau geworden ist?“
Wim schüttelte den Kopf: „Das kann nicht sein, meine Rieke? Nein. Niemals. Ich
habe sie gottesfürchtig und gläubig erzogen...!“
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„Ja, aber nicht nach den katholischen Lehrsätzen, sondern nach der calvinistischen
Auslegung. Warum wohl hat Deine Frau Dich zum Calvinismus überredet? Hör zu, ich
kannte Riekes Großmutter gut, durfte viel von ihr lernen. Als dann die Häscher im
Namen des christlichen Glaubens sie des Hexenwerks anklagten, war ihr Leben
verwirkt, das war ihr klar. Aber sie wollte unbedingt ihre einzige Tochter schützen, um
die Linie zu erhalten. Ob die Ankläger von dieser `Kelten-Linie´ wussten, war nicht
bekannt. Jedenfalls folterten sie die arme Frau, bis sie von der Existenz der Tochter
erfuhren. Ruth aber gab das Alter des Mädchens mit neun an, so dass deren Suche in
falsche Bahnen gelenkt wurde. Bei einem Besuch in ihrem Kerker vor der Hinrichtung
habe ich ihr versprechen müssen, mich um ihre 15-jährige Tochter zu kümmern, um
Deine Rethel Bouten. Wir beide, die unerkannte Rethel und ich, waren bei der
Hexenverbrennung Ruths dabei. Dennoch, Rethel musste auf alle Fälle aus Arnhem
verschwinden und so setzten wir über die Waal und ich konnte sie nach langem Suchen
bei einem zugezogenen, kinderlosen Ehepaar in Leuth unterbringen. Dass diese Leute
später den calvinistischen Leitsätzen folgen würden - und ebenso auch Rethel - wusste
ich nicht. Jetzt hatte ich nur noch darauf zu warten, bis Rethel heiraten und eine
Tochter zur Welt bringen würde. Auf diese Enkeltochter Ruths zu achten und
aufzupassen, dass hatte ich der „Hex van Arnhem“, Deiner `Schoonmoeder´
versprechen müssen. Und ich pflege meine Versprechen zu halten!“
„Aber jetzt achte ich auf meine Tochter und das wird so bleiben!“
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„Bis sie das 17. Lebensjahr vollendet hat, lächelte der Mann jetzt wieder, „solange.
Und passt gut auf sie auf! Übrigens, mein Angebot steht nach wie vor, überlege es
Dir!“
Wim antwortete nicht. Er drehte sich um, betrat seinen Kahn und drückte diesen
mittels Staken vom Ufer ab. Dabei schaute er den Fremden mit einer Mischung aus
Hass und Angst ins Gesicht. Er wusste in diesem Moment, dass dieses Kapitel
bezüglich Rieke noch nicht beendet war.
„Wir werden uns wiedersehen, Wim van Bossom. Ja, das werden wir!“, lachte der
Fremde und wandte sich seinem Pferd zu.
Wim nahm Fahrt auf und stakte sein Boot gekonnt zwischen den deutlich weniger
gewordenen anderen Booten hindurch, am Kasteel vorbei Richtung Beek.
Die Aussagen des Fremden hatten ihn nachdenklich gemacht. Seine Frau, die Tochter
der `Hex van Arnhem´? und Rieke als Enkelin bald die neue `Hex´! Ihm fiel in diesem
Augenblick ein, dass er und seine Rethel eigentlich noch weitere Kinder wollten. Dann
wäre demnach Rieke von ihrer `Bestimmung ´befreit worden. Aber nachdem Rieke auf
der Welt war, starb seine Frau unter mysteriösen Umständen, sodass Rieke Einzelkind
blieb. War der Tod Rethels Schicksal oder wurde da nachgeholfen? Steckte vielleicht
gar der seltsame Fremde dahinter? Oh, verdammt, er wird noch mehr auf seine Tochter
achtgeben müssen.
Dass er keine Ladung für die Rücktour erhalten hatte beschäftigte ihn im Augenblick
weniger als die Zukunft seiner Rieke. Was geschieht, wenn er mal nicht mehr ist, durch
Krankheiten hingerafft oder von Plünderern oder Wegelagerern erschlagen, wer
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kümmert sich dann um seine Tochter? Er wird die Herrschaften der Kornwassermühle
Creutzforth daraufhin ansprechen. Auch die Spaens gehören zur protestantischen
Bewegung. Dort könnte sie unterkommen und wäre geschützt.
Wim war so in Gedanken, dass er nicht bemerkte, wie ein anderes Boot direkt auf ihn
zuhielt und bedrohlich näher kam. Steuerte es absichtlich auf ihn zu?
In diesem Moment kam Rieke unter der Bootsverdeck hervor und rief: „Die Frau, die
bei dem Mann war, war ganz sicher die, die auch in Cranneburgh war, Papa, sie hatte
mir nicht nur zugewunken, sondern auch etwas gesagt. Sie sagte, sie wolle mich
warnen - warnen vor …!“
Es knallte laut. Und Wasser spritzte Wim ins Gesicht. Die Kollision war perfekt.
Wieder spritzte Wasser in Wims Gesicht. Sofort schaute er rüber zu Rieke. Sie stand
aufrecht im Kahn, hielt sich mit der einen Hand an der Bootswand fest, während sie
gestenreich auf das andere Boot deutete. Oder auf den Bootsführer? Immer wieder
schaute sie zu ihrem Vater und deutete energisch auf jene Person, die die Karambolage
verursachte.
Aber Wim verstand sie nicht. Das aneinander Reiben der Bootsplanken das
Knirschen der Hölzer war zu laut. Dazu plötzliches Möwengeschrei. Auch das
Erkennen des Kahnführers war ihm durch ständiges Spritzwasser nicht möglich.
Plötzlich aber ließ der Krach nach, das Bild wurde schemenhaft und Rieke plötzlich
undeutlich zu erkennen. Immer noch gestikulierte sie mit dem Arm Richtung anderes
Boot. Das Spritzwasser aber war zu spüren, ganz deutlich. Und aus Richtung des
anderen Bootes formierte sich undeutlich ein Gesicht und erste Worte wurden hörbar,
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erst leise, dann immer lauter und deutlicher: „Herr Borre! Seien Sie wieder bei mir!
Kommen Sie zurück! Nur zu!“
Erneut spüre ich Wasserspritzer in meinem Gesicht. Reflexartig drücke ich die Augen
fester zusammen. Aber ich spüre kein Auf und Ab mehr.
Das Schaukeln? Wo ist das Schaukeln des Bootes geblieben?
Ganz langsam öffne ich die Augen, blinzele. Vom Boot erkenne ich nur noch die
Umrisse. Aber weder Rieke sehe ich noch höre ich ihr Rufen. Jegliches Geschrei der
Möwen ist verstummt. Immer verschwommener erscheinen Boot, Kanal, linke Wiesen
und rechter Wald behangener Höhenzug. Gleichzeitig scheinen diese Eindrücke
überlagert zu werden, wenn auch noch recht undeutlich, von einem Tisch in einem
schwach erhellten Raum und einer Flasche seitlich vor mir, in der sich ein gelbes Licht
widerspiegelt. Ich sitze scheinbar an diesem Tisch. Ein Tisch in einem Schankraum?
„Hey, sind Sie wieder da?“
Ich erkenne erst die Stimme, dann die Person selbst. Aus dem Gesicht im anderen
Boot ist mein Gast Mine geworden und wir sitzen im `Merlijn´, eindeutig.
Während sie fragt, bewegt sie ihre künstlichen Finger durch die Wasserschale
hindurch in meine Richtung: „Noch ein weiterer Spritzer, um klarer zu werden, mein
schreibender Freund“, murmelt sie, „auch wenn ihr rosa Hemd dabei nass wird!“
Ich starre sie ungläubig an, während das Wasser mir über die Wangen läuft.
„Wahnsinn“, stöhne ich, „puh, nee, nee, ich habe echt gedacht, das Wasser ist das
Wasser des Kanals. Oh Gott. Was für Tropfen habe ich da bekommen? Das war alles so
realistisch: der Hafen von Nijmegen, der Kasteel-Brand und - das Mädchen Rieke!“
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„Haben Sie Kopfschmerzen oder ein Dröhnen im Schädel? Wann ja, dann muss ich
aufhören, Ihnen die Geschichte von Rieke weiter zu erzählen. Dann ist hier Schluss.
Wäre schade, denn das Beste kommt ja noch, hihi!“
Alles um mich herum sehe ich jetzt wieder ganz deutlich, soweit die RaumHelligkeit das zulässt. Mein Blick geht zu meiner Uhr am Arm.
„Sie waren nur kurz Unterwegs gewesen. Sehr kurz. Aber es hat Sie neugierig
gemacht, oder?“ Die Alte zieht die kalte Hand aus der Schale heraus und legt sie
wieder auf den Tisch zur anderen. Eine kleine Lache bildete sich.
„Ich war nur zehn Minuten weggetreten?“ Ungläubig klopfte ich auf das Uhrglas,
halte überprüfend das Ohr daran. „Kann ich mir nicht vorstellen. Gefühlt waren es zwei
Stunden, mindestens!“
Draußen ertönte der Schrei des zum `Merlijn´ gehörenden Pfaus. Unheimlich!
Die alte Mine begann unruhig zu werden: „Was ist nun? Haben Sie Kopfscherzen?
Können wir weitermachen in der `Legenden-Überprüfung´?“
„Also, Kopfschmerzen oder Druck im Kopf verspüre ich nicht!“
„Das ist gut! Dann forschen wir halt weiter im Leben der Rieke!“
Ich setze mich wieder auf meinen Stuhl: „Bekomme ich diesmal keine Tropfen für
die Augen? Wie sehe ich, was mit ihr weiter geschieht?“
„Sage mir laut, wen ihr meint“, fordert Mine mich plötzlich energisch, ja fast
aggressiv auf, „und zwar richtig laut, los, ruft den Namen!“
Ich erschrak förmlich und rief spontan wie laut: RIEKE - RIEKE!“
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Augenblicklich war ich geblendet von der Tageshelligkeit. Die Sonne stand halbhoch
am westlichen Himmel und tauchte die spätsommerliche Landschaft zwischen
Groysbeeck, Wylre und Cranneburgh in ein wunderschönes Licht. Es war angenehm
warm und überall erklangen die Lieder heimischer Singvögel. Es war ein seltener Tag
der Ruhe. Mal kein Kanonendonner in der Ferne.
ENDE
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