Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Standardisierung und Individualisierung in der Versorgung von alten Menschen – Wie kann proaktives Verhalten gefördert werden? Univ.-Prof. Dr. Holger Pfaff 11.06.2013 – Universität zu Köln Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät IMVR: das Brückeninstitut IMVR Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Gliederung 1. Altwerden als Stressprozess 2. Proaktives Verhalten als präventives und korrigierendes Verhalten 3. Standardisierung der Versorgung hemmt proaktives Verhalten 4. Individualisierung fördert proaktives Verhalten 5. Fazit Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Wie „objektiv“ stresshaft und schwerwiegend ist der Übergang in den Ruhestand, wenn 100 Punkte die höchste Schwere darstellt? Rang? Lebensereignis Tod des (Ehe-)Partners Scheidung Trennung vom Lebenspartner Gefängnisaufenthalt Tod eines nahen Familienmitglieds Schwere Verletzung oder Krankheit Heirat Kündigung (Entlassung) Aussöhnung in der Ehe/Partnerschaft Übergang in den Ruhestand Punktwert 100 73 65 63 63 53 50 47 45 45 Holmes, T. H., und Rahe, R. H. (1967). The social adjustment rating scale. Journal of Psychosomatic Research, 11, 213-218. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Wie „objektiv“ stresshaft und schwerwiegend ist der Übergang in den Ruhestand, wenn 100 Punkte die höchste Schwere darstellt? Rang? Lebensereignis Tod des (Ehe-)Partners Scheidung Trennung vom Lebenspartner Gefängnisaufenthalt Tod eines nahen Familienmitglieds Schwere Verletzung oder Krankheit Heirat Kündigung (Entlassung) Aussöhnung in der Ehe/Partnerschaft Übergang in den Ruhestand Punktwert 100 73 65 63 63 53 50 47 45 45 Holmes, T. H., und Rahe, R. H. (1967). The social adjustment rating scale. Journal of Psychosomatic Research, 11, 213-218. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft These: Stress des Alterns als unspezifische Stressreaktion Stress: Die „unspezifische Reaktion des Organismus auf jegliche Anforderungen“ (Selye 1983) Phasen des generellen Adaptationssyndroms Alarmreaktion Widerstand Erschöpfung Frey, D., Graf Hoyos, C., Stahlberg, D. (Hrsg.). Angewandte Psychologie – Ein Lehrbuch. München: Psychologie Verlags Union München-Weinheim, 1988, (S. 429); Selye (1956). The stress of life. New York, McGraw-Hill Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Das Burgmodell: Drei Schutzmauern (soziale, psychische und biologische Schutzmauer) Gesundheit 3. Mauer: biologische „Schutzmauer“ 2. Mauer: psychische „Schutzmauer“ 1. Mauer: soziale „Schutzmauer“ Angriffe auf die Gesundheit: Soziale, psychische und biologische Risiken Pfaff, H.: 1999 Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Der Stress des Alterns kann eine fatale Stresskette auslösen Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Altern: von der Belastung zum Stress und zur Bewältigung Altersbedingte Erscheinungen als objektive Belastungen Nehme ich diese Belastungen wahr? Wie bewerte ich die Belastungen? Fühle mich dadurch bedroht? Was kann ich dagegen tun? Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Wir sind dem Stress nicht hilflos ausgeliefert – es gibt Ressourcen und Bewältigung Es gilt: Je weiter die BelastungRessourcen-Schere auseinander geht, desto kritischer wird es gesundheitlich! Krankheitsanfälligkeit Bewältigung Belastung Beanspruchung/Stress Bewältigungsprobleme Ressourcen Belastungen erhöhen die Krankheitsanfälligkeit Ressourcen senken die Krankheitsanfälligkeit Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Die Bewertung einer Situation: Freund oder Feind im Alter? 1. Primärbewertung eines Ereignisses / einer Situation 2. Sekundärbewertung eines negativen Ereignisses / einer Situation Relevant? Bewältigungsfähigkeit? Positiv? Bewältigungsmöglichkeit? Falls relevant und negativ: Schädigung/Verlust, Bedrohung oder Herausforderung 3. Neubewertung des Ereignisses unter verändertem Blickwinkel Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Stress ist nicht immer „negativ“! Eustress = (positiver) Herausforderungs-Stress Altern als Herausforderung! Disstress = (negativer) psychischer Stress Altern als Bedrohung! Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Person-Umwelt-Passung = ZIEL P = Person U = Umwelt P = U => keine Probleme P < U => Probleme (Überforderung, Stress, Krankheit) P > U => Probleme (Unterforderung, Langeweile) P – Umwelt-Fit P – Tätigkeit- Fit P – Arbeit –Fit P – Beruf-Fit P – Organisation – Fit P - Arbeitsmarkt-Fit Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Krankheit im Alter: Doppelbelastung mit Folgeproblemen Badura, B./Kaufhold, G./Lehmann, H./Pfaff, H./Schott, T./Waltz, M.: Leben mit dem Herzinfarkt, Berlin: Springer, 1978, S. 206 Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Beispiel für Folgeprobleme: Berufliche Krankheitsfolgelasten Badura, B./Kaufhold, G./Lehmann, H./Pfaff, H./Schott, T./Waltz, M.: Leben mit dem Herzinfarkt, Berlin: Springer, 1978, S. 220 Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Ausgangsbeispiel: Angst nach Brustkrebs-OP Ich hab da hin gefasst und gewusst: die Brust ist weg und (...) mein erster Gedanke war: um Himmelswillen - mein Mann – wie wird er das aufnehmen? Das war schrecklich - diese Angst, dass er mich nicht mehr - das war das Allerschlimmste - das war fürchterlich!“ Schafft Sabine (1987): Kommunale Sozialpolitik. Psychische und soziale Probleme krebserkrankter Frauen. Saarbrücken: Minerva Publikation München. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Probleme in der Reha Man hatte das Gefühl, vollkommen hilflos und alleingestellt zu sein. Nur ein paar Fachärzte waren da, die sah man gar nicht.“ „Es fehlt ein Mensch, der einen aufrichtet. Wenn man das nicht selber tut - … Man lässt uns furchtbar allein.“ „Diese Kur hat mir nicht geholfen, die hat mir nur geschadet, das war schlimmer dort als im Gefängnis.“ Friedrich, H. et al. (1980): Verläufe von chronischen Krankheiten in Abhängigkeit von Folgeerscheinungen in der psychosozialen Umwelt – am Beispiel von Herzinfarkt und Diabetes. Göttingen: Abteilung für Medizinische Soziologie der Universität Göttingen, S. 404. Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Die zentrale Wahlmöglichkeit: Arme in den Schoß legen oder aktiv werden! Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Bewältigungsstrategien nach Lazarus Problembezogene Bewältigung: Ändern der Situation (= Ansatzpunkt „U“) Emotionsbezogene Bewältigung: Ändern der Wahrnehmung und Bewertung der Situation (= Ansatzpunkt „P“) Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Aktiver Patient: Lebertransplantation-Fall Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Gesundheitskompetenz Item Wie oft fragen Sie jemanden um Hilfe, wenn es darum geht, Unterlagen Ihres Krankenhauses oder Ihres Arztes zu lesen? (1=nie, 2=selten, 3=manchmal, 4=oft, 5=immer) Wie oft haben Sie Schwierigkeiten, sich über Ihren Gesundheitszustand zu informieren, weil die schriftlichen Informationen schwer verständlich sind? (1=nie, 2=selten, 3=manchmal, 4=oft, 5=immer) Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie medizinische Formulare eigenständig ausfüllen müssen? (1=sehr sicher, 2=ziemlich sicher, 3=teils, teils, 4=wenig sicher, 5=überhaupt nicht sicher) Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Proaktivität Proaktivität beschreibt ein kreatives Lösen von Problemen bei dem der alternde Mensch aktiv Einfluss auf seine Umgebung nimmt (Kahana & Kahana, 1996) Solch eine Einflussnahme kann auf zwei Ebenen erfolgen (Kahana & Kahana, 2003): 1. Präventiv 2. Korrektiv Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Pro-Aktivität: Optimierung durch Selektion und Kompensation (SOR-Modell) Selektion = Spezialisierung, d. h. Beschränkung auf Bereiche von hoher Priorität Optimierung = optimale Aufteilung der verfügbaren Ressourcen Kompensation der Verluste aus anderen Bereichen Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Optimierung durch Selektion und Kompensation bei Arthur Rubinstein Rubinstein beschrieb in einem Fernsehinterview, wie er mit altersbedingten Schwächen beim Klavierspielen umgehe: Er habe sein Repertoire reduziert Selektion Er würde die wenigen Stücke häufiger üben Optimierung Er führe vor schnellen Passagen vermehrt ein Ritardando, um die folgende Passage im Kontrast schneller wirken zu lassen Kompensation Baltes, P. B. & Baltes M. M. Optimierung durch Selektion und Kompensation. Ein psychologisches Modell erfolgreichen Alterns. Zeitschrift für Pädagogik, 35, 85-105. Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Die Person-Umwelt-Passung Persönliche Eigenschaften z. B. Erkrankung Körperliche und soziale Präferenzen der Person z. B. Sicherheitsbedürfnis in der Wohnung Körperliche und soziale Eigenschaften der Umwelt z. B. Sicherheit der Wohnung Person-Umwelt-Passung z. B. Installation von Sicherheitstechnik in der Wohnung Zufriedenheit und Wohlbefinden Fazit: Die eigenen Bedürfnisse und die Ausgestaltung der Umwelt müssen in Einklang gebracht werden! Kahana (2003): Person-Environment-Fit, p.438. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Herstellung einer Person-Umwelt-Passung: Betriebliches Gesundheitsmanagement Ergonomische Arbeitsplätze im BMW-Werk Dingolfing Interview mit Jörg Hinsberger (BMW), FAZ 16.05.2013 https://www.press.bmwgroup.com/pressclub/p/de/pressDetail.html?title=alternsgerechte-arbeitspl%C3%A4tze-f%C3%BCr-die-produktion-von-morgenneue-achsgetriebemontage-im-bmw-werk&outputChannelId=7&id=T0097614DE&left_menu_item=node__2378 Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Herstellung einer Person-Umwelt-Passung: „Ambient Assisted Living“ Modellprojekt der TU Kaiserslautern INTELLIGENTE TECHNIK FÜR DAS WOHNEN IM ALTER. http://www.assistedliving.de/aal_kl.html Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Das proaktive Bewältigungsmodell von Kahana Das Modell sagt aus, dass der alternde Mensch fünf Bewältigungsaufgaben zu managen hat: 1. Kognitive Regulierung z. B. Kontrolle von Gedanken (Wiedererinnern traumatischer Ereignisse) 2. Emotionale Regulierung z. B. Kontrolle negativer Gefühle 3. Regulierung sozialer Unterstützung z. B. mit Nachbarn Hilfe für den „Ernstfall“ absprechen 4. Proaktives Krankheitsmanagement z. B. an Behandlungsentscheidungen partizipieren 5. Management der sozialen Rollen z. B. bei anstehender Behandlung Vorkehrungen für Arbeitsstelle treffen Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Präventive und korrektive Pro-Aktivität (Kahana & Kahana, 2003) Präventiv Gesundheitsförderung (health promotion): Sport Vorrausschauendes Planen (planning ahead): Pläne für ein Leben mit Einschränkungen machen Anderen Menschen helfen (helping others): Ehrenamtliche Tätigkeiten, Freunden und Familie helfen Korrektiv Unterstützung arrangieren (marshalling support): Fremde Hilfe Anpassung der Umwelt (environmental modifications): Anpassungen zum Beispiel der häuslichen Gegebenheiten (z. B. Sitz in der Dusche installieren). Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Bewältigung & soziale Unterstützung in einer Brustkrebs-Selbsthilfegruppe A: „Ich war mein Lebtag nicht krank - und dann krieg‘ ich Krebs! Das ist doch - ich frage mich da natürlich, was ich falsch gemacht habe, was ich hätte anders machen sollen?!“ B: „Wer sagt Ihnen denn, dass das was mit Ihnen zu tun hat, Frau A. Es hat uns doch alle getroffen - da fragt man sich doch nicht.“ (Durcheinander reden) A: „Ja, aber - ich glaub‘s ja auch nicht, aber manchmal denk‘ ich eben doch.“ D: „Na ja, ein bisschen möchte ich da Frau A schon recht recht geben. Ich glaube, wir fragen uns ja alle, was man vielleicht selbst“ (ins Wort fallend) B: „ - Aber das kann doch jeden treffen! Und dann, Frau C - ich sehe da auch keinen Sinn drin, jetzt - sich da, da rumzugrübeln, zu fragen. Niemand weiß da was! Wir sind doch jetzt hier, weil wir, weil wir es geschafft haben, - weil wir - oder um uns gegenseitig Mut zu machen, da sollten wir nicht den Fehler machen, uns untereinander noch - und es ist ja auch so, dass wir alle damit leben, oder - wenn ich Sie jetzt so sehe, Frau A: Sie sehen blendend aus, es geht Ihnen gut.“ Schafft, S.: 1987 Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Unterstützung als Hilfe …ehm da ist für mich die Welt so zusammen gebrochen, da hab ich immer gedacht ich will nich mehr, ich will nich mehr, ich (2) ich find da auch nicht mehr alleine heraus [mh] da hab ich ja hier (2) während meines Aufenthaltes im Krankenhaus so eine nette Psychologin gehabt [mhh]. Die hat mich da also ja (2) ¾ herausgeholt aus diesem Loch, in das ich gefallen bin [mhh]. Es war für mich sehr sehr gut, dass ich sie jeden Tag zu meiner Seite hatte und konnte auch darüber sprechen [mhh] ehm ich sach mal mit einem Unbeteiligten der Familie und eeh eh ja ja es war für mich einfach gut gewesen… Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Passiver Patient: Blinde Compliance 57-jährige Patienten der Chirurgie P: “...Also Literatur [gemeint sind Lehrbücher und Fachzeitschriften; Anm. d. d. Verf.] würde ich sagen, die können schreiben, was Sie wollen, entweder mache ich das oder ich mache es nicht. Auf der anderen Seite muß ich immer wieder sagen, es ist ja auch eine Vertrauenssache zu einem Arzt. Wenn ich ein gewisses Vertrauen habe und er mir rät, das so und so zu tun oder dies oder jenes zu machen, dann würde ich sagen, dann mache ich das auch. Da muß ich nicht unbedingt noch irgendwo [nachlesen, Anm. d. d. Verf.] dann hast du nachher vier oder fünf Meinungen und weißt gar nichts mehr...” (Interview 39: 4). Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Gliederung 1. Altwerden als Stressprozess 2. Proaktives Verhalten als präventives und korrigierendes Verhalten 3. Standardisierung der Versorgung hemmt proaktives Verhalten 4. Individualisierung fördert proaktives Verhalten 5. Fazit Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Standardisierung der Versorgung In der Gesundheitsversorgung gibt es wie auch in der Gesellschaft allgemein, einen Trend zur Standardisierung Beispiele: Evidenzbasierte Medizin Leitlinien Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Evidenzbasierte Medizin (EbM) EbM beschreibt die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung (David L. Sackett) Ziel: Die Anwendung unwirksamer oder sogar schädlicher Verfahren zu verhindern Mittel: Systematische Übersichtsarbeiten (systematic reviews) kontrollierter Studien zur Wirksamkeit von Maßnahmen der medizinischen Versorgung Konsequenz: Vereinheitlichung der Versorgung Probleme: Externe Validität klinischer Studien Individuelle Patientenpräferenzen Subgruppen: z. B. Alte Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Evidenzbasierte Leitlinien http://leitlinien.net/ (NEUE Homepage: http://www.awmf.org/leitlinien/aktuelle-leitlinien.html) Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Nachteile evidenzbasierter Leitlinien Konservativ Innovationen (Medikamente, Verfahren) werden benachteiligt Grund: Neue Verfahren können nicht so eingehend untersucht und getestet worden sein wie alte Standardmedizin Für den Patienten: Medizin „von der Stange“ (nicht „maßgeschneidert“) Für den Arzt: rigides Handlungsregime/wenig Handlungs- und Gestaltungsspielraum Probleme bei multimorbiden Patienten Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Passivität aus Überforderung durch zu viele Standardinformationen (Brustzentren) …Aber nochmal auf diesen, auf diesen(.) diesen Stapel, auf diesen dicken Hefter [ja]. Also ich bin ganz ehrlich. Während der Zeit, wo ich hier gelegen hab [mhh], hab ich nich ein Mal dadrin gelesen [mhh]. Ich konnte irgendwann, irgendwann vor lauter Aufklärung [mhh] und vor lauter Informationen [mhh], konnt ich das Wort Krebs nicht mehr hören. … wenn ich zuhause bin, jetzt nehm ich mir Heftchen für Heftchen [mhh] vor. Und schau darein und guck dann nach [mhh] und manchen, sach ich mal, was ich jetzt gelesen hab, hätte mir dann hier im Krankenhaus n bisschen Angst gemacht. Es wird ja immer alles so detailliert in medizinischen Abschnitten erzählt ehm aber das macht einem dann irgendwo eh da ist man einfach als Laie ist man da überfordert einfach …Ja und eh eh da also da war ich dann froh, dass ich das hier nicht gelesen habe. ((Lachen)) Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Standardisierung durch Bildung von Krebszentren und Vorgabe von Mindestmengen Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Standardisierung durch Bildung von Krebszentren und Vorgabe von Mindestmengen Um die Qualifikation der Mediziner zu garantieren, fordert die Gesellschaft unter anderem eine jährliche Mindestanzahl von Ersteingriffen bei Brustkrebs (150 Operationen, 70 Prozent davon brusterhaltend) sowie von mindestens 2000 Chemotherapiezyklen. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=medizin3_05_2004 Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Gliederung 1. Altwerden als Stressprozess 2. Proaktives Verhalten als präventives und korrigierendes Verhalten 3. Standardisierung der Versorgung hemmt proaktives Verhalten 4. Individualisierung fördert proaktives Verhalten 5. Fazit Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Thesen 1. Standardisierung bremst Proaktivität 2. Individualisierung fördert Proaktivität 3. Durch Trend zur Standardisierung: Gefahr für Proaktivität 4. Lösung: Individualisierte Standardisierung Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Lösung: Individualisierung der standardisierten Versorgung Partizipative Entscheidungsfindung (Shared decision making) Case Management Personalisierte Medizin Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Case Management (CM) „Fallmanagement”: Das CM soll den Versorgungsrahmen stärker auf den Patienten und sein individuelles Krankheitsbild abstimmen. Es erfolgt eine Fallführung durch laufende Fallbeobachtung und eine Optimierung des Behandlungsablaufes Wird vor allem im Rahmen des Disease Management bei chronisch Kranken eingesetzt. Ziel: Qualität der Versorgung erhöhen, Kosten senken und Compliance der Patienten verbessern. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Personalisierte Medizin im weiteren Sinne In a broader sense, personalized medicine encompasses “individualized access to the entire course of treatment, thereby optimizing the treatment of the individual” [Moldrup 2009]. Out of this broader perspective, the future of personalized medicine will offer, in addition to pharmacogenomic approaches, individualized indications, individual choices of drugs, individual adaptation of drug administration, individualized dosage adapted through daily experience, individualized information, individual therapeutic monitoring and individual daily reinforcement [Moldrup 2009]. Moldrup C. Beyond personalized medicine. Personalized Medicine 2009; 6: 231-3. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Shared Decision Making Mindestens 2 Teilnehmer (Patient und Arzt) sind beteiligt. Informationsaustausch findet in beide Richtungen statt. Beide sind sich bewusst, dass und welche Wahlmöglichkeiten bezüglich der medizinischen Entscheidung bestehen. Beide Partner bringen ihre Entscheidungskriterien aktiv und gleichberechtigt in den Abwägungs- und Entscheidungsprozess ein. Beide Partner übernehmen für die Entscheidung Verantwortung. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Patiententypen Scheibler et al (2003): Der Patient als Kotherapeut? Eine Typologie des Patientenverhaltens. In: Pfaff et al (Hrsg.). Der Kölner Patientenfragebogen (KPF). Entwicklung und Validierung eines Fragebogens zur Erfassung und Einbindung des Patienten als Kotherapeuten. Sankt Augustin: Asgard-Verlag Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Entscheidungsalternativen bei Brustkrebs AOK: Brusterhaltende Therapie oder Brustentfernung? Eine Entscheidungshilfe für Frauen mit Brustkrebs. http://www.aok.de/assets/media/bundesweit/entscheidungshilfebrust.pdf Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft AOK: Brusterhaltende Therapie oder Brustentfernung? Eine Entscheidungshilfe für Frauen mit Brustkrebs. http://www.aok.de/assets/media/bundesweit/entscheidungshilfebrust.pdf Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät http://www.breastcancersurgery.cancer.ca/opt14.html Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft SDM bei älteren Prostatakrebspatienten Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft SDM: Brusterhaltende Therapie ist nicht immer gewünscht Unter den weißen Frauen, haben 5 % der PatientInnen eine vollständige Entfernung der Brust erhalten, wenn der Arzt alleine entschieden hat. Haben Arzt und Patientin gemeinsam entschieden, waren es 17 %. Hat die Patientin alleine entschieden, waren es 27 %. Katz. S. JCO 2005 Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Krankenversorgung im Alter: Individualisierung oder Unterversorgung? Leitlinien und Standardversorgung werden bei alten PatientInnen weniger konsequent angewandt Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Individualisierung oder Unterversorgung? Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Beispiel für individualisierte Standardisierung: Notfall-Koffer für das Krankenhaus Training für Ältere, dem Arzt die richtigen Fragen zu stellen Fragezettel in Notfall-Koffer Krankheitsvorgeschichte und Krankheitsinformationen im Koffer Wärmedecke in Notfall-Koffer Hausschuhe in Notfall-Koffer Adressen der Angehörigen in Notfall-Koffer Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Gliederung 1. Altwerden als Stressprozess 2. Proaktives Verhalten als präventives und korrigierendes Verhalten 3. Standardisierung der Versorgung hemmt proaktives Verhalten 4. Individualisierung fördert proaktives Verhalten 5. Fazit Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Fazit Altern ist ein Stressprozess Proaktives Verhalten hilft diesen Stress zu bewältigen Die zunehmende Standardisierung hemmt proaktives Verhalten Strategien der Individualisierung, insbesondere Strategien der individualisierten Standardisierung, fördern proaktives Verhalten Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Literatur Badura, B./Kaufhold, G./Lehmann, H./Pfaff, H./Schott, T./Waltz, M.: Leben mit dem Herzinfarkt, Berlin: Springer, 1978 Berkman, L.F. The Role of Social Relations in Health Promotion. In: Psychosomatic Medicine 57: 245-254 (1995) Carl Graf Hoyos, Dieter Frey (Hrsg.): Arbeits- und Organisationspsychologie. Verlag: BeltzPVU, Ein Lehrbuch, 1999 Frey, D., Graf Hoyos, C., Stahlberg, D. (Hrsg.). Angewandte Psychologie – Ein Lehrbuch. München: Psychologie Verlags Union München-Weinheim, 1988 Friedrich, H. et al. (1980): Verläufe von chronischen Krankheiten in Abhängigkeit von Folgeerscheinungen in der psychosozialen Umwelt – am Beispiel von Herzinfarkt und Diabetes. Göttingen: Abteilung für Medizinische Soziologie der Universität Göttingen. Lazarus, R.S. u. Lanier, R.: (1981) Stressbezogene Transaktionen zwischen Person und Umwelt. In: Nitsch, J.R.: Stress, Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen (S. 213-259), Bern: Huber Pearlin, Leonard .: The structure of coping. Journal of health and social behaviour, 1978, Vol. 19: 2-21 Pearlin, Leonard .: The Stress process. Journal of health and social behaviour 1981, Vol. 22: 337-356 Pearlin, Leonard .: The sociological Study of Stress. Journal of health and social behaviour. 1989, Vol. 30: 241-256 Pearlin, Leonard (1989).: Zum sozialepidemiologiaschen Verständnis von Public Health: der Stressprozess. In: Forum Wissenschaft und Forschung, S. 159-172. Richter, G.: Psychische Belastung und Beanspruchung - Stress. Psychische Ermüdung, Monotonie, psychische Sättigung - . Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW 2000, 3. überarb. Auflage (Schriftenreihe der BAuA, Fa 36) Schafft Sabine (1987): Kommunale Sozialpolitik. Psychische und soziale Probleme krebserkrankter Frauen. Saarbrücken: Minerva Publikation München. Strauß, B. et al. (Hrsg.): Lehrbuch Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Hogrefe, 2004 Wilker, F.-W., Bischoff, C., Novak, P. (Hrsg.): Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. 2. Aufl. München u.a.: Urban und Schwarzenberg, 1994 http://www.herzstiftung.de Bundesministerium für Arbeit und Soziales: http://www.einfach-teilhaben.de/DE/StdS/Ausb_Arbeit/ArbPl_sichern/Wiedereingliedern/wiedereingliedern_node.html Kahana (2003): Person, Environment and Person- Environment-Fit as influences on residential satisfaction of elders. In: Environment and Behavior . 2003; 35; 434 Kahana (2003): Patient proactivity enhancing doctor–patient–family communicationin cancer prevention and care among the aged. Patient Education and councelling. 50,2003. S. 67-73. Kahana (2008): Stress in later Life. In: Encyclopedia of the Life Course and Human Development, 2008, p. 396- 406. Kahana (2009): Care-Getting: A Conceptual Model of Marshalling Support Near the End of Life. In: Current Aging Science, 2009, 3, 71-78. Kahana (2010): Social Dimensions of Late Life Disability, Abstract, p. 1- 18. Kahana (2010): Stress and Agentic Ageing: A Targeted Adaptation Model Focused on Cancer. In: The Sage Handbook of Gerontology, 1, 21, 2010, p. 280- 293. Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Medizinische Fakultät Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! IMVR Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln www.imvr.de
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