Wie weiter - Sozialismus

Politische Rochaden in »atemberaubendem Tempo«?
Thesen zur Strategiediskussion der LINKEN1
Die wirtschaftliche und politische Elite sonnt sich in einem spektakulären ökonomischen
Aufschwungprozess nach der großen und letztlich immer noch unbewältigten Wirtschafts- und
Finanzkrise. Nie zuvor ist die führende politische Rolle der Bundesrepublik in Europa so offen
zutage getreten – und zugleich so unangenehm aufgestoßen. Selbst der massive Kurswechsel
in der Energie- und Atompolitik beschert dem bürgerlichen Lager keine gravierenden Brüche
oder gar eine folgenreiche Zerreißprobe.
Gleichwohl lassen sich auf dem politischen Terrain keine klaren Konturen feststellen. Der
Parteienforscher Franz Walter fasst zu Recht zusammen: »Die Grünen triumphieren, die
schwarz-gelbe Koalition kämpft gegen den Abstieg – und was machen eigentlich die
Sozialdemokraten? Die Genossen gehen in den öffentlichen Debatten unter, es fehlen Ideen,
Konzepte, Visionen. Die Liberalen werden verspottet. Den Christdemokraten sind alle
politischen Glaubensbekenntnisse der früheren Jahre verlorengegangen. Die Linke liegt wie eh
und je im inneren Clinch. Die Grünen verbürgerlichen im atemberaubenden Tempo. Eigentlich
müsste der Raum für eine sozialdemokratische Regeneration riesig sein. Aber die
Sozialdemokraten dümpeln nach wie vor kraftlos vor sich hin. Europaweit im Übrigen.«2
Diese Beschreibung trifft unseres Erachtens die augenblickliche politische Landschaft und die
Kräfteverhältnisse. Uns interessiert vor allem die weitgehende Abwesenheit und
Selbstabschottung der Linken. Deren Marginalität kann nicht auf das Führungspersonal oder
die vermeintlich üblichen internen Streitereien zurückgeführt werden.
Wenn der Sozialdemokratie – im Übrigen europaweit – Ideen und strategische Konzepte
fehlen, dann gilt es für die Linke jenseits der SPD erst recht. Immerhin: Während sie in vielen
europäischen Nachbarländern als politisch-organisatorisch Kraft schon seit längerem stark
marginalisiert ist, hat DIE LINKE in Deutschland erst in den letzten Monaten wachsende
Schwierigkeiten, sich politisch-strategisch aufzustellen.
Es ist weithin unstrittig: Angesichts der massiven Strukturprobleme in der Ökonomie wie allen
anderen gesellschaftlichen Bereichen (Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit) ist die
Orientierungslosigkeit auch der Linken offenkundig. »Natürlich erschallt In einer solchen
Situation europaweit der Ruf nach einer ›neuen Vision‚, nach einem ›nouveau modele‹, nach
einer neuen ›route map‹. Alle ahnen, dass die früheren Parolen nicht mehr ausreichen, dass in
der Tat etwas Neues kommen muss. Aber niemand weiß so recht: was? Besonders deutlich
jedenfalls sind die Umrisse des viel reklamierten Projekts einer demokratischen Linken in
Europa nicht. Losungen wie ›präventiver Staat‹, ›ökologischer Sozialismus‹, ›vorsorgender
Sozialstaat‹ schwirren durch die Debatten und Beiträge, bleiben aber blass und haben
offenkundig bislang weder Mitglieder noch Wähler elektrisiert.«3
1
Joachim Bischoff, Richard Detje, Hasko Hüning, Christoph Lieber, Bernhard Müller, Björn Radke, Gerd Siebecke,
Bernhard Sander
2
Franz Walter, SPD: Die unsichtbare Partei, Spiegel Online vom 29.6.2011. Aus unserer Sicht haben die politischen
Akteure immer noch eine bestimmende Rolle – auch wenn wir den überall zu beobachtenden immensen
Vertrauensverlust ins politische System in Rechnung stellen. Es ist gegenwärtig nicht erkennbar, dass die
zivilgesellschaftlichen Akteure oder Bewegungen, die zweifelsohne an Bedeutung gewonnen haben, diese Rolle
übernehmen könnten.
3
Ebd.
Thesen zur Strategiediskussion der LINKEN | Seite 2
1. Umgruppierung im bürgerlichen Lager
»Gestärkt« sollte das Land nach den Worten der Bundeskanzlerin aus der Großen Krise
hervorgehen. Und Angela Merkel zufolge ist es das auch. Denn wer hat schon im Herbst 2009,
als CDU/CSU und FDP die Regierungsgeschäfte übernahmen, damit gerechnet, dass sich
Deutschland nur knapp zwei Jahre nach dem Höhepunkt einer historischen Finanz- und
Wirtschaftskrise in einem rasanten ökonomischen Aufschwung befindet? Nur: Die WählerInnen
wollen dem partout nicht folgen – weder in Deutschland noch europaweit. Das europäische
bürgerlich-konservativ-liberale Lager4 ist weitgehend derangiert.
Schon das Entré von Schwarz-Gelb bei den Bundestagswahlen 2009 war dürftig. Gerade noch
ein Drittel der Wahlberechtigten votierten für das bürgerliche Bündnis, 300.000 weniger als
2005, als es nur zu einer »großen« Koalition reichte. Doch seitdem ist der Wahlsieger 2009, die
FDP, nahezu pulverisiert und auch CDU und CSU verlieren an Wählerstimmen und Mitgliedern.
Die Schwäche des politisch organisierten Konservatismus im politischen Wettbewerb ist längst
in Führungsverlust umgeschlagen.
Der konservative Publizist Warnfried Dettling resümiert: »Die Union steht … ohne realistische
Machtperspektive da. All das führt jedoch zu keiner Besinnung in der Partei, sondern die
Parteivorsitzende versucht mit oberflächlichen Floskeln über die Tiefe der Krise hinwegzureden.
Eine Analyse der Wahlniederlagen in Serie und ihrer Gründe findet dagegen nicht statt.
Vorläufig ›löst‹ die CDU ihre Probleme noch mit Angela Merkels Devise ›Kopf in den Sand‹. Das
kann jedoch nicht mehr lange gut gehen. Entweder kommt 2013 ein Ende mit Schrecken, wenn
die CDU selbst als stärkste Partei nur noch zuschauen kann, wie SPD und Grüne die
Bundesregierung bilden. Oder beide scheitern knapp, und es kommt zu einer weiteren ›großen‹
Koalition; auch in diesem Fall ist indes höchst zweifelhaft, ob der CDU unter Merkel noch Leben
eingehaucht werden kann.«5
Die Aufschwungparolen verfangen nicht. Darauf, dass die Krise nachhaltig überwunden sei,
geben – mit Blick auf Europa – selbst Optimisten keine Wetten ab. Wie Mitte des letzten
Jahrzehnts »geht der Aufschwung an den Menschen vorbei«. Zwar sinken die Reallöhne nicht
mehr in Deutschland, aber die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums geht – wie der
jüngste Weltvermögensbericht ausweist – beschleunigt vonstatten. Das »German Miracle«, die
arbeitsmarktpolitische Bewältigung der Großen Krise, zeigt seinen Preis: weitere Ausweitung
der prekären Arbeitsverhältnisse und nochmals verdichtete, intensivierte Arbeitsprozesse bei
wieder verlängerten Arbeitszeiten. Und die Perspektive für das Gemeinwesen kommt geradezu
schnörkellos daher: Sozialstaatsabbau, Leistungsverschlechterungen und Privatisierung in
Gestalt einer Schuldenbremse.
Das geht auch an bürgerlichen WählerInnen nicht vorbei. Peter Radunski, langjähriger
Wahlkampfstrategie der CDU, benennt den harten Kern der politischen Orientierungslosigkeit
der Union: »Die CDU hat sich immer als Partei der bürgerlichen Mittelschichten verstanden, hat
aber zu lange übersehen, wie die Grünen gerade hier erfolgreich neue Wähler gewonnen
haben. Bürgerliche Mittelschicht ist gleich CDU – die Gleichung geht nicht mehr auf… Ohne die
Mittelschichten wird es schwer für die CDU sein, eine Volkspartei zu bleiben.«6
In den 1980er Jahren gehörten in Westdeutschland zwei Drittel der Bürger zur Mittelschicht.
64% betrug der Anteil im Jahr 2000, heute sind es laut DIW nicht mehr als 60%. Die Oberschicht
ist gewachsen – noch viel mehr aber die Unterschicht. Laut »Sozialbericht« von 2008 hat die
4
Dieser Erosionsprozess der traditionellen bürgerlichen Parteien führt zu einer breiten Ausfächerung politischer
Optionen , wie eine Erneuerung und damit die Rückgewinnung der Hegemoniefähigkeit dieses Lagers angegangen
werden sollte. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden.
5
Warnfried Dettling: Angela Merkel, Fähnchen im Wind, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7-2011
6
Die tagespost vom 29.6.2011
Thesen zur Strategiediskussion der LINKEN | Seite 3
Einkommensungleichheit Ausmaße angenommen wie selten in den vergangenen Jahrzehnten.
Immer mehr teilt sich die Gesellschaft auf in unten und oben. Dazwischen wird es dünner.
Das DIW spricht von »Abwärtsmobilität«. In einer Studie über die schrumpfende Mittelschicht
hat das Institut festgestellt: Wer heute unten ist, bleibt auch länger unten als früher. Das macht
Angst. »Gerade bei den mittleren Schichten, deren Status sich auf Einkommen und nicht auf
Besitz gründet, besteht eine große Sensibilität für Entwicklungen, die diesen Status bedrohen«.
Es geht nicht mehr um den Aufstieg, sondern um die Angst vor dem Abstieg.
Die Auszehrung der gesellschaftlichen Mitte setzt den politischer Konservatismus von unten
und oben gleichermaßen unter Druck. Von unten durch einen Rechtspopulismus, der einen
fulminanten Aufstieg in Europa hingelegt hat. In einer wachsenden Zahl von Staaten ist das
konservative Lager auf deren Unterstützung angewiesen, um regieren zu können. In Frankreich
und Österreich droht der Rechtspopulismus 2012 und 2013 gar zur stärksten politischen Kraft
zu werden. Eine programmatische Trias verspricht gegenwärtig deren Erfolg:
Ausländerfeindlichkeit mit islamophobischer Zuspitzung, ein Solidaritätsverständnis, das auf
dem Sozialstaat aufbaut, diesen aber in ein Instrument der Exklusion – gegen MigrantInnen,
»Leistungsverweigerer« etc. – verwandelt, und Europapessimismus bis zur Europafeindlichkeit.
Von oben wird dieser Aufstand des Ressentiments gestützt durch eine »rohe Bürgerlichkeit«,
bei der das »klassische Leistungsprinzip zunehmend durch das Prinzip des Erfolgs ersetzt«,
strikt nach »Gewinnern« und »Verlierern« sortiert und eine Politik verfolgt wird, die »dazu
dient, eine zunehmend dichotome Sozialstruktur zu zementieren und zu legitimieren«.7 Beide
Entwicklungen haben auch im Deutschland Masseneinfluss, aber noch keinen distinkten
politisch-organisatorischen Ausdruck gefunden.
2. Grüne Aufstiegskultur
Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter konstatiert einen weitreichenden Wandel des
bürgerlichen politischen Lagers. Sein Fazit: »Im Jahr 2011 ist keine Partei bürgerlicher als die
Grünen«.8 Die Grünen repräsentieren jene Teile der modernisierten gesellschaftlichen Mitte,
die sozialen und kulturellen Aufstieg erfahren haben und auch im Ausgang der Großen Krise die
stabilen Positionen der Arbeitsgesellschaft besetzen. Jemand der dies verkörpert ist der grüne
Co-Parteivorsitzende Cem Özdemir: »Wenn ich mir Schwarz-Gelb jetzt ansehe, dann brauchen
wir schnellstens wieder eine Regierung, die bürgerlichen Werten verpflichtet ist. Eine, die
anständig arbeitet und ihren Job ernst nimmt. Bei einigen Kabinettsmitgliedern stellt sich
offensichtlich die Frage nach der Qualifikation. Die kriegen ja nicht einmal fehlerfreie Gesetze
hin.« Die Zielvorstellung der grünen Politik sprengt den kapitalistischen Rahmen nicht. »Wir
regieren zurzeit in fünf Bundesländern, und in keinem dieser Länder ist die Wirtschaft
abgewandert und beklagen sich die Kinder, dass sie in der Schule mit grüner Ideologie
malträtiert werden … Wir kommen aus einer antiautoritären Tradition und setzen vor allem auf
Anreizsysteme für ökologisches Wirtschaften und Leben. Das ist marktwirtschaftlich
vollkommen okay… Das Einzige, was es zu Erhards Zeiten nicht gab, war der ökologische
Gedanke, den müssen wir jetzt in sein Konzept der Marktwirtschaft einweben. Wir müssen
unser Wirtschaftsmodell so verändern, dass sich die wahren Kosten von Produkten und ihrer
Herstellung auch wirklich im Preis widerspiegelt. Bislang werden diese Kosten oft ausgelagert
7
Eva Gross/Julia Gundlach/Wilhelm Heitmeyer: Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ein Nährboden für
Menschenfeindlichkeit in oberen Status- und Einkommensgruppen, in: W. Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände.
Folge 9. Berlin 2010, S. 140.
8
Franz Walter: Schwarze Angst vor grüner Gefahr, in: Frankfurter Rundschau vom 29.6.2011.
Thesen zur Strategiediskussion der LINKEN | Seite 4
und von der Allgemeinheit getragen. So rechnet sich zum Beispiel Atomkraft nur, wenn der
Staat für die Risiken haftet«.9
Es ist zu kurz gedacht, den massiven Aufstieg der Grünen nur als Reaktion größerer Teil der
Wahlbevölkerung auf den atomaren Gau in Japan zu werten. »Der Aufstieg der Grünen ist nach
Ergebnissen der Längsschnittstudie SOEP zusammengenommen alles andere als ein
kurzfristiges Phänomen, sondern vielmehr eine langfristige sowie nachhaltige Positionierung im
(Bildungs)Bürgertum.«10 Die Grünen sind – massive Zwischenkrisen eingeschlossen – seit zwei
Jahrzehnten dabei, sich im bürgerlichen Lager eine feste WählerInnenbasis zu erarbeiten. »Der
Erfolg von Bündnis 90/Die Grünen beruht in der Tat auf langfristigen Entwicklungen innerhalb
deren Anhängerschaft. Die Grünen finden seit den 80er Jahren bis heute ungebrochen
überproportionale Unterstützung bei jungen Menschen. Der Partei gelingt es zudem, diese
Anhänger im späteren Lebenslauf auch dauerhaft an sich zu binden. Ein weiteres Ergebnis: Ein
großer Teil der ehemals jugendlichen grünen Anhänger ist inzwischen insbesondere unter
Besserverdienenden, Beamten, Angestellten und Selbstständigen zu finden. Bündnis 90/Die
Grünen machen somit hinsichtlich der Interessenvertretung einer bürgerlichen Klientel
insbesondere der Union und der FDP Konkurrenz.«11 Die Grünen rekrutieren ihre Anhänger fast
ausschließlich aus jenen Teilen der Bevölkerung, die einen Abiturabschluss aufweisen. Hier
haben sie bei den letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg 34% und in Bremen 32% der
Stimmen erhalten – drei bzw. 13 Prozentpunkte mehr als die CDU. Bei jenen, die die Volks- oder
Hauptschule absolviert haben, finden sie hingegen kaum Unterstützung.
Vor drei Jahrzehnten waren die Grünen eine Partei der gebildeten, aber eher schlecht
verdienenden, ökologisch orientierten Jungen. Im Verlauf ihrer Entwicklung ist es ihnen
gelungen, sowohl die frühen Unterstützer dauerhaft an die Partei zu binden als auch nach wie
vor überdurchschnittlich erfolgreich bei Erst- und Jungwählern zu sein. Heute sind die Grünen
die Partei der umweltbewussten, gut gebildeten, gut verdienenden Beamten und
Selbstständigen mittleren Alters in Großstädten. Sie finden »die höchste Unterstützung bei
einem gutsituierten Bildungsbürgertum. Gerade auch der Erfolg bei Selbstständigen und
Freiberuflern sowie bei Personen mit überdurchschnittlichen Einkommen untergräbt den
bürgerlichen Alleinvertretungsanspruch von Union und FDP für diese Klientel.«12
Dagegen unterstützen Arbeitslose und Geringverdiener die Grünen kaum. Die Welt der
prekären Arbeit, der Marginalisierten und Entkoppelten ist ihre nicht. Entsprechend wenig
Rücksicht muss grüne Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik auf die expandierenden
»Zonen der Prekarität« (Robert Castel) nehmen. »Nirgendwo sonst fällt in den vergangenen
Jahren das Veto gegen einen weiteren Ausbau sozialer Rechte für die unteren Schichten so
entschieden aus wie bei den Postmateriellen. Auch der früher betont hochgehaltene
Unterschied im Habitus zwischen Jungbürgern konservativer Fasson und Jungbürgern anfangs
alternativer Manier hat sich rundum abgeschliffen«.13 Das grüne Bürgertum sucht sich mit der
wachsenden sozialen Spaltung zu arrangieren und erhofft sich im ökologischen Umbau der
Industriegesellschaft eine neue lang anhaltende Wachstums- und Akkumulationsperspektive.
Die Grünen repräsentieren die »urbane Beletage« (Franz Walter) der Berliner Republik.
9
Welt online 3.7.2011
Martin Kroh/Jürgen Schupp: Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei? In: DIW-Wochenbericht
12/2011
11
Ebd.
12
Ebd.
13
Franz Walter, a.a.O.
10
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3. Sozialdemokratische »Abwärtsmobilität«
Der Verlust der strukturellen Mehrheitsfähigkeit von CDU/CSU und die Aufstiegskultur der
Grünen sind Ausdruck andauernder, nicht abgeschlossener Transformationsprozesse im
Parteiensystem. Sie betreffen auch und gerade die Sozialdemokratie, die im Schlagschatten der
Veränderungen des bürgerlichen Lagers verbleibt. Weshalb?
Sozialen Aufstieg für alle zu ermöglichen und die auseinanderstrebenden Kräfte der
Gesellschaft neu zusammen zu führen – das wird immer wieder als die zentrale Aufgabe der
Sozialdemokratie definiert. Doch mit jedem neuen Jahr wird das Pfeifen im düsteren Wald
lauter. Denn tatsächlich hat sich die sozialdemokratische »Aufstiegskultur der gesellschaftliche
Mitte« weit von der Welt der einst durch sie organisierten Lohnarbeit entfernt. Die Verbindung
der industriellen Lohnarbeit, Gewerkschaften und Sozialdemokratie war die politische
Konstante des Rheinischen Kapitalismus und darüber hinaus in nahezu allen hochentwickelten
kapitalistischen Ländern.
Seit 1998, als die SPD gemeinsam mit den Grünen nach 16 Jahren christdemokratischer
Herrschaft die Regierungsgeschäfte in Berlin übernahmen, hat sie bei den ArbeiterwählerInnen
15% verloren. Mit 8% sind ArbeiterInnen zu einer Minorität unter den verbliebenen SPDMitgliedern geworden. Lange Jahre ist das von führenden Repräsentanten der Partei auch nicht
beklagt worden. Umgekehrt: Man wolle nicht der Betriebsrat der Gesellschaft sein, nicht der
politische Ortsverein der Arbeiterwohlfahrt, hörte man sozialdemokratische »Modernisierer«
tönen. Ihre Formeln über den Wandel der Dienstleistungs-, Erlebnis- oder Wissensgesellschaft
hatten unter ihresgleichen eine derart große Suggestionskraft, dass sie das Entscheidende
übersahen: »In früheren Jahrzehnten waren sich die Sozialdemokraten ihres gesellschaftlichen
Ortes, ihrer sozialen Ursprünge und materiellen Interessen sicher. Diese Gewissheit und
Übereinstimmung von Ort, Subjekt und Ziel existiert nicht mehr.«14
Dabei war die deutsche Sozialdemokratie einst jene Partei, die den Übergang von einer
»Massenintegrationspartei, die in einer Zeit schärferer Klassenunterschiede und deutlich
erkennbarer Konfessionsstrukturen entstanden war, zu einer Allerweltspartei (catch-all party),
zu einer echten Volkspartei«15 gleichsam prototypisch vollzogen hatte. Und als Volkspartei
verstand sie sich nicht nur als Wahl-, sondern auch als Mitglieder- und Programmpartei. Die
Kapitalmacht des konservativen Lagers galt es durch das Engagement der Aktivisten in den
Basisgliederungen auszugleichen, für das es Sinnstiftung, Orientierung und Perspektive – kurz:
Programmverständigung – bedurfte. Zwar hatte die europäische Sozialdemokratie anfangs
Mühe, sich im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer revitalisierten
Kapitalakkumulation programmatisch-politisch zu arrangieren. Aber spätestens seit Mitte der
1950er Jahre konnte sie sich mehrheitlich vorstellen, dass die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung weltweit in völlig neuen Bahnen verlaufen werde. Sie erlebte eine vergleichsweise
lange Phase der Prosperität, die ohne durchgreifende Krisenerscheinungen für den Alltag der
Lohnabhängigen ablief. Sie akzeptierte auf ihren Parteitagen – Wien 1958, Godesberg 1959 und
Stockholm 1960 – die neue Wirklichkeit eines marktförmig dynamisierten Kapitalismus, dem
mit der programmatischen Konzeption des »organisierten Kapitalismus« der späten Weimarer
Sozialdemokratie nicht beizukommen war.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Entwicklung der europäischen
Sozialdemokratie nach der Absage wirtschaftsdemokratischer Transformationspolitik in den
frühen 1950er Jahren durch zwei weitere Zäsuren geprägt. Die letzte, die
finanzmarktkapitalistische Ausrichtung der Partei, geht auf jene Weichenstellungen zurück, die
14
Franz Walter: Das Versagen der Brandt-Erben, Spiegel Online 28.1.2009.
Otto Kirchheimer: Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: ders: Beiträge zur allgemeinen
Parteienlehre, Darmstadt 1969, S. 352.
15
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das Ende des »Goldenen Zeitalters« in den 1970er Jahren besiegelten. Damals – 1975, nach
einer den bürgerlichen wie sozialdemokratischen Kosmos erschütternden Weltwirtschaftskrise
– konstatierte Bruno Kreisky, der Vorsitzende und zugleich strategische Kopf der
österreichischen Sozialdemokratie: »Solange alles glatt lief, hat man für diese kapitalistische
Ordnung den Ausdruck soziale Marktwirtschaft gefunden, und die sozialdemokratischen
Parteien hatten es überaus eilig, sich auch unter dieses Dach der sozialen Marktwirtschaft zu
flüchten und zu sagen: Wir wollen eigentlich das gleiche, nur besser … so sage ich, wenn wir die
Wirtschaftspolitik von Bankdirektoren machen lassen, kann man nicht glaubwürdig sein! Wir
müssen, glaube ich, jetzt, da die Leute an der Überlegenheit unserer Wirtschaftsordnung zu
zweifeln beginnen, eine Antwort geben.«16
Mitte der 1970er Jahre zeichnete sich die eigentliche Herausforderung ab. Und gemeinsam mit
Willy Brandt und dem Vorsitzenden der schwedischen Sozialdemokratie, Olof Palme,
formulierte er die Grundsatzfrage: »Es mag sein, das es sich bei der gegenwärtigen
wirtschaftlichen Entwicklung in den demokratischen Industriestaaten um eine mehr oder
weniger lang dauernde, mehr oder weniger tief greifende Rezession handelt. Man kann aber,
ebenso wie manche Nationalökonomen, Wirtschaftsjournalisten und Bankiers es auch tun, von
einer Krise reden, die ähnlich schwer sein wird wie Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre…
Was tun wir Sozialdemokraten für den Fall, dass die weitere Entwicklung den Pessimisten Recht
gibt. Gelingt es nämlich der europäischen Sozialdemokratie nicht, darauf eine Antwort zu
geben, brauchen wir uns über vieles andere den Kopf nicht zu zerbrechen.«17 Die vor 36 Jahren
gestellte Frage ist – das zeigt die Entwicklung der Großen Krise – bis heute unbeantwortet
geblieben. Nun hat eine finanzmarktgetriebene Akkumulation die kapitalistische
Wirtschaftsordnung in eine tiefe Strukturkrise hineingetrieben – und die Sozialdemokratie
gehört zu den ProtagonistInnen dieses Niedergangs.
Die Krise der europäischen Sozialdemokratie ist in den letzten Wahlen krass wie selten in
Erscheinung getreten. Sie gründet in einer in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend
apologetischen Haltung gegenüber einem sich schrittweise aus dichotomischen
Verteilungsstrukturen herausentwickelten, politisch beförderten finanzmarktgetriebenen
Akkumulationsregime. Die Sozialdemokratie hat sich »der Globalisierung unterworfen oder sie
sogar hymnisch besungen, aber wenn der Unternehmer niedrige Löhne bezahlen kann oder
Illegalisierte schwarz bezahlt, ergeben sich Bedingungen für die Entstehung einer endlos
wachsenden ›Reservearmee‹, durch die die Löhne weiter sinken – marxistische Kategorien, die
durch den Sozialsaat und die Kämpfe von Generationen obsolet geworden waren, erhalten
neue Aktualität.«18
Es war die Politik der Sozialdemokratie in Europa, die zu einer Zersetzung der Arbeits- und
Lebensverhältnisse geführt hat. Diese Politik hatte sich nicht einfach unter das Dach der
»Marktwirtschaft« gestellt, sondern mit den als »alternativlos« verkündeten Sozialreformen
einem finanzmarktgetriebenes Akkumulationsregime überhaupt erst zum Durchbruch
verholfen. Die Sozialdemokratie hat damit selbst die Axt an ihre soziale Basis und ihre
Mehrheitsfähigkeit gelegt:

16
In Großbritannien war am 6. Mai 2010 die längste Regierungszeit Labours beendet; nur
noch 35% der Arbeiter waren zur Wahl gegangen; von 407.000 (1997) war die Zahl der
Mitglieder bereits vor der Großen Krise auf 177.000 abgeschmolzen. Seitdem ist in der
Partei von »squeezed middle« die Rede: den absteigenden Formationen der so genannten
Mittelklasse. Doch was die Formel »beyond New Labour« eigentlich bedeutet, ist unklar.
Willy Brandt/Bruno Kreisky/Olof Palme: Brief und Gespräche, Frankfurt a.M. 1975, S. 121.
Ebd., S. 111.
18
Flores d ´Arcais, in manifesto vom 28.10.2009 (veröffenticht im AK 544, S. 33)
17
Thesen zur Strategiediskussion der LINKEN | Seite 7

Die mediterrane Sozialdemokratie – in den Ländern des rudimentären, durch Familienbande
gestützten, seit 2009 in der Großen Krise in der Verschuldung gleichsam versackten
Sozialstaats – wird gegenwärtig davongejagt. Beispiel Spanien: Dort war ihr Aufstieg nahezu
in Absetzung zur Blair-Schröder-Strategie erfolgt. »Nueva Vía« - der neue Weg – lautete das
Programm eines »zivilgesellschaftlichen Republikanismus«, der die Sozialdemokratie öffnen
und neu verorten sollte. Die lange geleugnete Krise mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit
auf nahezu die Hälfte der Jugendlichen und die austeritätspolitische Neuformierung hat die
PSOE politisch erledigt.

Die schwedische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) hat 2010 das schlechteste
Wahlergebnis seit 1914 eingefahren. Zwar sind 30,7% im europäischen Verbund nahezu
Spitzenwerte, aber auch diese liegen weit von einer strukturellen Mehrheitsfähigkeit
entfernt. Während die schwedischen Vertreter eines »soft conservatism« sich nie einem
strikten Neoliberalismus unterworfen hatten, hatte sich die Sozialdemokratie von einem
Programm, durch einen erneuerten Wohlfahrtsstaat Brücken zwischen den verschiedenen
sozialen Schichten der Lohnarbeitsgesellschaft zu bauen, verabschiedet. Ähnlich wie in
Dänemark ist politische Subalternität die Folge.
Neuerfindung der Sozialdemokratie heißt, dass in der schwersten Krise seit acht Jahrzehnten
endlich die Antwort auf die schon in den 1970er Jahren aufgeworfene Frage gegeben werden
muss. Und Re-Sozialdemokratisierung kann nur bedeuten: Wer aus der globalen Krise des
Finanzmarktkapitalismus heraus und eine solche Krise künftig verhindern will, muss über den
Umbau, wenn nicht eine Transformation des modernen Kapitalismus sprechen.
Eine andere Politik wäre möglich. Aber mit jeder Drehung des aktuellen Krisenprozesses
verschlechtern sich die Rahmenbedingungen. Und: Das nur schwer zu korrigierende NegativErbe besteht in der in den letzten drei Jahrzehnten aufgehäuften Unglaubwürdigkeit. Die SPD
ist wegen ihrer Apologetik gegenüber der Politik der ökonomischen Eliten tief verstrickt in die
Zerstörung der geschichtlichen Errungenschaft des Normalarbeitsverhältnisses und des damit
begründeten Systems kollektiver sozialer Sicherheit.
Für den Zusammenhang von Transformation der SPD und Kritik durch eine linkssozialistische
Partei gilt seit langem das Paradoxon: »Die SPD steht derzeit auf der anderen Seite, doch ohne
die SPD ist keine Wende möglich«. Für linke Parteiformationen jenseits der Sozialdemokratie
gilt daher, dass weitergehende Schritte in der »sozialen Emanzipation der Arbeit« ohne die
Sozialdemokratie nicht zu haben sind.
Im Wesentlichen drei Eigenschaften qualifizierten die »soziale Demokratie« zu einem Hebel der
Veränderung des Kapitalismus:

Den Eintritt der Massen in die Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts griff die
Sozialdemokratie durch eine »Vergesellschaftung der Politik« (positiver Bezug auf die
Gewerkschaften bis hin zu den sozialstaatlichen Strukturen) auf und beförderte damit die
»Partizipationsrevolution« der Lohnabhängigen im Fordismus.

Es gelang eine Synthese verschiedener sozialer Schichten zentriert um die Lohnarbeit.

Es gab programmatische Bemühungen zu einer Zivilisierung des Kapitalismus.
Auf Grund der Affinität zu bürgerlicher Hegemonie und der Subalternität marxistischsozialistischer innerparteilicher Strömungen musste diese potenzielle Qualität der
Sozialdemokratie immer wieder durch politischen Druck von linkssozialistischen Positionen
außerhalb der SPD eingefordert werden, zumal sich die kommunistische Partei im Zuge der
Krise des Eurokommunismus nicht modernisierte. Für alle drei Eigenschaften muss aber seit
Beginn der 1980er Jahre ein mehr oder weniger kontinuierlicher Deformationsprozess
konstatiert werden:
Thesen zur Strategiediskussion der LINKEN | Seite 8

Die SPD transformierte sich europaweit als eine Kraft, die eine Zerstörung des Werts der
Ware Arbeitskraft mitmacht.

Sozialstrukturell wurde die soziale Spaltung, damit die These von der Zwei-DrittelGesellschaft akzeptiert; das führte schließlich zur Abkehr der SPD von der »Welt der Arbeit«
hin zu den Schichten mit einer Tendenz zur Vermögensbildung.

Die »aufklärerische Grundtendenz« linker Politik ging in der SPD in den 1980er Jahren
angesichts der Attraktivität grün-romantischer Utopien und Wachstumskritik und in den
1990er Jahren durch neoliberale Einflüsse verloren.
Aus den offenkundigen Krisensymptomen der Sozialdemokratie kann nicht geschlussfolgert
werden, dass die SPD als neoliberal abzuschreiben ist. Sie wird in nächster Zeit einem
dreifachen Druck ausgesetzt sein, der zu innerparteilichen Zerreißproben führen und die SPD
gegebenenfalls qualvoll zur Besinnung und weiteren Positionsänderungen führen kann: In der
großen Koalition hatte auch das bürgerliche Lager eingesehen, dass es die Welt der Arbeit aus
Inklusionserfordernissen nicht komplett zugunsten einer Ownership-Society preisgeben kann.
Die Grünen wiederum machen mit ihrer Revitalisierung eines Öko-Kapitalismus der SPD auf
dem Feld von Innovation und sozial-ökologischem Umbau Konkurrenz. Und in ihren
eingefahrenen Reflexen auf die Linkspartei muss die SPD wiederum vor Rückfällen in
»Weimarer Zustände« gewarnt werden. Die Zersplitterung und Konzeptionslosigkeit der
europäischen »Linken der Linken« erleichtern allerdings solche reflexhaften Ausgrenzungen
und behindern den Aufbau von Druck in Richtung einer Erneuerung der Sozialdemokratie.
Die skizzierten Entwicklungslinien lassen für die nächste Bundestagswahl – spätestens 2013 –
einen Regierungswechsel zu Rot-Grün erwarten. Ein solches Bündnis wird ebenso wie eine
denkbare Große Koalition den Transformationsprozess nicht gestalten wollen. Sicherlich würde
ein rot-grünes Bündnis – anders als ein voraussichtliches »Weiter so« einer Großen Koalition –
auf eine Forcierung der energiepolitischen Wende und einige neue sozialpolitische Akzente
hinauslaufen. Eine Lösung der grundlegenden gesellschaftlichen Probleme und damit eine
Perspektive des gesellschaftlichen Umbaus ist aber von beiden denkbaren Konstellationen nicht
zu erwarten. DIE LINKE hat damit die Aufgabe, durch die Entwicklung von
Übergangsforderungen und einer mittelfristigen Perspektive die Transformation der
Gesellschaft voranzubringen und darf ihre Rolle nicht auf die Radikalisierung des sozialökologischen Umbaus beschränken.
4. DIE LINKE vor strategischen Herausforderungen
Alle Parteien des Bürgerblocks, aber auch die politische Linke stehen vor dem Fakt bröckelnden
Rückhalts in der Wahlbevölkerung, personell zugespitzter Kritik an den Parteiführungen und
Rückzug von Mitgliedern. In vielen Ländern Europas ist die Linke zersplittert und an den Rand
gedrängt. Die deutsche Linke stellt in ihrer Gesamtheit demgegenüber noch eine Ausnahme
dar. Aber auch hier ist eine Schwäche der strategischen Diskussion und Positionierung zu
verzeichnen, um in Zeiten des ständigen Wandels auf der politischen und ökonomischen Ebene
zu einer handlungsfähigen Strategie zu finden.
DIE LINKE ist sozialstrukturell und mentalitätsmäßig großenteils aus den politischorganisatorischen Trümmern des alten Typus des Kapitalismus zusammengesetzt. Konnte bei
der Bezugnahme auf die SPD in der Krise des Fordismus noch von außen auf eine Reaktivierung
und Weiterentwicklung vorhandener Potenziale »vergesellschafteter Politik« und Reste einer
Kultur der Arbeit zurückgegriffen werden, sind vergleichbare Strukturen in der neuen
Linkspartei nicht vorhanden.
Thesen zur Strategiediskussion der LINKEN | Seite 9
Es besteht die Herausforderung eines fragilen Gebildes: An der Basis gelingt selten ein
Brückenschlag zwischen unterschiedlichen sozialstrukturellen Milieus. Verfestigte Armut,
BürgerInnen in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen, organisierte Lohnarbeit und
moderne WissensarbeiterInnen stehen unverbunden nebeneinander. Und von oben werden in
symbolischer Politik einseitige Synthesen übergestülpt: entweder in Form des Lafontainismus
mit fundamentalistischer Schlagseite oder eines sozial-ökologischen Modernismus.
Es gelingt immer schwerer, den Großteil der Mandats- und Funktionsträger mit den
Grundstrukturen des modernen Kapitalismus und den aktuellen Entwicklungstendenzen
vertraut zu machen. Zwar wird laufend deutlich, dass die politische Klasse sich im Schlepptau
der Finanzmärkte bewegt; aber trotz dieses Anschauungsmaterials bleiben die Alternativen im
Ungefähren und eine Verständigung über Übergangsforderungen wird zur politischen Kunst. In
der Konsequenz der objektiven Probleme und der organisatorischen Schwierigkeiten
verschwindet die politische Linke im öffentlichen Raum.
Die neoliberale Politik der radikalen Stärkung des Privateigentums als Antwort auf Wachstumsund Strukturprobleme der modernen kapitalistischen Staaten ist gescheitert und statt einer
neuen Dynamik in der Realakkumulation hat das nur zu einer beschleunigten
Schuldenakkumulation geführt. Das eröffnet Spielräume Alternativen zu dieser Politik deutlich
zu machen. DIE LINKE sollte daher ihre Ressourcen darauf konzentrieren in der Öffentlichkeit
dafür zu werben, dass in einem umfassenden Projekt der Demokratisierung der Wirtschaft die
Chance zur Bündelung des Protestes gegen die neoliberale Deformation des regulierten
Kapitalismus bestehen kann. In einem solchen Projekt wären Akteure aus den Gewerkschaften,
sozialen Bewegungen und aus dem politischen Feld selbst einbezogen und könnten
gegenseitige Lernprozesse gestärkt werden.
Einem solches programmatisches Selbstverständnis, das in ein strategisches Handlungskonzept
einzubinden ist, muss im politischen Alltag erst noch Akzeptanz verschafft werden. Dazu ist es
erforderlich, dass sich unterhalb professioneller Politik eine möglichst breite Sensibilität gegen
die massiv sich verfestigende soziale Asymmetrie und Ausschließung quer durch alle
unterschiedlich betroffenen Gruppen herausbildet. Nur dies befördert die Handlungsfähigkeit
der betroffenen sozialen Akteure und ihre Kompetenz, Übergangsforderungen zu einem
Politikwechsel hin zu einer solidarischen Ökonomie zu bündeln und unabhängig von den
parteipolitischen Positionierungen einzufordern.
Damit ist auch gesagt, dass die neuen Entwicklungspfade nicht allein durch DIE LINKE gesetzt
werden können. DIE LINKE hat es aber in der Hand, trotz kurzfristiger ökonomischer Erholung
sensibel für die tieferliegenden sozialen Ungerechtigkeiten zu bleiben, sich von dem
Protestpotenzial für die eigene politische Arbeit inspirieren zu lassen und so die politische
Repräsentanz von Lohnarbeit, Prekarisierung und Ausgrenzung zugleich (zivilgesellschaftlich
verankerte und politikfähige Mosaik-Linken) befördern zu können – unabhängig möglicher
Rochaden von Schwarz-Grün oder Rot-Grün.
Die Alternative zum finanzmarktgetriebenen Kapitalismus läuft also nicht einfach nur auf die
gesellschaftliche Kontrolle des Banken- und Finanzsystems hinaus, sondern unterstellt
weitreichende Veränderungen – von Reformen von der sozialen Sicherheit bis hin zur Steuerund Vermögenspolitik. Mit einer Positionierung, die diese Alternativen deutlich macht und
zugleich in für die Menschen nachvollziehbare Schritte politischer Umgestaltung umsetzt,
könnte es gelingen, die Grünen und die Sozialdemokratie zu stellen. Die Forderung nach einem
Politikwechsel erhielte so eine eigenständige Kontur und es könnte den Bürgerinnen und
Bürgern zugleich plausibel gemacht werden, warum die DIE LINKE ein unverzichtbares Korrektiv
für die Durchsetzung gesellschaftlicher Reformen darstellt.