Aktuell | Borderline Oft fühlte sie sich allein gelassen: Journalistin Agneta Melzer (r.) kam im Umgang mit Lola (l.) an ihre Grenzen zu spät?“ Stattdessen muss ich auf meinen Tonfall achten und jede SMS mit Smileys vollpacken. Denn du hast immer diese übertriebene Sorge, dass andere sich über dich ärgern. Wie viel kann eine Freundschaft aushalten? Zuverlässigkeit, Loyalität – darauf beruht jede Freundschaft. Doch Lola leidet am Borderline-Syndrom. Taucht oft unvermittelt einfach ab, ist über Wochen nicht mehr zu erreichen. Schwer zu verstehen für ihre Freundin Agneta W ie viel können Freundinnen miteinander durch machen? Gibt es eine Grenze, wo es nicht mehr weitergeht, oder kann Krankheit alles entschuldigen? Lola, 28, Name geändert, und Agneta, 29, wissen heute: 38 l Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Sie haben ein ereignisreiches Jahr hinter sich. Lola, die schon seit Jahren an Depressionen litt, erkrankte an einer Borderline-Störung, die mit schwerwiegenden Persönlichkeitsveränderungen einhergeht. In der akuten Phase konnte sie über Stunden wie ohnmächtig im Bett liegen, mal bis zum Morgengrauen Party machen. Für Freundin Agneta hieß das: Plötzlich meldete sich Lola ohne jede Angabe von Gründen wochenlang nicht, schickte nicht mal an ihrem Geburtstag eine SMS. Wäh- Foto: Schwarzkopf & Schwarzkopf/ Stefanie Heider; Protokoll: U. Wilhelm „An manchen Tagen war mir alles zu viel“ rend Lola verstummte, wartete Agneta verzweifelt auf ein Lebenszeichen. Laura brachte beide ins Gespräch. Agneta: Der traurigste Moment unserer Freundschaft war, als ich auf der Reeperbahn saß, feiern wollte und du einfach nicht kamst. Ich habe geweint. Lola: Für mich war der traurigste Augenblick der, als ich erfuhr, dass ich nicht deine Trauzeugin werde. „Ich muss jede SMS mit Smileys vollpacken“ Agneta: Trotzdem hatten wir nie so richtig Zoff, auch wenn ich mich bei dir immer fühle, als müsse ich dich mit Samthandschuhen anfassen. Ich bin ein ungeduldiger Mensch und manchmal würde ich gern sagen: „Verdammte Axt, warum kommst du schon wieder Lola: Andere könnten das SmileyPrinzip gern von dir übernehmen! Agneta: Es ist nur manchmal einfach anstrengend. Genau wie diese Momente, wenn du mich versetzt hast. Das hat überdies noch wehgetan. Einmal hatte ich fast genug, als du zum Frühstücken nicht gekommen bist und dich nicht mal irgendwie entschuldigt hast. Lola: An solchen Tagen war mir alles zu viel, selbst der Griff nach dem Telefon oder dem Handy. Agneta: Aber wenigstens eine kurze SMS müsste drin sein. Ich hatte dir ein anderes Mal nicht erzählen können, dass ich meinem Freund einen Heiratsantrag gemacht habe. Weil du wieder mal einfach abgetaucht warst. Lola: Auch ich war deshalb traurig. Agneta: Man konnte dich nicht erreichen, das war ja das Problem. Und dann hattest du diese Liebesgeschichte mit dem Mann aus San Francisco. Lola: Oft konnte ich an nichts denken – nur an ihn, wie total besessen. Agneta: Und ich habe mir große Sorgen um dich gemacht. Du warst auf einmal so verändert, so abgedriftet, so gar nicht mehr von dieser Erde. Lola: Ja, ich lebte in einer Traumwelt wie mit einem imaginären Mann zusammen. Erst als ich zu ihm fuhr, hat mich die Realität eingeholt, ich kam mit der Beziehung nicht zurecht. Es war so schrecklich, dass ich zurückflog. Agneta: Zum Glück. Lola: Ich fühlte mich ohnmächtig, total. Ich hatte das Gefühl, ich sitze in einem Auto, kann nicht beeinflussen, wohin es fährt. Da war keinerlei Kontrolle über meine Gedanken und Gefühle mehr. Agneta: Da bin ich dann an eine gewisse Grenze gekommen. Für eine Freundschaft muss jeder wenigstens ein Minimum an Handlungsfähigkeit haben. Ich habe mehrfach überlegt, die Freundschaft abzubrechen. Immer dann, wenn es wieder nicht funk tioniert hat, Kontakt aufzunehmen, manchmal zehnmal in Folge. Ich sah einfach keinen Weg. Lola: Das habe ich gespürt. Ich hatte immerzu Angst, du sagst, das gebe ich mir nicht mehr. Agneta: Ich bin sehr tatkräftig und lösungsorientiert. Wenn ich etwas nicht bereinigen kann, macht mich das wahnsinnig. Rational konnte ich mit allem umgehen. Emotional war es etwas anderes, weil man sich natürlich auch Vorwürfe macht: „Wärst du doch geduldiger gewesen!“ Die Diagnose hat mir dann geholfen, alles nachzuvoll ziehen. Früher habe ich nie verstanden, warum ein Mensch mit Depressionen dann plötzlich wieder bis zum Morgengrauen tanzt. Heute weiß ich, dass dies alles zu deinem Spektrum gehört. Lola: Ja, auch ich lernte mich besser verstehen, mit meinen Stimmungsschwankungen besser umzugehen. Agneta: Der schönste Moment unser Freundschaft war dann für mich, als du zu meiner Hochzeit gekommen bist. Da hatte ich endlich das Gefühl, es geht mit uns wieder weiter. Lola: Ich hatte auch so ein Gefühl, wir sind uns wieder nahe, alles wird gut. Agneta: Manche Aspekte deiner Krankheit finde ich übrigens auch super. Dass eine bis sieben Uhr morgens auf den Tischen tanzt, ist doch auch toll. Was soll daran eigentlich verrückt sein? Es wird nie langweilig mit dir, ist immer unterhaltsam, wirklich immer. Lola (lacht): Mir ist auch selten langweilig mit mir. Die meisten Borderliner haben breite Gefühlsspannen. Agneta: Dennoch muss ich sagen, ich habe sehen gelernt, was für ein glück licher Mensch ich bin und wie krass es jemandem gehen kann, der aus seinem inneren Gefängnis einfach überhaupt nicht mehr herauskommt. Lola: Ehrlich gesagt, überlege ich oft, ob ich dich beneiden soll, weil du gesund bist. Ja, das ist so, aber nicht auf eine missgünstige Weise. Dein Selbstvertrauen hätte ich gern. Doch ich mag das Wort Neid nicht. Agneta: Ich habe manchmal ein ganz schlechtes Gewissen, dass es mir so gut geht, habe das Gefühl, ich müsste irgendwie Karma-Punkte sammeln. Lola: Das ist auch wieder Quatsch. Du gibst mir von allen Menschen den meisten Halt. Auch in Krisensituationen zieht mich hoch, dass du mit mir befreundet sein willst. Ich weiß, dass ich dir jeden Quatsch erzählen kann. „Du verstehst die absurdesten Gedanken “ Agneta: Und du kannst jeden Gedanken nachvollziehen, auch absurde. Lola: Jedenfalls wünsche ich mir, dass unsere Freundschaft immer so bleibt. Agneta: Sagen wir: so, wie sie jetzt wieder geworden ist. Buch-Tipp Berührendes Porträt einer Freundschaft – schön geschrieben und dicht. Agneta Melzer: Mein Jahr mit ohne Lola, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 9,95 € Was ist das Borderline-Syndrom? Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – wer betroffen ist, leidet unter Extremen Schwer zu definieren BorderlineStörungen gelten als seelisches Grenzgebiet zwischen Psychose, Neurose und Persönlichkeitsstörung, so beschreibt es der Facharzt Prof. Volker Faust. Sie sind eine anerkannte Krankheit, die Symptome außer ordentlich vielfältig. Dazu können eine vermehrte Impulsivität, Instabilität, selbstzerstörerisches Verhalten sowie auch außerordentlich große Stimmungsschwankungen gehören. Kranke leben heute himmelhoch jauchzend, morgen zu Tode betrübt. Betroffen Nach aktuellen Studien leiden zwischen zwei und zehn Prozent der Menschen in Deutschland an Borderline-Störungen. Die starken Unterschiede in der Einschätzung erklären sich daraus, dass nicht jede erkrankte Person davon weiß – oder sich therapeutisch behandeln lässt. Hilfe Sollte man zum Beispiel selbstzerstörerische Impulse bei sich oder einem anderen erkennen, ist es richtig, einen Psychiater zu kontaktieren. Infos unter: www.grenzposten.de. l 39
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