Quelle: bmp Mit der Rasierklinge Zugang zu den eigenen Gefühlen finden, (Körper-)Grenzen testen? Eltern, Erzieher und Ärzte sind meistens schockiert, wenn sie bei Kindern und Jugendlichen Schnittwunden bzw. Narben oder andere Anzeichen für selbstverletzendes Verhalten (SVV) entdecken. Der Pädiater sollte aber in jedem Fall hellhörig werden, darauf reagieren und immer konkret nachfragen, betont die Expertin PD Dr. med. Annette Streeck-Fischer, Chefärztin der Abteilung Psychotherapie und Psychiatrie von Kindern und Jugendlichen am Niedersächsischen Landeskrankenhauses Tiefenbrunn. Die Analytikerin warnt ausdrücklich davor, über Zeichen von SVV hinwegzugehen. „Sie sind ein klarer Hinweis darauf, dass etwas los ist, seien es Mobbing in der Schule oder familiäre Probleme. Im Verlauf des Gesprächs sollte überlegt werden, ob andere Wege, mit der Herausforderung umzugehen, erarbeitet und umgesetzt werden können oder ob eine psychiatrische Konsultation erforderlich ist. Wenn sich herausstellt, dass es nicht nur um ein konkretes Problem geht und die Belastung erheblich ist, sollte ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie hinzugezogen werden.“ Auch der Psychologe Reinhard Semmerling von der DRK-Kinderklinik Siegen bestätigt, dass nicht jedes SVV bei Jugendlichen als bePädiatrix 5/2008 sorgniserregend einzustufen ist. Es kann auch ein Initiationsritus sein und dabei helfen, bestimmte Reifungskrisen zu bewältigen. Krankheitswert kommt dem Verhalten zu, wenn das SVV an Häufigkeit oder Intensität zunimmt oder sich verselbständigt. von Dr. Wiebke Kathmann Prävalenz: Wie häufig ist SVV? Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Betroffenen im Zunehmen begriffen und größer als vermutet ist. In Deutschland sollen 0,7 bis 1,5 Prozent der Bevölkerung, d. h. rund 600 000 bis 1,2 Millionen Menschen, unter diesem Symptom leiden. Zählt man die gesellschaftlich akzeptierten, zum Teil Prestige verleihenden Varianten wie Piercing und Tätowierung dazu, ist die Zahl um ein Erhebliches höher. Das Phänomen der SVV tritt vor allem bei weiblichen Personen auf, jedoch unter Umständen auch bei männlichen. Meist manifestiert sich SVV mit Beginn der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter, also in einer ohnehin durch Auseinandersetzungen mit den Eltern, einer gescheiterten ersten Liebe, Umbrüchen in Freundschaften und ähnliche Erfahrungen emotional stark angespannten Zeit. Bezogen auf Kinder gibt es kaum Daten. Hier scheint die Häufigkeit weitgehend kon- „Es muss zwischen unterschiedlichen Störungs- bzw. Problemniveaus unterschieden werden.“ (Streeck-Fischer) 14 Selbstverletzungen stant geblieben zu sein. Erst ab einem Alter von zehn Jahren spielt ein gewisser Nachahmungseffekt eine Rolle und hat zu einem leichten Anstieg der eher milden Variante geführt, so Streeck-Fischer. Bei Jugendlichen, die gravierende Probleme in der Spannungsregulation haben, die vernachlässigt werden oder traumatische Erlebnisse erfahren haben, stellt SVV einen wichtigen Selbsthilfeversuch dar, um sich vorübergehend Erleichterung zu verschaffen. Ursachen: Was treibt Kinder zu SVV? „Die Gründe für pathologisches SVV sehen Experten in frühkindlichen Erfahrungen – allen voran Deprivationsund Missbrauchserlebnisse.“ (Sachsse) Generell ist nach Streeck-Fischer zwischen unterschiedlichen Störungs- bzw. Problemniveaus zu unterscheiden. Bei Teenagern, die in einer Krise bzw. einer aktuellen Belastungssituation stecken, ist das SVV meist nicht pathologisch und vorübergehend. Dass in diesen Fällen die eigene Körpergrenze zum Austragungsort für Grenzkonflikte wird, führt Streeck-Fischer auch auf die Tatsache zurück, dass Kindern und Jugendlichen heute weniger Grenzen gesetzt werden. Die Gründe für pathologisches SVV sehen Experten in frühkindlichen Erfahrungen – allen voran Deprivations- und Missbrauchserlebnisse, wie der deutsche SVV-Experte Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse, Göttingen, betont. Prädisponierend können nach Prof. Franz Resch, Heidelberg, auch Verlust eines Elternteils durch Scheidung oder Fremdunterbringung, chronische Krankheiten oder mehrfache Operationen und impulsive Verhaltensweisen oder Gewalt zwischen Familienmitgliedern sein, im Jugendalter auch Körperentfremdungserfahrungen [1]. Die Wahrscheinlichkeit, sich selbst zu verletzen, scheint dabei umso größer zu sein, je früher die Traumatisierung erfolgte. Neben diesen biografischen Faktoren spielen eine genetische Disposition und perinatale Faktoren für die spezifische Fragilität der kindlichen Persönlichkeit eine Rolle. Hält die Traumatisierung an und fehlen protektive Faktoren im sozialen Umfeld, treten Symptome einer posttraumatischen Stressverarbeitung auf. Sie können in ein dissoziatives Muster mit Amnesien, tranceartigen Zuständen, schnellen Stimmungswechseln, Störungen der Affektregulation und schließlich Neigung zu Selbstverletzung, teilweise mit suizidalen Impulsen und Suchtmittelmissbrauch, münden. Pathologisches SVV ist nicht nur mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung assoziiert. Es kann auch als Symptom einer Depression, narzisstischen oder multiplen Persönlichkeitsstörung, Depersonalisationsstörung, Essstörung (Anorexia nervosa, Bulimie und Adipositas), posttraumatischen Belastungsstörung, andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastungen, im Rahmen von Zwangsstörungen, psychotischen und schizophrenen Episoden sowie Drogen- und Alkoholabusus auftreten. SVV wird ebenfalls bei geistiger Behinderung, Verhaltensstörungen und Autismus beobachtet. Pädiatrix 5/2007 15 Bei schwer gestörten Kindern dient die Selbstverletzung in den meisten Fällen dazu, einen unerträglichen Zustand innerer Anspannung zu beenden. Sie ist also ein Selbsthilfeversuch, so die Kinder- und Jugendpsychiaterin. „Im Moment der Selbstverletzung erleben die Jugendlichen keinen Schmerz.“ Eine andere wichtige Funktion ist das Beenden einer Form der Dissoziation, der Depersonalisation, die durch „Sichnicht-fühlen-Können“ gekennzeichnet ist. Mit der Verletzung kommt das Gefühl zurück. Diese Depersonalisation kann beispielsweise durch eine Entscheidungssituation heraufbeschworen werden. Denn viele Betroffene haben als Kinder nicht gelernt, Entscheidungen kompromisshaft zu lösen. Alles erscheint schwarz-weiß. Das Gefühl, doch nur die falsche Entscheidung treffen zu können, kann so bedrohlich werden, dass die bewusste Depersonalisation als einziger Ausweg erscheint. Irgendwann verselbständigt sich diese Bewältigungsstrategie, sodass SVV als Antidissoziativum eingesetzt werden muss. SVV wird, insbesondere von Borderline-Patienten, auch gegen Dysphorie und Depression angewendet. Denn Patienten mit Borderline-Störung versuchen in Situationen der Einsamkeit dem überwältigenden Gefühl der Leere und Dysphorie durch Ritzen zu entkommen – mit dem körperlichen Schmerz lässt sich ein seelischer beiseiteschieben. Bei instabiler Umgebung, schnellen Gedankengängen und schnell wechselnden Stimmungen kann SVV auch beruhigend wirken, da bei drohendem Impulskontrollverlust die Kontrolle quasi zurückerlangt wird. Die Frage, ob SVV auch eine Funktion als Suizidprophylaxe zukommt, wird kontrovers diskutiert. In gewissem Sinne kann SVV als Möglichkeit, sich durch diese „pathologische Selbsthilfemaßnahme“ vor einem Suizid zu schützen, eingestuft werden. Es darf aber nicht vergessen werden, dass eine Suizidgefahr dadurch nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Als parasuizidal kann SVV erscheinen, wenn es primär selbstbestrafend eingesetzt wird. Dies trifft zu, wenn es für den Betroffenen sicherer ist, die Wut an sich selbst abzureagieren, statt an anderen, die dann Vergeltung üben könnten. Eine andere Variante ist, dass durch SVV ein dysfunktionales, in der Kindheit konditioniertes Verhalten, lieber verletzt als missachtet zu werden, so fortlebt. SVV gegen Derealisation und pseudopsychotische Zustände ist unter anPädiatrix 5/2007 derem bei Personen, die von nächtlichen Flashbacks traumatisierender Erlebnisse geplagt werden, zu beobachten. Eine eher schwer zu therapierende Variante ist die, in der die Selbstverletzung eine narzisstische Funktion hat. Der Stolz und die Lust an der Selbstschädigung ermöglichen dem Betroffenen, sich als etwas Besonderes zu empfinden. Schließlich kann SVV auch eine interpersonelle Funktion haben. Die Selbstbeschädigung wird dabei als Signal eingesetzt, der Umwelt zu vermitteln, dass sie insuffizient und zu schlecht war, um trösten oder helfen zu können. Selbstverletzungen Funktionen: Wozu dient SVV? Borderline von Anna ... Am Anfang ist immer die Leere innen drinnen ganz tief verborgen. Sie tut weh. Wenn es einen innen schmerzt muss es das außen auch tun. Sonst ist die Welt nicht im Gleichgewicht. Ein Schnitt, ein Schmerz, schließlich Blut, dabei die Erleichterung, alles wird gut. .... Pathologisches SVV ist nicht nur mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung assoziiert. (siehe www.rotetraenen.de) Therapie: Was hat sich bewährt? Die Therapie der Wahl bei selbstverletzendem Verhalten ist die Psychotherapie. Eine alleinige Pharmakotherapie – in Frage kommen vor allem serotonerge Antidepressiva, Neuroleptika und Lithium – ist als Primärmaßnahme nicht sinnvoll, so Streeck-Fischer. Bei zusätzlichen Komorbiditäten oder wenn die Psychotherapie nicht schnell genug greift, kann sie als unterstützende Maßnahme indiziert sein. Bei Jugendlichen muss die Möglichkeit der Selbstschädigung im Blick behalten werden. Je länger der suchtartige Kreislauf aus Spannungsabbau und Schmerz besteht, umso schwieriger wird es, ihn therapeutisch zu durchbrechen. Ein Grund hierfür könnte ein endorphinbasierter Suchtkreislauf sein, der derzeit noch postuliert bzw. diskutiert wird. Eine weitere Hürde, die es zu überwinden gilt, ist der Zweifel zumindest jugendlicher Patienten, ob sie ihren eigenen Gefühlen hinsichtlich der Frage, ob die therapeutische Beziehung für sie „Bei schwer gestörten Kindern dient die Selbstverletzung in den meisten Fällen dazu, einen unerträglichen Zustand innerer Anspannung oder der Depersonalisation zu beenden.“ (Streeck-Fischer) 16 Selbstverletzungen sicher ist, trauen können. Ähnlich wie bei Borderline-Patienten kann es schwierig sein, ein tragfähiges Arbeitsbündnis aufzubauen. Wichtig ist die Kombination aus klaren Grenzen, Gestaltung von Erlebnis- und Erfahrungsräumen sowie kontingenten Verhaltensantworten von Seiten des Therapeuten. Ziel der Psychotherapie ist eine Verbesserung der Wahrnehmung innerer Zustände und langfristig eine Verbesserung der Affektregulation. Außerdem geht es um eine Verbesserung der Frustrationstoleranz sowie darum, die Betroffenen dazu zu befähigen, über ihre Gefühle und inneren Zustände zu sprechen. Die Aktionssprache der Selbstverletzung müsse in eine zwischenmenschliche Wortsprache übersetzt werden, so Resch. Es geht also nicht notwendigerweise um die Aufarbeitung des Traumas, sondern primär um eine Entlastung. In den meisten Fällen kann die Psychotherapie ambulant erfolgen, so Streeck-Fischer. „In gravierenden Fällen kann eine stationäre Unterbringung notwendig werden. Die Erfolgsquote ist zumindest im Kindesalter recht hoch. Nur ein relativ kleiner Prozentsatz hält am selbstverletzenden Verhalten fest.“ Welches Therapieverfahren? Therapie der Wahl ist die Psychotherapie. Als psychotherapeutische Verfahren werden in erster Linie die kassenzugelassenen Verfahren angewendet. Bewährt haben sich insbesondere psychodynamische Ansätze und die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha M. Linehan. Beim psychodynamischen Vorgehen wird das Augenmerk auf die aktuellen Konflikte des Patienten gerichtet. Wichtig ist insbesondere das Stresstoleranz-Training. Das ursprünglich für Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelte Verfahren nach Linehan beschäftigt sich mit dem Leidensdruck und dem daraus resultierenden Problemverhalten, also der Selbstverletzung. Es werden Bewältigungsstrategien zum Umgang mit Leidensdruck wie Ablenkung und bewusste Wahrnehmung sowie Alternativen zum SVV erarbeitet. Neben diesen Verfahren werden auch neuere Methoden wie Familientherapie, traumazentrierte und körperorientierte Verfahren sowie die klinische Kunsttherapie eingesetzt. Quellen 1. Resch F: Der Körper als Instrument zur Bewältigung seelischer Krisen: Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen. Dt Ärztebl. 2001; 98: A 2266–2271 [Heft 36] 2. Sachsse U: Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik – Psychotherapie. Das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung. (6. Aufl.) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002 Weitere Literatur Ackermann S: Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen. Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2002 Hänsli N: Automutilation – Der sich selbst schädigende Mensch im psychopathologischen Verständnis. Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen 1996 Levenkron St: Der Schmerz sitzt tiefer: Selbstverletzung verstehen und überwinden. Kösel Verlag, München 2001 Linehan M: Trainingsmanual zur Dialektisch-Behavioralen Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. CIP-Medien 1996 Niklewski G u. Riecke-Niklewski R: Leben mit einer Borderline-Störung – Ein Ratgeber für Betroffene und ihre Partner. Trias Verlag, Stuttgart 2003 Putnam, Frank W: Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung. Jungfermann Verlag, Paderborn 2003 Sachsse U: Traumazentrierte Psychotherapie. Schattauer Verlag, Stuttgart 2004 Streeck-Fischer A: Adoleszenz – Bindung – Destruktivität. Klett-Cotta, Göttingen 2004 Streeck-Fischer A: Adoleszenz und Trauma. (2. Aufl.) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999 Streeck-Fischer A: Körper, Seele, Trauma. (2. Aufl.) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002 Streeck-Fischer A: Trauma und Entwicklung – Frühe Traumatisierungen und ihre Folgen in der Adoleszenz. Schattauer Verlag, Stuttgart 2006 Teuber K: Ich blute, also bin ich. Selbstverletzung der Haut von Mädchen und jungen Frauen. Centaurus Verlag, Herbolzheim 2000 Internetseiten Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse und Monika Kreusel: www.blumenwiesen.org/svv.html Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention und Prophylaxe e.V.: www.praevention.org/selbstverletzung.htm Klinken und lokale Selbsthilfegruppen: www.borderline-selbsthilfe.de/index Kontakt- und Informationsforum für SVV-Angehörige und Betroffene: www.rotelinien.de, www.selbstaggres sion.de, www.rotetraenen.de Pädiatrix 5/2007
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