Lothar Mahling: Kommunikation ist alles Wie sollten liberale Parteien aus Ost und West zusammenarbeiten? Nach dem Mauerfall stellten sich viele inhaltliche Fragen. Davor jedoch galt es ganz banale logistische Probleme zu lösen. Die Planwirtschaft hatte auch den (Block)Parteien vorgeschrieben, was sie zu brauchen hatten und was nicht. Zu Letzterem gehörten Ost-West-Telefonverbindungen. Wie jeder DDR-Bürger mussten auch gewählte Volksvertreter und Parteibedienstete noch Anfang 1990 zum Teil stundenlang auf Verbindungen warten. Da kam den Liberalen der Gehilfe aus dem Westen gerade recht. Ich reiste damals nämlich immer mit schwerem Gepäck: mein „Handy“ (B-und CNetz) war in einer Art Pilotenkoffer installiert und wog schlappe 15 Kilo. Als ich mich bereit erklärte, das schwere Ding der LDPD-Zentrale in der damaligen Dieckmann-Strasse in Berlin-Mitte zu überlassen, war die Freude groß, getrübt nur durch den Umstand,, dass die Kofferantenne viel zu schwach war - vor allem im Innenhof des LDPD-Gebäudes. Im Improvisieren waren die Ossis aber schon immer Spitze. Hagen Ost, Fahrer und Faktotum, kam auf die Idee, es mit einer Wurfantenne (Litze) zu versuchen. Im Osten war ein solches Teil aber nirgends aufzutreiben. Also besorgte ich es bei einer (Welt-)Firma im Westen. Hagen kletterte aufs Dach, installierte das 30 Meter lange Kabel und verband es mit meinem „Pilotenkoffer“. Es funktionierte! Die (noch nicht vereinigten) Liberalen hatten wochenlang die beste und stabilste (private) Mobilfunkverbindung in ganz Ostberlin. Hagen Ost hatte sich für Idee und Arbeit eine Belohnung verdient: Er durfte fortan täglich mit seiner Freundin im Westen telefonieren. Bis dato dauerte der kommunikative Trennungsschmerz immer mehrere Tage oder gar Wochen. Bonbons im Überfluss Zu den Dingen, die in keinem DDR-Produktionsplan fehlen durften, gehörten Parteiabzeichen in Form von Ansteck-Nadeln und -Broschen. Beim Umzug der Berliner LDPD-Zentrale ins ehemalige Hauptquartier der NDPD in der Mohrenstraße musste dort Platz geschaffen werden. Dazu wurden auch die Kellergeschosse des um 1920 als Deutsch-Brasilianische Bank erstellten Gebäudes geräumt. Dabei fiel eines Morgens mein Blick in zwei mächtige Gewölbekeller. Ich traute meinen Augen nicht: Tausende von rechteckigen Pappschachteln, alle etwa in der Größe einer Pralinenschachtel. Inhalt pro Schachtel: jeweils 400 Ansteck-Broschen oder 800 Ansteck-Nadeln mit dem Parteiabzeichen. Überschlägig zwei bis drei Millionen „Bonbons“, die jüngsten fein säuberlich verpackt und beschriftet mit dem Produktionsdatum Januar 1990. Dass die Planwirtschaft seit Anfang der 60er Jahre je nach Planungsperiode und Jahreszeit keine Nylonstrümpfe, keinen Kaffee, keine Taschenrechner, kein Klopapier, keine Zylinderkopfdichtungen, keine Kugelschreiber, keine Schulhefte und erst Recht nicht Bananen in genügender Anzahl vorgab, wusste ich aus Briefen meines Vaters, meiner Brüder und aus jährlichen Verwandtenbesuchen zwischen 1965 und 1989. Dass die sogenannten Block-Parteien sich im Januar 1990 darauf vorbereiteten, mehrere Millionen SED-Mitglieder übernehmen zu können, war mir neu. Kapitalismus geht ganz einfach Im März 1990 waren Hotelzimmer in ganz Berlin rar und teuer. Da die liberalen Organisationen für längere Zeit um Rat und Tat vor Ort baten, suchte ich mir eine Bleibe für mehrere Monate. Gleich mein erstes Inserat war erfolgreich: Eine Charité-Mitarbeiterin bot mir in einer LaubenpieperKolonie in Waldesruh (bei Hoppegarten, gleich hinter der südöstlichen Stadtgrenze) ein Häuschen für 25 DM pro Bett und Nacht an. Die Holzhütte gefiel mir und ich zog ein. Vereinbarungsgemäß wollte ich wöchentlich in der Charité die Miete entrichten. Die gute Frau verlangte nach acht Tagen 800 DM. Meinen zweifelnden Blick konterte sie prompt: Ich schliefe ja in einem Doppelbett und im Vorraum stehe eine ausziehbare Couch, das mache summa summarum also 4 x 25 DM pro Tag. Ich gratulierte der Hausbesitzerin zu ihrer Geschäftstüchtigkeit, gab ihr 400 DM, kündigte mit sofortiger Wirkung, zog für den Tagessatz von 40 DM inkl. Frühstück in den Kronenflügel des noch nicht fertig gestellten „Berlin Hilton“ in der Mohrenstraße und freute mich heimlich darüber, dass der Weg des Ostens aus der Misere unumkehrbar geworden war. Das Volk hatte vom Sozialismus die Nase voll und war infiziert vom Keim des kapitalistischen Systems. Noch hatte ich Hoffnung, dass auch die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft von West nach Ost transferiert werden können. Nicht klar war mir damals, dass viele dieser Regeln schon in der alten Bundesrepublik längst über Bord geworfen worden waren. Alle oder Keiner Im Volkskammerwahlkampf hatte der Bund Freier Demokraten gerade mal fünf Wochen, um sich von seiner Gründung am 12. Februar bis zur Wahl am 18. März 1990 zu profilieren und Stimmen zu sammeln. Das gelangt immerhin so gut, dass das Bündnis am Wahlabend auch zur Lifesendung ins DDR-Fernsehen eingeladen wurde. Wie zu einigen anderen Veranstaltungen auch durfte ich die drei Vorsitzenden bei ihren Medienauftritten betreuen. Also marschiere ich wie ein Touristenführer mit hoch gehaltenem blau-gelben Schild „Bund Freier Demokraten“ vorneweg in den Palast der Republik, gefolgt von Dr. Bruno Menzel, Rainer Ortleb und Roland Schmieder. Am Set des DDR-Fernsehens drängeln sich bereits die führenden Köpfe von CDU, SPD, PDS, DSU, Bündnis90, Bauernpartei, Grünen, Demokratischem Aufbruch und NDPD. Die Redakteure des Fernsehens der DDR wollen jeweils nur einen Vertreter pro Wahlbündnis, von uns also nur den LDP-Spitzenkandidaten zur Diskussion zulassen. Das kann ich angesichts des jungen, im Umgang miteinander noch sehr sensiblen Gebildes BFD nicht zulassen. Rainer Ortleb verhält sich wie gewohnt aufrichtig und solidarisch. Also fordere ich vom DDR-Fernsehen: alle oder keiner. Schließlich ist es unwesentlich, ob zehn oder zwölf Politiker um einen ohnehin viel zu engen Tisch herumstehen. Die TV-Funktionäre lehnen ab. Ich bleibe stur. Noch zehn Sekunden, dann sind wir auf Sendung…. o.k., dann eben ohne den BFD, das müssen Sie den Zuschauern schon selbst erklären…noch fünf Sekunden…..na gut, dann eben alle….. . Das rote Licht auf der Kamera geht an. Schmieder, Menzel und Ortleb dürfen kommentieren, alle drei sind im Bild, dahinter sogar das Schild „BFD“. Neue Zeiten für die aktuelle Kamera. Liberale Herzkammer Dresden War in der DDR zusammen mit Leipzig, Halle und Berlin auch Dresden eine der Herzkammern der Wiedervereinigung? Aus meiner und aus liberaler Sicht zweifellos! Dafür stand der gebürtige Dresdner Wolfgang Mischnick – als Mensch, als Liberaler, als Vorsitzender der FDPBundestagsfraktion und als Vorstandsvorsitzender der liberalen Stiftung. Am Tag nach der DDR-Kommunalwahl vom 6. Mai 1989 sollte in seiner Heimatstadt ein kommunalpolitisches Kolloquium der Stiftung stattfinden. Die Stasi ließ diesen Termin platzen, ebenso wie eine Sitzung, die die Bundestagsfraktion der SPD im September in der DDR geplant hatte. Mischnick und andere Liberale blieben hartnäckig. Massendemonstrationen in der DDR, zunehmende Flüchtlingsströme und Hans-Dietrich Genschers „Mauerdurchbruch“ in der Prager Botschaft zeigten Wirkung, ebenso die Bloßstellung von Erich Honecker durch Michail Gorbatschow bei den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung und die Absetzung als SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzender am 17. Oktober. Drei Tage danach sprach Wolfgang Mischnick mit Hans Modrow in Dresden, wenig später mit Manfred Gerlach und Egon Krenz in Berlin. Natürlich vor allem über Reiseregelungen für DDR-Bürger. Sicher aber auch über andere Themen. Jedenfalls begannen in der FriedrichNaumann-Stiftung kurz darauf die Vorbereitungen des Kolloquiums. „Wir“ hatten die Stasi bezwungen. Für unsere Presseeinladungen war das natürlich eine attraktive Sache. Das Kolloquium zusammen mit der Hochschule für Verkehrswesen Friedrich List startete am 18. Dezember im Dresdner Hotel Bellevue. Viele verpassten den Beginn am Nachmittag, denn seit dem 9. November waren die Autobahnen von Ost nach West und umgekehrt hoffnungslos verstopft, fast zu jeder Uhrzeit. Ich selbst brauchte für einen 30-kmAbschnitt zwischen Hof und Plauen runde fünf Stunden. Auch ein gewisser Peter Dussmann traf erst gegen Abend ein. Wer heute durch das KulturKaufhaus gleichen Namens in der Berliner Friedrichstrasse schlendert, wird kaum wissen, dass Dresden die erste „Ost“-Begegnung des in Bayern residierenden württembergischen Selfmade-Unternehmers aus Rottweil war. Er hat die Sachsen, die Dresdner und vor allem die Frauenkirche sofort in sein Herz geschlossen, übersiedelte mit seiner Münchner Firmenzentrale kurz darauf nach Dresden, viel später dann nach Berlin. Ohne Peter Dussmann und Wolfgang Mischnick wäre der Wiederaufbau der Frauenkirche nicht so rasch und effizient in Gang gekommen. Heerscharen von Journalisten kamen nach Dresden: Natürlich profitierte die Friedrich-Naumann-Stiftung von der öffentlichen Aufmerksamkeit für das kurzfristig anberaumten Treffen zwischen Helmut Kohl und Hans Modrow, obwohl wir für dieses Mega-Ereignis „unseren“ Hotel Bellevue räumen und in das noch nicht fertig gestellte Hilton-Hotel „Dresdner Hof“ an der Frauenkirche ziehen mussten. Vor der Frauenkirche versammelten sich am 19. Dezember zehntausende Deutsche, um die Kundgebung mit dem bundesdeutschen Kanzler zu erleben. Für mich, den im Osten Geborenen, im Westen Aufgewachsenen war – neben dem spontanen Anstimmen der Nationalhymne am 9. November im Deutschen Bundestag – die Frauenkirchenkundgebung das emotionalste Erlebnis dieser Wiedervereinigung. Dass ausgerechnet ein Christdemokrat, der bis dato mit der Wiedervereinigung aller Deutschen nicht allzu viel am Hut hatte, in einem historischen Augenblick viele Landsleute zu Tränen rührte, war mir in diesem Augenblick völlig egal. Genugtuung nahte: es sollten noch genügend Liberale auch in Dresden für historische Momente sorgen. Ein Sprecher als fata morgana Einer dieser Momente war der letzte LDPD-Parteitag am 9. und 10. Februar 1990 in Dresden, wegweisend für die Einigung aller deutschen liberalen Parteien. Für mich war es auch das erste Zusammentreffen mit einem gewissen Wulf Oehme. Er war eben erst zum Pressesprecher einer sich auflösenden Partei ernannt worden. Aus eigenem Erleben wusste ich sehr genau, dass es in der DDR bis dato weder freie Medien noch frei sprechen dürfende Pressesprecher gegeben hat. Insofern erschien mir Wulf wie eine politische und journalistische fata morgana. Von ihm kam keine dieser ebenso gestanzten wie sinnentleerten Politbandwurmphrasen, wie man sie auf Knopfdruck selbst dem Munde mancher LDPD-Funktionäre entlocken konnte. Wulf dachte, bevor er sprach. Und wenn er sprach, tat er es deutlich und langsam. Er benutzte einfache deutsche Worte und Sätze. Und er hatte nicht auf jede kritische Frage sofort eine abwiegelnde Antwort. Das hat mich sehr beeindruckt. Bis heute. Heute übrigens ist Wulf der Sprecher der FDP, also einer meiner Nach-Nachfolger. Und darauf bin ich ein wenig stolz. „Zu Hause als Gast“ Der für Wolfgang Mischnick wohl am meisten mit seiner Heimatstadt Dresden verbundene Glücksmoment der Wiedervereinigung ereignete sich am 9. März 1990. Zur Kundgebung nach Dresden auf den Platz vor der Frauenkirche war der ehemalige französische Staatspräsident Valérie Giscard d’Estaing gekommen. Giscard war damals Vorsitzender der Liberalen Fraktion im Europäischen Parlament, die wenig später auch der einzig frei gewählten Volkskammer einen Arbeitsbesuch abstattete. Beim Eintrag der beiden Liberalen ins Goldene Buch der Stadt Dresden hielt Wolfgang Mischnick sein ganzes heimatliches Vereinigungsglück in vier Worten fest: „Zu Hause als Gast!“. Die europäischen Liberalen übrigens waren die einzige multinationale Partei und Fraktion seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979, die sich von Anfang an auch für die Deutschen in der DDR und für das Thema Wiedervereinigung interessiert haben. Martin Bangemann, in Kleinwanzleben bei Magdeburg geborener damaliger Fraktionsvorsitzender, sorgte bereits 1980 für einen ELD-Kongress in Berlin und reiste im Lutherjahr 1983 ganz offiziell mit der damaligen Präsidentin des Europäischen Parlaments, der französischen Jüdin Simone Veil, in die DDR, u.a. auf die Wartburg nach Eisenach und in die Lutherstadt Wittenberg. In ihrer erst kürzlich erschienene Biografie „Ma vie“ erinnert sich die europäischste aller französischen Politikerinnen an dieses Ereignis. Keine zehn Jahre später sollte Martin Bangemann, der 1984 deutscher Wirtschaftsminister und 1985 FDP-Vorsitzender geworden war, eine bis heute für die deutsche Wiedervereinigung meist unterschätzte Rolle spielen: Als zwischen 1989 und 1999 u.a. für den europäischen Binnenmarkt zuständiger EU-Kommissar sorgte er mit seinem Brüsseler Team für eine reibungslose Integration des Gebietes der ehemaligen DDR in die Europäische Union. Familien-Fußball Am Vorabend der Wirtschafts- und Währungsunion stand die letzte bundesdeutsche Fußball-Nationalmannschaft kurz vor ihrem dritten WMTitel. Aber nicht nur in Rom wurde Fußballgeschichte geschrieben, sondern auch in Schlieben. Zumindest für meine Familie. Erstmals traten beim traditionellen Fußballturnier anlässlich des Moienmarktes (Moien=Mägde) ein Team Ossis mit meinen beiden im Osten gebliebenen Brüdern gegen ein Team Wessis mit meinem kurz vor dem Mauerbau „rübergemachten“ Bruder und mir an. Die Siegprämie wurde von den Wessis bereits kurz vor Mitternacht des 1. Juli 1990 ganz offiziell in DM umgetauscht und der damals liberalen Bürgermeisterin für die Jugendarbeit des Städtchens im heutigen Elbe-Elster-Kreis übereicht. Lothar Mahling, 1952 im heutigen Elbe-Elster-Kreis geboren, ab 1955 in Württemberg aufgewachsen, ist gelernter Journalist und war u. a. Pressesprecher der baden-württembergischen FDP (1974-77), der Liberalen Fraktion im Europäischen Parlament (1977-1985) und der BundesFDP (1985-1988). Danach arbeitete er als selbständiger Journalist für verschiedene Medien und als Berater für Verbände und Unternehmen, war lange Jahre Medienbeauftrager des FDP-Präsidiums und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und ist seit 2000 Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.
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