Peter F. Schmid Was ist personzentriert? Zur Frage von Identität

Peter F. Schmid
Institut für Personzentrierte Studien der APG
Was ist personzentriert?
Zur Frage von Identität, Integrität, Integration und Abgrenzung
Eine Vielzahl von Personen, Vereinigungen und Methoden bezeichnet sich als „person–“ oder
„klientenzentriert”. Ist es möglich zu definieren, was „personzentriert“ eigentlich bedeutet? Oder ist es eine
Frage der je persönlichen Einstellung bzw. der Beliebigkeit? Wo liegen die Grenzen? Lassen sich zentrale
Punkte benennen? Und wenn ja, welche sind es? Ist jeder personzentriert, der das für sich in Anspruch nimmt,
oder sind es nur die, die wiederholen, was bereits Rogers gesagt hat? Sind Focusing und Experienzieller Ansatz
beispielsweise eine Weiterentwicklung oder eine Abweichung? Kann man Schulen kombinieren, Methoden
integrieren und Techniken ergänzen? Gibt es so etwas wie ein „Über Carl Rogers Hinaus“? Oder geht es bloß
um eine Exegese seiner „Heiligen Schriften“? Welche Perspektiven gibt es für die Weiterentwicklung und die
künftige Bedeutung jenes Paradigmas, das einst als radikale Gegenposition zu den vorherrschenden Richtungen
entwickelt wurde?
Es wird mit Nachdruck die Auffassung vertreten, dass es tatsächlich möglich ist, die „notwendigen und
hinreichenden Bedingungen“ dafür zu nennen, dass eine bestimmte Einstellung und ein entsprechendes Handeln
zu Recht beansprucht, personzentriert zu sein. Das Thema wird unter anderem aus anthropologischer,
erkenntnistheoretischer, methodisch–technischer und politischer Sicht diskutiert. Es kann gezeigt werden, dass
ein Benennen der „Grundbedingungen“ des personzentrierten Standpunktes weitreichende praktische
Konsequenzen hat. Und dass sich die Fragestellung, was personzentriert ist und was nicht, grundlegend als eine
(sozial)ethische Frage entpuppt.1
Die Fragestellung angesichts aktueller Tendenzen und Problemlösungsversuche:
Was von all dem, das „auf dem Markt“ angeboten wird, ist personzentriert?
Verschafft man sich einen auch nur groben Überblick über die angebotenen Referate und Workshops auf
manchen personzentrierten (klientenzentrierten, experienziellen, gesprächspsychotherapeutischen usw.)
Kongressen und Symposien der letzten Zeit, so fällt sofort die Vielzahl jener Themen auf, die sich mit
ergänzenden Methoden beschäftigen oder die Integration anderer Ansätze in den Personzentrierten diskutieren.2
Relativ oft ist auch die Ansicht zu finden, der Personzentrierte Ansatz müsse aus systemischen und/oder
körperorientierten Therapien heraus ergänzt werden.3 Diese Positionen werden meist entweder als
Weiterentwicklung bezeichnet oder aus der Notwendigkeit der Praxis heraus begründet. Vertreter einer am
Personverständnis orientierten Anthropologie sehen jedoch oft gerade das als Verwässerung oder als
anthropologisch wie ethisch unvereinbare Vermischung, was von den Protagonisten als Entwicklung oder
Praxisfortschritt verstanden wird.
Ein weiteres, in letzter Zeit relativ häufig auftretendes Phänomen ist der Versuch, verschiedene Richtungen oder
Suborientierungen bzw. eine „Vielfalt der Modelle“ oder verschiedene „Gesichter“ innerhalb der Personzentrierten Therapie zu benennen und zu systematisieren.4 Dabei werden manchmal Schwerpunktsetzungen
benannt, manchmal werden von den Grundlagen und Menschenbildern her inkompatible Positionen unter einem
Namen zusammengefasst. Zu Letzterem zählt auch der Versuch, die „Personzentrierte“ und die „Experienzielle
Therapie“ samt ihren verschiedenen Ausformungen bis hin zu den prozessdirektiven Vorgangsweisen als
zusammenpassend oder zumindest paradigmatisch ident anzusehen. Viele Kritiker sehen darin einen — zum Teil
krassen — Etikettenschwindel: Der „gute Name“ der „Klienten– oder Personzentrierten Psychotherapie“,
etabliert durch die Tradition im Gefolge der Arbeiten von Carl Rogers, würde nun zu Unrecht von Positionen in
Anspruch genommen, die mit deren anthropologischen Grundprinzipien und konkreten Vorgangsweisen in
einigen zentralen Bereich nur wenig gemeinsam haben.
1
Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Jubiläumssymposium der deutschsprachigen Verbände „Identität —
Begegnung – Kooperation. Person-/Klientenzentrierte Therapie und Beratung an der Jahrhundertwende, Salzburg, Februar
2000. Vgl. zum Ganzen: Schmid 2001d; 2001e.
2
So fanden sich beispielsweise auf dem Salzburger Jubiläumskongress 2000 Familientherapie, systemische Therapie,
Körpertherapie (Reich), Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), Expressive Arts Therapy, Focusing bzw.
Focusing-Therapie sowie ein Workshop mit dem Thema „Die Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers nicht verändern —
aber durch Ergänzungen wirksamer gestalten“ im Angebot.
3
Vgl. dazu ausführlich Schmid 1996, 77-112 (systemische Therapien); 1994, 426-497 (Körpertherapien).
4
So u. a. aus jeweils verschiedener Sicht und anderen Motiven etwa Finke (1999a; 2000), Lietaer (2000) bzw. Keil/Stumm
(2001).
1
In diesem Zusammenhang ist die Diskussion um die Namensgebung des Weltverbandes im Zuge der
„5. Internationalen Konferenz für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie“ (ICCCEP) und die
Generalversammlung des Weltverbandes in Chicago im Juni 2000 von Bedeutung. Sie brachte eine Klärung
insofern, als in bewusster Abgrenzung unterschiedlicher Konzepte (bei gleichzeitiger Betonung der
Notwendigkeit zur Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten) einstimmig (!) der Name zu „World
Association for Person-Centered and Experiential Psychotherapy and Counseling (WAPCEPC)“ (Hervorh. pfs)
geändert wurde. Sowohl die personzentrierte als auch die experienzielle Seite haben sich damit gegen die
Anwendung der Bezeichnung „personzentriert“ als Überbegriff auch für experienzielle Ansätze entschieden. Die
Präambel der neuen Statuten (http://www.pce-world.org) hält ausdrücklich fest, dass es sich um unterschiedliche
Paradigmata handelt und zwischen personzentrierten Ansätzen auf der einen Seite und experienziellen auf der
anderen unterschieden wird. Die Entscheidung wurde unter anderem damit begründet, dass die Unterschiede in
Anthropologie und Therapietheorie und –praxis eine Begriffsunterscheidung nach innen und außen erforderlich
machen. Das Europäische Netzwerk (NEAPCEPC; http://www.pce-europe.org) hat in derselben Weise eine
Namens- und Statutenänderung durchgeführt.5
Im Zuge der berufspolitischen Auseinandersetzungen und Bemühungen um Anerkennung, sei es durch den Staat,
sei es durch die Sozialversicherungsträger, gab es bislang zahlreiche Versuche, insbesondere auch in
Deutschland, die „Gesprächspsychotherapie“ aus anderen Ansätzen her, analytischen etwa oder
behavioristischen, zu erklären und die in anderen Orientierungen oder der Psychiatrie gebräuchlichen
Diagnoseschemata zu übernehmen oder zu adaptieren. So verständlich solche Bemühungen im Zuge des Ringens
um Einfluss und Anerkennung auf dem Gesundheitssektor auch sind, so wird Etliches davon von Theoretikern
und Praktikern6, die sich einer genuin personzentrierten Sicht verpflichtet fühlen, schlicht als plumpe
Anbiederung und als Ausverkauf der eigenen Prinzipien betrachtet. Zudem wird die Kritik laut, dass viel Geld
und Energie in ein Unterfangen gesteckt wird, das dem Ansatz fremd ist und dadurch Kreativität und
Weiterentwicklung des Eigenen behindert werden, sodass es beinahe zu einer inhaltlichen Stagnation gekommen
sei.
Zumindest zum Teil ist in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung der sich auf Rogers berufenden
Vereinigungen in Österreich zu sehen — sogar in zugespitzter Weise. Nicht nur haben inhaltlich wie
bildungspolitisch und pädagogisch–didaktisch unvereinbare Positionen zu einer auch formalen Trennung
geführt; die psychotherapeutischen Ansätze, die sich herausgebildet haben, können geradezu als paradigmatisch
für verschiedene Konzepte therapeutischen Verstehens und Vorgehens gelten: Von einer sich als „rogerianisch“
verstehenden, bisweilen strengen Orthodoxie7 über eine dem Konzept Gendlins verpflichtete Theorie und Praxis8
und eine durch eklektische Methodenzusammenstellung charakterisierte Einstellung9 zu einem am Personbegriff
orientierten, dialogischen Konzept10 finden sich (zumindest) vier weitgehend bis in die Wurzeln verschiedene
Konzeptionen, die sich alle auf Rogers berufen. Den Positionen entsprechen — zum Teil erheblich —
unterschiedliche Ausbildungsmodelle und eine verschiedene Praxis.
Angesichts der Vielzahl von Personen, Vereinigungen und Methoden, die sich heute weltweit als „klienten–“
oder „personzentriert” bezeichnen, stellt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich zu definieren, was
„personzentriert“ eigentlich bedeutet? Oder ist es eine Frage der je persönlichen Einstellung bzw. der
Beliebigkeit? Wo liegen die Grenzen? Lassen sich zentrale Punkte benennen? Und wenn ja, welche sind es? Ist
jeder personzentriert, der das für sich in Anspruch nimmt, oder sind es nur die, die wiederholen, was bereits
Rogers gesagt hat? Sind Focusing und Experienzieller Ansatz eine Weiterentwicklung oder eine Abweichung?
Kann man sinnvollerweise Schulen kombinieren, Methoden integrieren und Techniken ergänzen? Gibt es so
etwas wie ein „Über Carl Rogers Hinaus“? Oder geht es bloß um eine Exegese seiner „Heiligen Schriften“? Sind
5
Auch die neue internationale Zeitschrift nennt sich „Person-Centered and Experiential Psychotherapies“. Zum Thema s. a.
weiter unten.
6
Auf die durchgehende Schreibung geschlechtsspezifischer Endungen wird der Lesbarkeit halber verzichtet. Mit der
Verwendung des Gattungsbegriffes sind immer Personen beider Geschlechter bezeichnet.
7
Vgl. etwa den Titel von Stipsits/Hutterer 1992 („Rogerianische Psychotherapie“) und die scharf ablehnende Haltung von
Rogers zur Bezeichnung des Ansatzes mit seinem Namen (Belege bei Schmid 1996, 128).
8
Derzeit finden sich in allen deutschsprachigen Ländern auch Positionen und Ausbildungen, die die Möglichkeit einer
Kombination des Konzeptes von Rogers mit dem des (späteren) Gendlin annehmen. Vgl. z B. Wiltschko (etwa 1995) oder
Keil und Stölzl (2001: „Ein weiteres Charakteristikum im Verständnis der Klientenzentrierten Therapie in der ÖGwG stellt
die bewusste Integration des Experiencing–Konzepts von Gendlin dar. Dieses beschreibt den therapeutischen Prozess als
Wiederherstellung der Explikation des Erlebens aus dem implizit gespürten Experiencing. Gendlins Arbeit mit dem ‚felt
sense’ wird als Präzisierung des Rogers'schen Therapiekonzepts angesehen. In ähnlicher Weise verstehen wir die Focusing–
Methode als Konkretisierung des Rogers–Ansatzes in vielen außertherapeutischen Situationen beim Umgang mit innerem
Erleben. Es wird also Wert darauf gelegt, die Konzepte von Gendlin in den Ansatz von Rogers zu integrieren und sie nicht
von einem damit nicht zu vereinbarenden Paradigma her zu verstehen.“).
9
Vgl. die nach dessen Gründung veröffentlichten Leitlinien des „Forums“ (1996), deren eine die „Auseinandersetzung mit
verwandten und kompatiblen Modellen wie z. B. Focusing, körperorientierte Ansätze, tiefenpsychologische, systemische und
existenzielle Konzepte und Überlegungen“ darstellt (Hervorh. pfs).
10
Z.B. Frenzel 1998; Schmid 1999a; 1999b; 2001c sowie der Beitrag von Winkler in diesem Buch.
2
die verschiedenen vorzufindenden Auffassungen Suborientierungen im Sinne der Variation ein und desselben
Paradigmas oder sind das bereits im Kern verschiedene Ansätze?
Allein das Aufwerfen solcher Fragen wird von manchen bereits als dogmatisch, fundamentalistisch oder
imperialistisch etikettiert. Man gerät in den Geruch des moralisierenden Wächters. Werden damit nicht die
Prinzipien von Offenheit, Individualität, Demokratie und Weiterentwicklung verletzt?
Umgekehrt: Sind es aber nicht purer Eklektizismus, Gleichgültigkeit gegenüber der Konsistenz von Menschenbild und therapeutischem Angebot und damit Respektlosigkeit vor dem Klienten zur Befriedigung eigener
Bedürfnisse, zeitgeistige und ökonomisch motivierte Anpassung und standpunktlose Beliebigkeit oder schlicht
mangelnde Reflexion und Gedankenlosigkeit, welche die Integrität des therapeutischen Angebots an den Klienten und die Klientin infrage stellen und die ursprüngliche Radikalität und „Power“ des Ansatzes aufgeben?
Diese und verwandte Fragestellungen sollen hier diskutiert werden, auch wenn es vielleicht nicht sehr populär ist
— und zwar in der Hoffnung, zu Grundsatzdiskursen anzuregen und die Meinungen dazu, was als das Zentrale
einer personzentrierten Position angesehen werden kann, auszutauschen. Allerdings wird diese Frage danach,
was das Wesentliche und damit das Paradigmatische des Personzentrierten Ansatzes ausmacht, die Frage also
nach den „wesentlichen und hinreichenden Bedingungen dafür, personzentriert zu sein“, von den Wurzeln
aufgerollt. Dies geschieht im Rahmen der These, Psychotherapie im Allgemeinen, Personzentrierte
Psychotherapie im Besonderen sei eine ethische Disziplin.
An–Spruch und Ver–Antwort–ung
Personzentrierte Psychotherapie als Praxis der Sozialethik
Psychotherapeutisches Handeln gründet in einer ethischen Entscheidung
Wie an anderer Stelle dargelegt (Schmid 2001d; 2001e), ist bereits die Entscheidung, psychotherapeutisch oder
beratend usw. tätig zu sein, eine ethische Entscheidung. Sie stellt die Ant–Wort auf den An–Spruch eines
leidenden, Hilfe bedürftigen Menschen dar. Grundlage aller Psychotherapie ist die Reaktion auf Not — die Not
anderer und die eigene Not. Wer psychotherapeutisch tätig ist, lässt sich von einem Anderen in An–Spruch
nehmen. Die Not des Anderen fordert heraus. Das Wahrnehmen der Ver–Antwortung ist die Folge.
Die Herausforderung, die von der Not eines leidenden Menschen ausgeht, der An–Ruf, ist primär. Er macht
betroffen. Sein Wahrnehmen erfolgt vor jeder reflektierten Reaktion. Das Erleben (des Anspruchs) und damit
das Leben gehen jeder Reflexion voraus. Die Ethik ist in diesem Sinne „die erste Philosophie“ (vgl. Levinas
1983); dieses Erleben selbst beinhaltet einen ethischen Anspruch. Er wird nicht erst durch reflexiven Diskurs
erschlossen, er ist unmittelbar gegeben („ich brauche Hilfe — und zwar von dir!“) — un–Mittel–bar gegeben als
jene besondere Form des Wissens, die in traditioneller Sprache ausgedrückt, „Ge–Wissen“ genannt wird. Sich
diesem Angesprochenwerden zu stellen, sich betreffen zu lassen, bedeutet, sich auf eine personale Begegnung
einzulassen, also auf eine per definitionem un–Mittel–bare Beziehung11. Es bedeutet, dem Gegenüber als Person
entgegenzutreten und sich von ihm in Anspruch nehmen zu lassen.
Das Menschenbild und damit die philosophische Anthropologie kommen ins Spiel, wenn es um die Frage geht,
ob und (in der Folge dann) wie dem erfahrenen Anspruch ent–sprochen wird: Das Menschenbild als aus der
Erfahrung gewonnene Weltanschauung in Bezug auf das Verständnis des Menschen, welche immer nicht
beweisbare, aber subjektiv bestimmende Glaubensannahmen („basic beliefs“) darstellt, und die Anthropologie
als deren wissenschaftlich–systematische Reflexion.
Der oder die jeweils Andere ist dabei ein Anderer im Sinne der Begegnungsphilosophie, d. h. es handelt sich
nicht primär um die Beziehung zu einem Alter Ego, sondern um die Beziehung zu einem Fremden, der
wesentlich anders ist als ich.12 Der Andere steht mir gegenüber, weshalb diese Form der Beziehung zurecht „Be–
geg(e)n–ung“ genannt wird. Wird dieses Anderssein des Anderen anerkannt, so ist der vorrangige
Wahrnehmungsmodus der des (Wohl wollenden) An–Erkennens und nicht der des (objektivierenden und damit
distanzierenden) Erkennens. Deshalb ist die mit einer solchen psychotherapeutischen Auffassung verbundene
Erkenntnistheorie immer eine dialogisch–diskursive, pluralistische und konstruktivistische.
In der Praxis wie in der theoretischen Reflexion zeigt sich also: Das Erste in der psychotherapeutischen
Beziehung ist eine ethische Entscheidung, die Grund–Entscheidung, dem An–Ruf des Hilfesuchenden zu ent–
sprechen, d. h. mit ihm therapeutisch zu arbeiten, und nicht nichts oder anderes zu tun. Auch der nächste Schritt,
die Wahl der Art und Weise bzw. der Mittel, ist ein ethischer: Welchen Weg der Therapeut wählt, wird
wesentlich von der (ethischen) Entscheidung bestimmt, die seiner Auffassung nach optimale Art der
Hilfestellung anzubieten. Wer davon überzeugt ist, dass der Klient dieser oder jener Hilfe bedarf, ist
herausgefordert, ihm diese nötige und keine andere, mindere anzubieten. Hier kommt wieder das Menschenbild
ins Spiel. Auch beim zweiten Schritt fußt die ethische Entscheidung auf der anthropologischen Vorannahme
11
Zum Verständnis von Begegnung, Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit: Schmid 1994; 1996; 2001d; 2001f.
Das ändert nichts daran, dass emanzipatorische Psychotherapie immer darin besteht, das Gemeinsame und daher Bekannte
als Zugang zu nützen, um dem Anderen und damit Fremden zur Selbstständigkeit zu helfen. Empathie bedarf des Bekannten,
um sich ans Unbekannte Verstehen wollend heranzutasten und dieses zu unterstützen, sich selbst besser zu verstehen.
12
3
bzw. den Glaubensannahmen des Therapeuten. Sein Menschenbild entscheidet, wenn er sein Tun
verantwortungsvoll reflektiert, auch wie er handelt.
Für eine solche verantwortungsvolle, professionelle Psychotherapie ist freilich auch noch die wissenschaftliche
Reflexion entscheidend. Spontan – und durchaus ethisch motiviert —, aber unreflektiert zu helfen, kann, wie
viele aus leidvoller Erfahrung wissen, die Sache sogar verschlimmern, statt sie besser zu machen. Um Hilfe
anbieten zu können, die dieser Bezeichnung gerecht wird, bedarf es der systematischen Erforschung und
Reflexion solchen Tuns, dem sich die Psychotherapeutik (die Lehre von der Psychotherapie) verschrieben hat.
Sich mit ihren Ergebnissen auseinander zu setzen und zu weiterem Fortschritt in der Psychotherapeutik und
damit in der Psychotherapie (dem praktischen therapeutischen Tun) beizutragen, gehört ebenfalls zu den
ethischen Notwendigkeiten eines Psychotherapeuten.
In zumindest drei Dimensionen kommt also die Ethik ins Spiel: Bei der Grund legenden Entscheidung zu helfen
bzw. zu therapieren, bei jener, wie das geschehen soll, und bei der Reflexion dieses Tuns in Hinblick auf weitere
Notwendigkeiten, so zu handeln.
Es ist wohl müßig zu betonen, dass Ethik hier nicht als modernes Ersatzwort für Moral steht, sondern deren
Grundlage darstellt, also „Moralphilosophie“ bedeutet. Auch lässt sich Ethik nicht auf „Berufsethik“
einschränken (als ließe sich Rolle und Aufgabe einer Person unabhängig von derselben betrachten), wie dies
leider oft in diesem Kontext und der gegenwärtigen Diskussion um Ethikkommissionen usw. geschieht. Und mit
Moralisieren hat Ethik schon gar nichts zu tun.13
Ethik als „erste Philosophie“ — Psychotherapie als Sozialethik
Philosophisch ausgearbeitet ist dies unter anderem bei dem litauischen Begegnungsphilosophen Emmanuel
Levinas (1905–1995) zu finden, der noch radikaler als Buber die Beziehungsbedingtheit der Person in den
Mittelpunkt stellt. Levinas (1983; 1987; 1992) denkt prinzipiell vom Anderen her und macht das absolute
Anderssein des Anderen zum Ausgangspunkt seiner Anthropologie: Nicht die Reflexion (des Ich am Du),
sondern die schon jeweils vorgegebene Beziehungserfahrung, die im Anderen ihren Ursprung hat, ist die
Grundlage des Selbstbewusstseins: also "Du–Ich" statt "Ich–Du". Ich werde in Beziehungen hineingeboren. Der
Andere ist vorgängig da und damit nicht ein Alter Ego, sondern ein absolut Anderer, ein bleibendes Rätsel, „das
wach hält“, und somit ständige Herausforderung. Er "sucht uns heim", was Levinas mit der Metapher des
"Antlitzes [visage]", das uns anspricht, ausdrückt — eine Erinnerung an den Ursprung des Personbegriffs14;
seine Not fordert uns heraus. Die Grundkategorie des Personseins ist demzufolge Ver–Antwort–lichkeit: Aus der
Begegnung erwächst die Verpflichtung zur Antwort. Der traditionellen abendländischen Philosophie mag
Levinas den Vorwurf nicht ersparen, nichts als Egologie — also bloße Rede vom Ich — zu sein. Demgegenüber
habe am Anfang aller Philosophie die Ethik zu stehen.
Das griechische Wort „ηθος [ẽthos]“ bedeutet ursprünglich den Stall oder Weideplatz der Tiere sowie deren Lebens– und
Verhaltensweise, auf Menschen übertragen den durch Herkunft und Gemeinschaft bestimmten Ort des Wohnens und insofern
auch alles, was im Rahmen gemeinsamen Wohnens Brauch und Sitte ist. Erst von daher wird es auf den Einzelnen übertragen
und bedeutet dann den auf die gemeinsame Sitte bezogenen Charakter und schließlich generell die Handlungsweise, die
Einstellung und Gesinnung von Personen.
„Moral“ kommt vom lateinischen „mos“, das „Wille“ heißt, vor allem der (von Göttern oder Herrschern) auferlegte Wille,
also Vorschriften und Gesetze; im Zuge der Bedeutungsentwicklung meint auch „mos“ den persönlichen Lebenswandel und
die Gesinnung des Einzelnen.
Das deutsche Wort „Sitte“ ist mit „ηθος “ wie mit „εθος [éthos]“ = Gewohnheit, Sitte“ und dem lateinischen „suescere =
sich gewöhnen, gewohnt sein, pflegen“ verwandt. Der indogermanische Stamm, auf den diese Wörter verweisen, bedeutet
„sich zu eigen machen, nach eigener Art leben“. So heißt „Sitte“ ursprünglich das aufgrund des Herkommens Gewohnte.
(Anzenbacher 1992, 15f)
Die Etymologie verweist also auf den sozialen Kontext, auf die gemeinsame Sitte, den Brauch, das Gesetz der Gemeinschaft.
Der individuale Aspekt ist erst der spätere.
Fundamentalethik (oder allgemeine Ethik im Sinne einer Moralphilosophie) bedeutet im Gegensatz zu Normenproblemen
bestimmter Praxisbereiche (spezielle Ethiken) die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragestellungen
des Moralischen (der Bewertung von der Verantwortlichkeit unterliegenden Handlungen in Bezug darauf, was zu tun und
was zu unterlassen ist). Kasuistik bedeutet die Anwendung von Rechtsregeln oder allgemeinen Moralnormen auf Einzelfälle.
Die Termini können folgendermaßen zur Unterscheidung verwendet werden: Ist die Rede von „moralischem Handeln“, so
wird Handeln in konkreten Situationen unter dem Aspekt betrachtet, ob es Sollensvorstellungen entspricht. („Was hat ein
Therapeut vor Beginn einer Therapie zu tun? Z.B. Indikation überprüfen, an Selbstverantwortung des Klienten bezüglich der
medizinischen Abklärung erinnern, eigene Befangenheit überprüfen etc.) „Ethisches Handeln“ wird gebraucht, wenn der
Fokus darauf liegt, ob das Handeln generell grundlegenden Prinzipien entspricht („was heißt es, psychotherapeutisch zu
handeln?“, „wieweit bin als Mensch zu Hilfeleistungen verpflichtet?“, auch die Verpflichtung zur ständigen Supervision ist
als grundsätzliche Verantwortung gegenüber den Klienten und der eigenen Person eine ethische, usw.). „Moralisieren“
bedeutet, die Frage nach dem, was ist, zu überspringen und sofort mit einem „Du sollst“ oder „Du musst“ zu reagieren
(„Gleich, in welcher Situation: man darf als Personzentrierter Therapeut dem Klienten niemals Ratschläge geben.“).
14
Vgl. Schmid 1991; 1994; 1998.
13
4
In dieser Perspektive ist Psychotherapie das Ergreifen der Verantwortlichkeit gegenüber dem Klienten als einem
Anderen. Sie ist Handeln aus der Begegnung. Als engagierter und solidarischer Dienst entspricht sie einer
sozialethischen Grundhaltung.15
Die Paradigmenwechsel bei Levinas und Rogers sind zweifellos parallel zu sehen sind: Dem prinzipiellen
Vorrang des Anderen entspricht die prinzipielle Klientenzentrierung der Psychotherapie. Sie erfordert,
Psychotherapie zuallererst unter einem ethischen Blickwinkel zu sehen. Psychotherapie, zumal Personzentrierte,
ist, wie immer sie sonst noch bestimmt werden mag, eine (sozial)ethische Disziplin.
Personzentrierte Psychotherapie gründet in der ethischen Entscheidung, die von Rogers (1957a) formulierten
„Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie“ nicht nur als notwendig, sondern als
hinreichend anzusehen.
Damit ist das meines Erachtens entscheidende Kriterium benannt.
Rogers’ Statement von 1957 als Kriterium für personzentrierte Ansätze
Der reflektierte Zugang von Carl Rogers zur Psychotherapeutik war stark phänomenologisch bestimmt.
Aufgrund der Erfahrung formulierte er die berühmt gewordenen sechs Bedingungen für
Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie, die er — und darin unterscheidet sich Personzentrierte
Psychotherapie von allen anderen Orientierungen — als ausreichend ansah.16 Dieses Kernstück personzentrierter
Theorie besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass Psychotherapie Antwort auf Inkongruenz ist, auf einen
verletzlichen bzw. ängstlichen Menschen. Wenn diese sechs Bedingungen notwendig und hinreichend für eine
konstruktive Entwicklung der Person durch Psychotherapie sind, so stellt es eine Verpflichtung für den Therapeuten dar, sie zu beachten (Kontakt, Klienteninkongruenz, Kommunikation der Therapeuteneinstellungen) bzw.
„anzubieten“ oder zu „sein“ (Kongruenz, bedingungsfreie Zuwendung, Empathie). Der Therapeut wird also von
Rogers selbst als ein auf die Not Antwortender und daher Ver–Antwort–licher in der Kommunikation begriffen.
Mit einem Wort: Psychotherapie wird ethisch fundiert.
Rogers’ Aufsatz stellt eine Metatheorie vor und bezieht sich keineswegs nur auf die Personzentrierte
Psychotherapie. Allerdings wird dem Kriterium, dass sie hinreichend sind, nur in der Personzentrierten Therapie
entsprochen. Es stellt das Schibboleth dar. In ihm liegt meines Erachtens das zentrale Merkmal dafür, ob eine
Therapie bzw. Therapietheorie als personzentriert anzusehen ist oder nicht.
Im Kern ist in diesem Statement aus dem Jahr 1957 alles Wesentliche der personzentrierten Theorie, zumindest
implizit, enthalten. Es ist sowohl historisch als auch theoretisch–systematisch der Maßstab dafür, ob sich ein
Ansatz zu Recht personzentriert nennen darf.
Mit der immer genaueren Ausfaltung der anthropologischen Grundlagen wurde parallel auch die Praxis der
Therapie weiter entwickelt (vgl. Farber/Brink/Raskin 1996). Natürlich arbeiteten Rogers und andere viele
Implikationen und Konsequenzen dieser Theorie erst später detailliert heraus. So hat Rogers mit diesen Grund–
Sätzen keine Handlungsanweisungen formuliert und so gut wie nichts über das praktische therapeutische
Vorgehen ausgesagt. Zwar ist unschwer die prinzipielle Nichtdirektivität erkennbar und allein daraus kann im
Wesentlichen das zu Grunde liegende Menschenbild herausgelesen werden, das seinerseits wieder bestimmtes
Handeln ein– und anderes ausschließt. Insgesamt jedoch ist dieser Satz an Prinzipien auf einem ziemlich
abstrakten Niveau formuliert. Das konkrete Handeln ist jeweils daraus erst abzuleiten und die zugehörige Handlungstheorie auf dieser Basis zu entwerfen. Beide müssen sich jedoch stets an den Grundlagen überprüfen und
von ihnen her kritisieren lassen.
Die personzentrierten Grundannahmen sagen etwa nichts darüber aus, wie die Kommunikation zwischen
Klient(en) und Therapeut(en) stattzufinden hat. Nirgends steht darin etwas von rein oder vorwiegend verbaler
Kommunikation, von (verbaler) Gesprächstherapie oder auch nur von einer Bevorzugung verbaler Interaktionen
gegenüber anderen, etwa der Arbeit mit dem Körper oder spielerischen und künstlerischen Ausdrucks– und
Kommunikationsformen (vgl. Schmid 1994; 1996). Rogers (z. B. 1975j; 1970a) selbst hielt eine Vielfalt von persönlichen Techniken mit den Grundhaltungen für vereinbar.
Daher gibt es ohne Zweifel einen breiten Spielraum, personzentriert zu arbeiten und zu gestalten. Es gibt
keineswegs nur die eine richtige Art, personzentriert zu handeln. Rogers selbst hat die personzentrierte Haltung
im Laufe seines Lebens nicht nur selbst verschieden praktiziert, sondern auch andere ausdrücklich ermuntert,
15
S. dazu Pfeiffer 1995; Wittrahm 1995; Schmid 1996, 521–532; 1997b; 1998c.
Konstruktive Persönlichkeitsentwicklung ereignet sich, wenn Folgendes gegeben ist (Rogers 1957a):
1. Es besteht ein psychologischer Kontakt, also ein Minimum an Beziehung zwischen Therapeut und Klient.
2. Der Klient befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich.
3. Der Therapeut ist in der Beziehung kongruent.
4. Der Therapeut empfindet eine bedingungsfreie Wertschätzung für den Klienten.
5. Der Therapeut empfindet empathisches Verstehen für den Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem Klienten
gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
6. Die Kommunikation der bedingungsfreien Wertschätzung und des empathischen Verstehens durch den Therapeuten
erreicht den Klienten wenigstens in einem minimalen Ausmaß.
16
5
ihre eigenen Wege im Denken und in der praktischen Arbeit zu gehen (vgl. z. B. Rogers 1959a, 16). So spannt
sich ein breiter Bogen von Virginia Axlines Nondirektiver Spieltherapie (1947) bis zu den therapeutischen und
politischen Implikationen von Großgruppenarbeit (Rogers 1980a), von den frühen Fallbeispielen bis zu den
späten Demonstration Interviews, von der Studentenberatung bis zur klinischen Arbeit mit so genannten
Psychotikern usw. Die Vielfalt gab es schon zu Lebzeiten des Begründers und sie ist auch in der
Weiterentwicklung seit Rogers und seinen Mitarbeitern bis zur vielfältigen heutigen Praxis sichtbar..
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Vorgangsweisen liegen heute zweifellos nicht nur im Praktischen,
sondern man muss auch in der Theorie von personzentrierten Ansätzen im Plural sprechen.
Umgekehrt ist es aber auch nicht so, dass alles zu Recht als personzentriert bezeichnet werden kann, wenn dieser
Begriff noch irgendetwas bedeuten soll. Es macht keinen Sinn, ein bestimmtes Handeln als personzentriert zu
etikettieren, gleich, ob es mit den personzentrierten Grundannahmen übereinstimmt oder nicht — zum Beispiel
immer dann, wenn es selbst jemand so nennt. An der Vereinbarkeit mit dem beschriebenen phänomenologisch–
ethisch–anthropologischen Basisansatz muss es sich messen lassen; ist es mit diesem nicht kompatibel, sollte es
fairerweise auch anders bezeichnet werden (vgl. Schmid 2001d). Damit wird unzutreffenden Vermischungen
und in der Folge theoretischer wie praktischer Unklarheit entgegengetreten. Es ist sauberer, beispielsweise die
Arbeit auf einer absichtslosen Beziehungsebene von erlebens(prozess)stimulierendem Vorgehen auch
terminologisch zu unterscheiden, weil verschiedene Vorstellungen von Therapie und daher vom Menschen
dahinter stehen. Auch dies sind ethische und moralische Fragen, jene der korrekten und klaren Deklarierung und
der kohärenten und transparenten Arbeit.
Das dem Person–zentrierten Ansatz zu Grunde liegende Menschenbild, wie es sich in nuce bereits in den
„notwendigen und hinreichenden Bedingungen“ ausdrückt, ist nicht beliebig und nicht beliebig kombinierbar. Es
ist mit bestimmten erkenntnistheoretischen und entwicklungspsychologischen Positionen verbunden, mit
Motivations–, Persönlichkeits– und Beziehungstheorien inklusive Theorien der leidenden Person und ihrer
Therapie. Es stimmt mit gewissen wissenschaftstheoretischen und forschungsmethodologischen Ansichten sowie
mit politischen Grundeinstellungen zusammen und mit anderen nicht. Vor allem aber stellt es, wie beschrieben,
eine bestimmte (sozial-)ethische Position dar (vgl. a. ders. 1998b; 1999a) — sodass man, kurz gefasst, sagen
kann: Personzentrierte Psychotherapeutik ist eine Sozialethik, Personzentrierte Psychotherapie die Praxis einer
sozialethischen Position. Sie stellt die konkrete Praxis eines aus Erfahrung und Phänomenologie gewonnenen
Menschenbildes dar, das den Menschen als Person versteht und ihm daher — ihn anerkennend — begegnet statt
ihn — ihn zu erkennen suchend — zu objektivieren.
Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit
Personsein und Personwerden in uneinholbarer Dialektik
Eine nähere Bestimmung des mit der Namensgebung als „Person“-zentrierter Ansatz und dieser Position
verbundenen Menschenbildes kann — wie mehrfach ausführlich dargelegt17 — auf der Basis der mit dem
abendländischen Personbegriff verbundenen Entwicklungen expliziert werden. Die wichtigsten Elemente seien
hier als unabdingbare Basis für die nachfolgenden Überlegungen kurz rekapituliert.
Mit der Bezeichnung des Menschen als Person wird an die in der abendländischen Geistesgeschichte aus der
Theologie und Philosophie in die Psychologie und Psychotherapie eingegangene Diskussion um das
Menschenbild angeschlossen, in der über nahezu zwei Jahrtausende zwei Traditionsstränge miteinander in
Konkurrenz lagen: eine stärker individuelle (oder substanziale), die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung des
Menschen herausstreichende Position und eine stärker relationale (oder: transzendente) Ansicht, ein aus der
Beziehung herkommendes und seine Beziehungsbedingtheit betonendes Verständnis des Menschen.
Es kann nachgewiesen werden, dass in der personzentrierten Anthropologie beide Dimensionen nicht nur
enthalten, sondern konsequent weiter entwickelt sind (Schmid 1991). Nicht zufällig zitiert Rogers ebenso gern
Søren Kierkegaard wie Martin Buber: Von Kierkegaard, der die Einzigartigkeit und Unaustauschbarkeit betont
und hervorhebt, dass sich der Mensch in seiner Wahlmöglichkeit und Freiheit selbst erfährt, übernimmt Rogers,
dass es darum gehe, "das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist" (Kierkegaard 1924, 17; vgl. z. B. Rogers
1961a, 167). Den die dialogische Existenz der Person explizierenden Buber führt Rogers immer wieder als
Gewährsmann an und misst die personzentrierte Beziehung an dessen Ich-Du-Beziehung. Für Buber (1923, 18)
gilt: "Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung." Die fundamentale
Tatsache der Existenz ist Buber zufolge "der Mensch mit dem Menschen. [...] Person erscheint, indem sie zu
anderen in Beziehung tritt." (Ders. 1948, 164).
Einerseits ist so mit Person ihre Selbstständigkeit und Einzigartigkeit, ihre Freiheit und Würde, ihre Einheit, ihre
Souveränität und Selbstbestimmung, ihre Verantwortlichkeit, die von den Vereinten Nationen deklarierten
Menschenrechte usw. verbunden. Das ist auch gemeint, wenn der Mensch von Anfang an und unabhängig von
seiner physischen oder psychischen Gesundheit und Entwicklung als Person bezeichnet wird. Personsein heißt,
so verstanden, Selbstständigsein: Aus-sich-Sein und Für-sich-Sein.
17
6
Schmid 1991; 1994; 1997a; 1998a; 1998c; 1998d; 1998e.
Andererseits wird Person von der Beziehung her verstanden, aus der Partnerschaft, aus dem Dialog, aus der
Verbindung zur Welt, von ihrer Angewiesenheit auf andere her. Demnach ist sie im Ganzen der Gemeinschaft
und damit in ihrer Verantwortung für andere zu sehen. Personsein heißt hier Aus- und In-Beziehung-Sein: Vonanderen-her- und Für-Andere-Sein, Auf-Andere-angewiesen-Sein.
Beide Gesichtspunkte sind inkommensurabel, setzt man sie absolut. Beide sind aber unabdingbar: Zur Person
gehören in unüberwindbarer dialektischer Verwiesenheit Selbstständigkeit wie Selbstbestimmung einerseits und
Beziehungsoffenheit wie Beziehungsangewiesenheit andererseits, Erfahrung und Begegnung, Souveränität und
Engagement, Autonomie und Solidarität, Ich und Wir. Der Mensch ist von Anfang an Person als eigenständiges,
unverwechselbares Individuum (er ist der, der er ist) und er ist von Anfang an auf die personale Gemeinschaft
mit Anderen bezogen, ja auf solche Beziehung angewiesen (er ist aus Begegnungserfahrungen der geworden, der
er ist, und entwickelt sich durch solche Erfahrungen weiter)18. Erst durch die Beziehung zu anderen Personen
entfaltet und verwirklicht er sein Person-Sein: Er wird Persönlichkeit. Ein solcher Personbegriff steht ebenso im
Kontrast zu einem individualistisch-privatistischen wie zu einem kollektivistischen Menschenbild.
Die Spannung zwischen beiden Personbegriffen, die es auszuhalten statt vorschnell aufzulösen gilt, ist das
Charakteristische am Verständnis der Person im Personzentrierten Ansatz. Diese Spannung findet sich in der
Therapie wieder, wenn es darum geht, dass der Klient durch die Beziehung er selbst wird, dabei begreifend, was
er immer schon selbst war und erst noch werden kann (Aktualisierungstendenz). Gleichermaßen zeigt sich diese
Spannung, wenn es darum geht, dass der Therapeut authentisch er selbst und doch einfühlend und wertschätzend
ganz auf den anderen bezogen ist (Gegenwärtigkeit). Der Therapeut ist Alter Ego und er ist Beziehungspartner.
Die Spannung ist in der therapeutischen Beziehung gegeben, wenn das personale Beziehungsangebot des einen
in eine tatsächliche solche Beziehung mündet, im anderen auslöst und zum Vorschein bringt, was schon angelegt
war, aber der Beziehung bedurfte, es zu wecken und zu (neuer) Entwicklung anzuregen. In der Austragung
dieser Gegensätze, nicht im Ausgleich, im ständigen Gegenüber der Begegnung geschieht die Aktualisierung der
Möglichkeiten der Person und wächst die Persönlichkeit.
Be–geg(e)n–ung (englisch "en–counter") bedeutet wörtlich, etwas oder jemandem gegenüber zu stehen. Es ist
eine Beziehung, die den Anderen als einen prinzipiell Anderen respektiert und sich von diesem Anders– und Unerwartetsein überraschen und berühren lässt. Begegnung geschieht ohne Absicht; sie ist ein staunendes
Zusammentreffen mit der Wirklichkeit des Anderen, ein "Betroffenwerden vom Wesen des Gegenüber–
Stehenden" (Guardini 1955, 226). Dabei wird der Andere weder vereinnahmt noch von außen beurteilt.
Begegnung ist also jene Form der Beziehung, die den größtmöglichen Respekt vor dem Anderen ebenso
verwirklicht wie eine ganz besondere Nähe. Sie ist die dem Personsein im Sinne dieses Respekts vor der
Autonomie des Anderen angemessene Form der Beziehung (und entspricht damit dem substanzialen
Personbegriff): In der Begegnung tritt Person der Person gegenüber. Dies meint freilich weder allein einen
einmaligen, außergewöhnlichen Moment noch einen dauernden, unveränderten Zustand, sondern einen Prozess.
Er führt vom Besprechen zum Gespräch, letztlich, wie bereits erwähnt, zur wechselseitigen An–Erkennung als
Person statt zur Erkenntnis über den Anderen.19
Beide Aspekte des Personseins sind auch für das Verständnis der leidenden Person und ihrer Therapie zentral.
Sieht man es vom Selbstbestimmungsaspekt her, so liegen die Ursachen für eine eingeschränkte Sicht der
Möglichkeiten zu handeln und leidvollem Erleben wirkungsvoll zu begegnen in mangelnder Selbstständigkeit
und subjektiv erlebter Ausweglosigkeit. Psychotherapie ist eine Therapie des Selbst, ein Prozess, welcher der
Einschränkung der Selbstständigkeit entgegenwirkt durch die Unterstützung der Aktualisierungstendenz bei der
Integration der Erfahrung in das Selbst: "Psychotherapeutisch handeln bedeutet, die potenziell vorhandenen
Fähigkeiten eines kompetenten Individuums zu fördern." (Rogers 1959a, 47) Der Therapeut wird hier als
"Facilitator" verstanden: Die Förderung der Autonomie geschieht durch eine personzentrierte Beziehung, die er
anbietet.
Sieht man es vom damit bereits angesprochenen Beziehungsaspekt her, so ist eine Beziehungsstörung ebenso die
Ursache von psychischem Leiden wie ein Aspekt dieses Leidens (Pfeiffer 1991). Psychotherapie ist, so gesehen,
eine Interaktion, welche die Beziehungsstörung aufzuheben bemüht ist durch eine Beziehung, die auf personale
Begegnung hin offen ist. Genau betrachtet ist Psychotherapie ein Prozess, der sich von einer einseitigen,
abhängigen Relation zwischen Therapeut und Klient in Richtung auf wechselseitige Begegnung entwickelt.20
18
Die dialogische Frage "Wer bist du?" schließt die Frage nach dem "Woher" und nach dem "Wohin" ein.
Zu den konstituierenden Elementen von Begegnung s. jetzt a. Schmid 2001d.
20
Sie ist deshalb letztlich für wechselseitige personale Begegnung offen. Davon auszugehen, Personzentrierte Therapie sei
immer und von allem Anfang an wechselseitige Begegnung, wäre ein idealistisches Missverständnis; sie ist oft, jedenfalls
meist zu Beginn in vielfacher Hinsicht asymmetrisch. Aber sie ist offen für Wechselseitigkeit. Die Angebote des Therapeuten
zur Begegnung mögen zunächst einseitig sein in dem Sinn, dass für den Therapeuten personale Begegnung ist, was für den
Klienten noch nicht als solche angenommen werden kann. Der Prozess aber bewegt sich in Richtung auf volle,
wechselseitige und symmetrische Begegnung, bei der beide Personen in freier und verantwortungsbewusster Weise einander
als Personen gegenübertreten und somit einander als Personen gegenwärtig sind. Ist dies verwirklicht, handelt es sich um
keine Therapie mehr. Damit ist das Ziel der Therapie letztlich ihre Überwindung und also Abschaffung, um wechselseitiger
personaler Begegnung Platz zu machen. — Von ihrer Natur her tendiert im Übrigen gerade die Gruppe zur Überwindung
einseitiger Begegnungsformen, weil die strikte Trennung in „hie Therapeut, hie Klienten“ leichter aufgehoben werden kann.
19
7
Der Therapeut versucht nicht, im herkömmlichen Sinne zu "helfen",21 sondern er lässt sich als Person auf die
Begegnung mit dem Klienten ein, den er gleichfalls als Person in den Blick nimmt, gibt auf diese Weise den
traditionellen Schutz der Expertenrolle auf und tritt damit selbst in einen Prozess der Veränderung ein. Das
Expertentum des Therapeuten besteht, pointiert formuliert, vielmehr gerade darin, sich nicht als Experte
aufzuspielen oder, wenn es heikel wird, in die Expertenrolle zu flüchten, sondern in der Beziehung mit dem
Klienten zu bleiben, dem Einzigen, der tatsächlich Experte für sich selbst ist.22
Personzentrierte Psychotherapie versteht sich demnach als wissenschaftliche und praktische Frage nach der
Person. Denn gerade im Personzentrierten Ansatz haben die beiden Personbegriffe in ihrer dialektischen
Spannung zur Formulierung des erwähnten personzentrierten Axioms geführt, in dem die Dialektik von
Selbstständigkeit und Beziehungsangewiesenheit festgehalten ist: Dass der Mensch die Fähigkeit und Tendenz
zur Entwicklung in sich selbst trägt, er aber der Beziehung bedarf, damit diese Entwicklung tatsächlich
stattfinden kann. Jede Einseitigkeit greift zu kurz und wird der menschlichen Existenz nicht gerecht. Daher
müssen sich Theorie und Praxis der Therapie gerade auch hinsichtlich der Frage messen lassen, ob individuelle
und relationale Dimension des Personseins und -werdens gleichermaßen thematisiert sind und praktiziert werden
und sich eine bestimmte Therapie zu Recht personzentriert nennt.
Begegnung von Person zu Person
Zu den notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, Psychotherapie und Beratung als
personzentriert zu bezeichnen
Diese grundsätzliche Standortbestimmung soll im Folgenden für einige zentrale Bereiche ausgefaltet bzw.
zusammengefasst werden (vgl. Schmid 1999b).
Wesentliches und Entscheidendes23 eines personzentrierten Zugangs zum leidenden oder bedürftigen Menschen
in Theorie und Praxis kann im Zusammenspiel folgender Punkte gesehen werden, die hinsichtlich des
wissenschaftlichen Verständnisses und der praktischen Vorgangsweise als angemessen angesehen werden.24 Sie
sind gleichermaßen für die Zweierbeziehung wie für Gruppen zutreffend, ohne dass dies hier jeweils im
Einzelnen erwähnt wird.
Ethik
ƒ Psychotherapie und Beratung sind als Ant-Wort auf den An-Spruch eines oder mehrerer leidender oder
bedürftiger Menschen zu verstehen.
ƒ Dieses Handeln erwächst aus solidarischer Ver-Antwort-ung gegenüber anderen Personen. Personzentrierte
Ethik hat ihr Fundament in dieser Verantwortlichkeit, die erwächst, indem durch Begegnung der Aufruf zu
personaler Antwort wahrgenommen wird.
ƒ Aufgrund der Verbundenheit aller Menschen ist psychotherapeutisches und beratendes Handeln immer auch
als gesellschaftliches und politisches Handeln zu verstehen. Es kommt ihm daher eine sozialethische Bedeutung
zu.
Anthropologie
ƒ Personzentriertes Handeln stellt die Praxis eines Menschenbildes dar, das den Menschen als Person versteht,
d. h. in der Dialektik von einerseits Selbstständigkeit und Autonomie, andererseits von Beziehungsorientierung
und Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen. Damit nimmt es ihn ohne Vorbedingungen ernst, so wie er
21
In der therapeutischen Beziehung, so Rogers, habe der Therapeut den Wunsch, eine Person kennen zu lernen, nicht im
üblich verstandenen Sinn "helfen" zu wollen. "Hilfe", d. h. nach personzentriertem Verständnis Förderung von
Persönlichkeitswachstum, geschehe dann "von selbst", wenn es gelinge, einander im beschriebenen Sinne zu begegnen (vgl.
Rogers/Buber 1960, 63; Rogers 1992a, 32).
22
Um Missverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich erwähnt, dass personale Begegnung natürlich den kritischen Blick
nicht ausschließt, im Gegenteil: Er ist in der Therapie unabdingbar notwendig (was mit der Frage der Indikation beginnt).
Beides ist (in wechselnder Abfolge, dialektisch) erforderlich: Mit dem Klienten, sozusagen an seiner Seite sitzend und in die
gleiche Richtung blickend, empathisch mitzuerleben, und ihn von innen her zu verstehen und als Gegenüber ("Be–gegen–
ung"!) in der Beziehung, den Klienten face to face anblickend, den eigenen Stand und die eigene Sicht zu behalten bzw. zu
entwickeln und ihn von da aus anzuschauen.
23
Hier sei angemerkt, dass Entscheidendes nicht unbedingt identisch mit Unterscheidendem (oder gar Einzigartigem) sein
muss. Unterscheidend ist im konkreten Fall wohl vor allem das Zusammenspiel der genannten Faktoren, einzigartig die
Radikalität der Position, die genannten notwendigen Bedingungen als hinreichend zu verstehen.
24
Vgl. Rogers 1980b, 187f; 1986a; Rogers/Raskin 1989, 158f; Bozarth 1998, 13–18; Schmid 1998b; http://www.pceworld.org/statutes.htm. Die Zusammenstellung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, stellt eine völlig
überarbeitete Fassung von Schmid 1999a, 1999b und 1999c dar und gibt in etwa das Verständnis des für das Institut für
Personzentrierte Studien (IPS) in Wien wieder, das Finke (1999, Tagung der ÄGG, Essen) als die “Wiener Schule der GT”
bezeichnet hat.
8
gerade ist. Das schließt ein, wie er durch Erfahrung in Beziehungen geworden ist und wie er sich in die Zukunft
weiter entwickeln kann.
ƒ Dazu gehört zum einen ein prinzipielles Vertrauen in die menschliche Natur und ihre Entwicklungsmöglichkeiten: Grundlegend ist die Annahme einer das konstruktive Potenzial des Menschen aktualisierenden Tendenz
als Motivationskraft. Dies resultiert konkret in einem Vertrauen in die Fähigkeiten des Klienten zu
Selbstbestimmung.
ƒ Dazu gehört zum anderen, dass als das entscheidend Förderliche für Entwicklung in der Therapie die
Beziehung zwischen Therapeut(en) und Klient(en) angesehen wird. Die Beziehung wird vonseiten des
Therapeuten als personale Begegnung verstanden, in der sich der Therapeut als Person mit der Wirklichkeit des
Klienten als Person konfrontiert („encounter person to person“).
ƒ Der Mensch ist Person als Mann und Frau. Geschlechtsspezifische Aspekte des Personseins spielen für die
Beziehungsgestaltung und das Verständnis des sozialen Kontexts eine bedeutende Rolle.25
Persönlichkeitstheorie
ƒ Persönlichkeitsentwicklung in Psychotherapie und Beratung wie im sonstigen Leben zeigt sich in einer
zunehmenden Fähigkeit, voll und ganz im Augenblick zu leben und Phänomene wie Veränderungen mehr und
mehr unverfälscht wahrzunehmen und Beziehungen realitätsgerechter zu leben (Kongruenz). Mit ihr gehen
vermehrte Selbstbestimmung und Selbstverantwortung einher. Personzentrierte Persönlichkeitstheoriebildung ist
daher eher an Prozessen interessiert als an Strukturen.
ƒ Psychotherapie stellt einen Spezialfall von Persönlichkeitsentwicklung26 und Beziehungsgestaltung dar.
(Deshalb können aus ihr auch Konsequenzen für andere Lebensbereiche gezogen werden.) Dem entspricht ein
prozessorientierter Ansatz beim Leitbild einer gesunden Person und bei der Theorie der Persönlichkeitsentwicklung und nicht eine Krankheitstheorie als Ausgangspunkt.
ƒ Die grundlegenden therapeutischen Prinzipien treffen auf alle Personen zu, unabhängig von verschiedenen
Kategorien, wie beispielsweise sogenannte Neurotiker, Borderline–Persönlichkeiten, Psychotiker oder Normale.
ƒ Statt einer Krankheits– oder Störungslehre im herkömmlichen Sinn kann es daher in genuin personzentrierter
Sicht stets nur um eine Theorie der leidenden Person gehen. Personzentrierte Psychotherapie versteht sich ja,
wie der Name sagt, nicht problem–, ziel– oder lösungsorientiert, sondern personorientiert.27
ƒ Auch die Ausbildung zum Psychotherapeuten und Berater wird dem prozessorientierten Zugang entsprechend
als Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungsgestaltung verstanden (und nicht als Vermittlung bzw.
Aneignung oder Training von Skills oder Handwerkszeug).28
Therapietheorie
ƒ Notwendige und hinreichende Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie sind ein
Minimum an Beziehung zwischen Therapeut(en) und Klient(en), Inkongruenz aufseiten des oder der Klienten,
die (unten näher beschriebene) Gegenwärtigkeit des oder der Therapeuten und das Wahrnehmen des
therapeutischen Beziehungsangebotes durch den oder die Klienten.29
ƒ Entscheidend für die Entwicklung aller beteiligten Personen in der Therapie ist die möglichst bewertungs–
und interpretationsfreie Aufmerksamkeit auf das unmittelbar gegenwärtige Erleben durch Klient wie Therapeut
in der Beziehung, das vonseiten des Therapeuten ein „Sein mit dem Klienten (being with)“ bedeutet. Diese
Gegenwärtigkeit (oder Präsenz) ist charakterisiert durch die Einstellung und die Haltungen des Therapeuten, wie
sie Rogers beschrieben hat (Authentizität, bedingungsfreie Wertschätzung, Empathie).
ƒ Der Therapeut ist für den Klienten in der therapeutischen Beziehung daher stets als lebendige Person und
nicht nur in seiner Funktion als Therapeut erreichbar. Die Person des Therapeuten wird als zentraler
Veränderungsfaktor verstanden.
ƒ Der Therapeut legt das Augenmerk auf die Person des Klienten und seine Welt, so wie sie diesem erscheint
und von ihm erlebt, verstanden und bewertet wird (phänomenologischer und experienzieller, d. h.
erfahrungsorientierter Zugang) und folgt ihr in dieser Welt, wohin immer sie sich bewegt. (Dabei wird Inhalt
25
Vgl. dazu den Beitrag von Winkler und Schmid in diesem Band.
Der Begriff "Entwicklung" ist vielleicht weniger missverständlich als der gleichfalls häufig gebrauchte Begriff
"Wachstum", der nicht selten zu naiven Annahmen, die der Komplexität menschlicher Entwicklung (aus sich selbst und in
und aus Beziehungen) nicht gerecht werden.
27
Differenzielle Ansätze können als phänomenologische Differenzierungen eine wichtige Orientierungshilfe bieten; wichtig
ist, dass sie nicht den Blick darauf verstellen, dass es eigentlich um einen personspezifischen Ansatz geht (der immer der
Einmaligkeit der betroffenen Person gerecht wird) und daher um eine völlig differenzierte Sicht. Überall dort, wo
Klassifizierungen (so brauchbar sie auch als Argument im Streit mit Krankenkassen sein mögen) ins therapeutische
Geschehen hineinkommen, müssen zwangsläufig Akzeptanz, Empathie und Kongruenz beeinträchtigt werden; denn dann
wird aus dem begegnenden, Person–zentrierten Therapeuten der diagnostizierende, Krankheits–zentrierte.
28
Zur Persönlichkeits- und Beziehungstheorie vgl. Schmid 2001b.
29
Vgl. Rogers 1957a.
26
9
und Form des Erlebens [Experiencing] als abhängig von der Person verstanden und nicht umgekehrt, was eine
Reduktion der Person auf ihr Experiencing oder zumindest ein Verständnis der Person als abhängige Variable
von ihrem Erleben bedeuten würde.)30
ƒ Völlig sekundär sind die vom Therapeuten konkret praktizierten Methoden oder Techniken, die in der
Beziehung am besten jeweils mit den Klienten cokreativ entwickelt werden (Methodenkreation statt so genannter
Methodenintegration).31
ƒ Damit ist eine radikale Abkehr von expertenorientierten Ansätzen verbunden und eine zunehmende
Entwicklung im Verlauf der Therapie hin zu Wechselseitigkeit und Dialog. Der Klient ist der Experte für Inhalt
und Form der Bearbeitung; der Therapeut ist Facilitator.
ƒ Die konkrete Gestaltung der therapeutischen Beziehung (Setting) richtet sich nach den Bedürfnissen und
Möglichkeiten des Klienten und nach den Möglichkeiten des Therapeuten. Die therapeutische Arbeit kann auf
verschiedene Weise, etwa verbal, körpersprachlich oder mithilfe kreativer Ausdrucksmöglichkeiten, geschehen.
Erkenntnistheorie
ƒ Eine dem Personzentrierten Ansatz entsprechende Epistemologie ist an einer ganzheitlichen Anthropologie
(personal) orientiert,
ƒ an der Erfahrung (phänomenologisch),
ƒ an der Vielfalt von Verständnismöglichkeiten (konstruktivistisch)
ƒ und Zugangsmöglichkeiten (pluralistisch),
ƒ an der Kommunikation (dialogisch und empathisch–verstehensorientiert)
ƒ und ist somit auf die Wertschätzung des Anderen (Wohl wollend an-erkennen statt objektiv-distanzierend
diagnostizieren) gerichtet.
ƒ Sie ist hermeneutisch in dem Sinne, dass sie auf das Verstehen der Bedeutung der personalen
Kommunikation ausgerichtet ist (und nicht in dem expertenbestimmten Sinn, dass der Therapeut besser versteht,
was der Klient mit dem von ihm Ausgedrückten meint, als dieser selbst32).
ƒ Personzentrierte Erkenntnisgewinnung ist daher stets Ermächtigung (empowerment) für alle beteiligten
Personen; in der Therapie steht sie im Dienst der Ermächtigung des Klienten.
Entwicklungsoffenheit
ƒ Der Personzentrierte Ansatz ist kein fertiges Konstrukt, sondern bedarf der ständigen Entwicklung in
Grundlagenarbeit, Forschung, Theorie und Praxis.
ƒ Philosophische Überlegungen, die sich aus der psychotherapeutischen Praxis ergeben, sind — im jeweils
konkreten Fall wie grundsätzlich — ein wichtiger Bestandteil von Psychotherapieentwicklung.
ƒ Es bedarf ständiger, auch empirischer Forschung, womit Psychotherapie der kritischen Überprüfung und
Weiterentwicklung zugänglich gemacht wird.
ƒ Es bedarf eines eigenen, zum Teil erst noch im Detail zu entwickelnden Wissenschafts– und
Forschungsverständnisses (das die alten Paradigmata aus Medizin, Naturwissenschaft und Technik abzulösen
hat) und die jeweils Betroffenen in die Erforschung mit einbezieht.
ƒ Die Theorie ist ständig an der Erfahrung zu überprüfen und aufgrund von Erfahrung und Forschung zu
revidieren (und nicht umgekehrt).
ƒ Die Praxis — verstanden als Kunst kairotischen (d. h. personen- und kontextgerechten) Handelns — muss
sich stets an der Theorie kritisch messen und kreativ weiterentwickelt werden.
ƒ Aufgrund dieser Einstellungen haben weder rigide Orthodoxie und Fundamentalismus noch Beliebigkeit und
unreflektierter Eklektizismus Platz.
Politik und gesellschaftliche Bedeutung
30
Daraus ergibt sich eine Inkompatibilität mit experienziellen Ansätzen, wie etwa der Focusing-orientierten Therapie
(Gendlin 1996) oder der Focusing-Therapie (Wiltschko 1995), und mit prozess-direktiven Ansätzen (Elliott/Greenberg 1994;
Greenberg/Watson/Lietaer 1997). Diese beziehen sich nicht auf die Person, sondern auf einen Teil von ihr, ihr Experiencing
nämlich, und vertrauen daher nicht der Person als solcher, sondern fördern konsequenterweise einen bestimmten Teil von ihr,
von dem sie annehmen, dass er für den therapeutischen und persönlichen Fortschritt bedeutsam ist — in mancher Hinsicht
geradezu die gegenteilige Annahme zu Menschenbild und Therapietheorie von Rogers. Daher ist auch trotz expliziter
Beachtung einzelner körperlicher Vorgänge Gendlins Ansatz weniger „ganzheitlich“ als jener von Rogers. — Ähnliches gilt
für Ansätze, die einseitig den Körper fokussieren.
31
In Sinne der ursprünglichen und etymologischen Bedeutung von Technik als „Kunst“ und Methode als „Weg“ besteht
zwischen einem Vorgehen, das frei von geplanten Techniken und Methoden ist, und einem „kunstfertigen“ und (an der
Person als Weg orientierten) „methodischen“ Vorgehen kein Widerspruch.
32
Vgl. Finke 1994; Keil 1997; s. u.
10
ƒ Philosophen, Forscher, Theoretiker und Praktiker sind aufgefordert, gemäß dem jeweiligen State of the Art
eigenständige Wege auf der Basis der genannten Überzeugungen und Haltungen („philosophy of life“) zu gehen,
verantwortungsvoll zu experimentieren und einander zu unterstützen.
ƒ Dies stellt eine weltweite psychologische, soziale, kulturelle, künstlerische, wissenschaftliche, politische und
ethische Herausforderung dar, weil der Personzentrierte Ansatz aufgrund der genannten Prinzipien zahlreichen
zeitgeistigen Strömungen querliegt, etwa jener nach einer Effektivität, die ausschließlich in Kategorien denkt,
wie man „möglichst rasch, billig und schmerzlos Probleme wegmachen“ kann.
ƒ Über Psychotherapie und Beratung hinaus stellt der Personzentrierte Ansatz eine Lebens– und Arbeitsweise
in vielen zwischenmenschlichen Gebieten dar, die durch die Annahme folgender Relation gekennzeichnet sind:
Eine Person oder mehrere Personen bedürfen der Unterstützung bzw. Förderung und von einer anderen Person
oder mehreren anderen Personen wird angenommen, dass sie diese Unterstützung bzw. Förderung bieten können
(z. B. Sozialarbeit, Pädagogik, Pastoral).
ƒ Darüber hinaus können vom Personzentrierten Ansatz für viele Lebensbereiche (z. B. private Beziehungen,
Arbeitswelt, Wissenschaft und Forschung, interkulturelle Beziehungen) Erkenntnisse und praktische Modelle für
eine Verbesserung des Zusammenlebens- und -arbeitens gewonnen werden (personale Lebensgestaltung).
Unterscheidung und Zusammenarbeit
Zur Bedeutung von Identifizierbarkeit, Dialog und Kooperation
Zu Konsistenz, Kompatibilität, Kombination und Kongruenz
Abschließend sollen mit Bezug auf einige aktuelle Diskussionen und Unterschiede im Selbstverständnis
personzentrierter Theoretiker und Praktiker einerseits, Vereinigungen und Ausbildungsinstitutionen andererseits
die Fragen des Zusammenstimmens verschiedener Ansätze kurz angeschnitten werden.33
Dies ist nicht nur von akademischem Interesse, sondern hat eminente praktische Bedeutung. Nicht selten findet
man ja eine reichlich eklektizistische Theorie und Praxis, die jeweils von dem Gebrauch macht, was gerade zu
passen scheint, interessant oder neu ist oder raschen Erfolg verspricht bzw. in anderen Situationen, vornehmlich
bei einem selbst, als hilfreich angesehen wurde. Dabei werden (oft unbesehen) Ebenen gewechselt und
Beziehungsangebote verändert. Beispielsweise meint man, wenn der Fortgang der Therapie stockt, eine andere
Methode einsetzen zu sollen. Solcherart wird übersehen, dass dies für den Klienten ein in hohem Maße
inkongruentes Therapie– bzw. Beziehungsangebot darstellt, weil dadurch das Vertrauen in seine
Aktualisierungskräfte infrage gestellt wird.34
Natürlich wird hier, wie oben bereits ausgeführt, weder behauptet, es gäbe nur ein richtiges Verständnis von
„personzentriert“ oder irgendjemandem würde es zukommen zu behaupten, so und nur so würde Rogers richtig
interpretiert. Jedweder Fundamentalismus verbietet sich schon von daher, dass Rogers selbst seine Theorie nicht
als abgeschlossen betrachtet hat. Es gibt selbstredend auch keinen „Beweis“ dafür, dass Rogers Recht hatte.
Trotzdem wird man festhalten können, was dem Ansatz von Rogers in dem, was als wesentlich erachtet wird,
entspricht und daher als „genuin“ in seiner Tradition stehend bezeichnet werden kann. Ebenso kann man
feststellen, bei welchen Ansätzen dies nicht zutrifft, weil eine wesentliche Bedeutungsverschiebung
stattgefunden hat, eine andere Schwerpunktsetzung vorliegt oder ein Konzept eben von vornherein anders
„ansetzt“.
Auch diese anderen Annahmen haben gute Argumente. Der Unterschied liegt, wie ausgeführt, in
unterschiedlichen ethischen und philosophischen Grundlagen; diese führen daher zu unterschiedlichen
Konsequenzen. Menschenbilder stellen, wie bereits betont, ja Glaubensannahmen dar, die sich per se der
Beweisführung entziehen. Daher macht es auch keinen Sinn, andere Ansätze aus dem personzentrierten
Theoriegebäude heraus zu beurteilen oder darüber zu streiten, wer nun Recht hat. Aber es macht sehr wohl Sinn,
in einen Dialog zu treten und die eigenen Überzeugungen infrage stellen zu lassen und infrage zu stellen (cf.
Schmid 1998a, 115f; Slunecko 1996).
Wenn die Entscheidung für eine bestimmte Therapie bzw. ein bestimmtes therapeutisches Handeln prinzipiell
eine ethische Entscheidung darstellt, wie es die Entscheidung zur Psychotherapie als solche bedeutet, und wenn
Therapie als personale Begegnung verstanden wird, so ist sie die Realisierung einer ethischen Position, die von
der kairotischen Ermächtigung des Klienten35 statt von der egologischen Mächtigkeit des Therapeuten ausgeht.
33
Unter anderem haben die im Folgenden genannten unterschiedlichen Positionen in grundlegenden theoretischen und
praktischen Fragen von Therapie und Ausbildung zur Bildung zweier sehr unterschiedlich orientierter Sektionen innerhalb
der österreichischen APG geführt (s. die Fußnoten oben und ausführlicher Schmid 1997c und http://www.pfs-online.at) —
eine Entwicklung, die in anderen Vereinen (z. B. in der ÖGwG, in der Schweiz und in Deutschland) zu einem oft
unausdiskutierten Nebeneinander verschiedenster theoretischer und praktischer Positionen innerhalb der bestehenden Vereine
geführt hat.
34
Etwas plakativ ausgedrückt, wird dabei oft nach der Devise vorgegangen: Wiener Schnitzel schmeckt gut,
Schokoladecreme schmeckt gut; wie gut muss erst Wiener Schnitzel mit Schokoladecreme sein!
35
Zu einer personzentrierten Kairologie vgl. Schmid 1994, 201-244.
11
Die untrennbare und uneinholbare Zusammengehörigkeit von Selbstständigkeit und Beziehung macht, wie
betont, das Einzigartige jenes Ansatzes aus, der sich als einziger kompromisslos am Menschen als Person
orientiert. Diese Dimensionen mehr und mehr auszuloten, lässt eine spannende Weiterentwicklung des Ansatzes
erwarten. Die grundlegenden Positionen von Rogers sind weder überholt noch von anderen Ansätzen her
ergänzungsbedürftig; sie sind in ihrer Radikalität, ihrem tiefen Humanismus und ihrem kritischen Potenzial noch
nicht einmal eingeholt und ausgeleuchtet (Schmid 2001a).
Die Betonung der Nicht–Beliebigkeit stellt weder eine orthodox–rigide oder dogmatische noch eine andere
Auffassungen abwertende Position dar, sondern einen Standpunkt, der auf Klärung und auf wechselseitiges
Verstehen zielt. Unterschiede nicht zu verwischen, ist einfach eine Frage der Vernunft, der Ehrlichkeit und des
Anstands. Einer Überzeugung anzuhängen, bedeutet nicht eo ipso, ein Urteil über die Richtigkeit, Effizienz oder
Qualität der Arbeit anderer abzugeben. Respektvolle Kritik und das Herausarbeiten von Unterschieden kann
jedem Ansatz helfen, seine eigene Theorie und Praxis weiterzuentwickeln.
Daher ist die Integration anderer Positionen, das Ergänzen von Methoden, das Entwickeln neuer Positionen, die
Verbindung von Ansätzen usw. immer eine Frage der Kombinierbarkeit der zugrunde liegenden
Glaubensannahmen — besonders aus ethischen Gründen, weil der Klient das Recht auf ein verantwortbares und
konsistentes Beziehungsangebot hat.
Einige solcher anderen Ansätze, die mit dem Personzentrierten Ansatz nicht kompatibel sind, seien genannt:
ƒ Ansätze, die von der Überzeugung ausgehen, dass Rogers’ Bedingungen nicht hinreichend sind bzw. dass
diese durch weitere ergänzt werden müssen; Orientierungen, die annehmen, dass Beweise dafür sprechen, dass
eine mehr oder weniger steuernde Funktion des Therapeuten hilfreicher ist: etwa das Stimulieren von Erfahrung
allgemein oder von bestimmten Erfahrungen, das Beeinflussen des Therapieprozesses in einer bestimmten Art
und Weise oder Richtung, das Setzen von Interventionen, um etwas Bestimmtes zu bewirken, um den Klienten
anzuleiten oder um den Fokus auf bestimmte Aspekte, Ebenen, Gefühle, Themen oder Vorgangsweisen zu
richten.
ƒ Ausbildungen, die, statt die Förderung personaler Präsenz und Kompetenz in den Mittelpunkt zu stellen,
hauptsächlich oder vorwiegend auf die Ausbildung von Methoden, Techniken oder Skills abzielen;
Ausbildungskonzepte, die es für wesentlich erachten, dem Auszubildenden ein Handwerkszeug vermitteln oder
ein Set abrufbarer Techniken zur Verfügung stellen zu wollen36; Konzepte, die statt der Orientierung an einem
gemeinsamen diagnostischen Prozess mit dem Klienten Instrumente zur Diagnose über den Klienten für
angemessen ansehen.
ƒ Differenzierungen so genannter Suborientierungen (s. u.), die ein prinzipiell verschiedenes Vorgehen für
verschiedene Klienten oder Störungsbilder für notwendig erachten;37 Orientierungen, die eine Grundbedingung
den anderen vorziehen; Einstellungen, die entweder den substanzialen oder den relationalen Aspekts des
Personseins und – werdens für bedeutender ansehen als den anderen bzw. entweder der intrapersonalen oder der
interpersonalen Dimension von Therapie den Vorzug geben.38
Alle diese Positionen haben gute Argumente, aber sie unterscheiden sich von dem Ansatz, den Carl Rogers und
andere „personzentriert“ nannten und nennen. Aus personzentrierter Sicht erscheinen sie oft als
ƒ Reduktion auf einen Aspekt statt der Person als ganzer, was Garry Prouty (1999) für die Experienzielle
Therapie eine „phänomenologische Reduktion“ nennt, eine Reduktion der Person auf einen Teil von ihr, auf die
Gefühle („spiegeln“), den Prozess („prozess-direktiv“) oder das Erleben („experienziell“) beispielsweise,
und/oder
ƒ als expertengeleitete Steuerung von Prozess („erlebnisaktivierend“, „Focusing“, „prozessdirektiv“ usw.) oder
Kommunikationsebene („gesprächstherapeutisch/VEE“, „körperorientiert“, „methodenintegrativ“ usw.),
und/oder
36
M. E. liegt der Unterschied dem Wesen nach zwischen den verschiedenen angesprochenen Ausbildungskonzepten, die im
person–/klientenzentrierten Bereich angeboten werden, gerade aufgrund des schwerpunktmäßig verschiedenen Umgangs mit
dem Konzept „Persönlichkeitsausbildung versus Methodenvermittlung“ bzw. „(Her-)Ausbildung versus Training und
Vermittlung“ im anthropologischen und ethischen Bereich (vgl. z. B. Frenzel 1998.) Auch dies lässt sich eben unter einem
ethischen Gesichtspunkt sehen: Aus personaler Sicht ist gefragt, ja gefordert, standzuhalten und das Beste anzubieten, was
man anzubieten hat — sich selbst als Person. Denn gerade in schwierigen Situationen ist die Versuchung groß, zu
Schablonen, Mittel und Techniken zu greifen und so vor dem existenziellen Anspruch davonlaufen; es gilt vielmehr
auszuhalten, als Person dabei zu bleiben, wenn eine andere Person nicht mehr weiter weiß. Dies stellt keine idealistische
Überforderung dar, sondern ist eine Frage der „Ermächtigung“ bzw. „Selbst–Ermächtigung“ von Personen in ihrer
Begegnungsfähigkeit im Zuge ihres Ausbildungsprozesses.
37
Hier ist es m. E. notwendig zwischen differenziellen Ansätzen zu unterscheiden, die phänomenologisch differenzieren und
zum besseren Verständnis des Einzelnen beitragen wollen (etwa Binder/Binder 1991), und solchen, die klassifizieren, also
eine prinzipiell differenzierte Vorgangsweise als notwendig postulieren und damit — oft unbesehen — den Fokus von der
Person zur Störung richten.
38
Vgl. z. B. den „interaktionellen Ansatz“ von van Kessel und van der Linden (1991a; 1991b).
12
ƒ als Instrumentalisierung der Beziehung: der intentionale Gebrauch der Empathie etwa oder selektives
Zuhören auf bestimmte Aspekte, die gefördert werden sollen.39
Zur Problematik von Einteilungen in Suborientierungen
Ähnliche Probleme ergeben sich durch Einteilungsschemata und Klassifikationen, wenn sie versuchen,
grundlegend verschiedene Positionen als bloße Differenzierung in der Akzentsetzung zu begreifen.
So erscheint etwa die Gegenüberstellung von „Wachstum – Konflikt – Begegnung“ anhand der
Grundhaltungen40 problematisch: Wenn eine „Verwirklichung der Grundeinstellungen so“ geschieht, „dass“ ein
bestimmte Absicht verfolgt wird, werden sie instrumentalisiert und entsprechen nicht mehr der von Rogers
beschriebenen personalen Haltung, sondern reihen sich unter jene Therapieformen, die eine bestimmte Haltung
und ein Verhalten einsetzen, um etwas Bestimmtes zu erreichen. So kann unbesehen ein funktionales
Verständnis der Grundhaltungen entstehen.41
Die Einteilung in „Begegnung – klinische Orientierung – Experiencing“ als verschiedene Gesichter der
Klientenzentrierten Psychotherapie (Keil/Stumm 2001) ist nur dann möglich, wenn man die genannten
anthropologischen und grundlagentheoretischen Überlegungen außer Acht lässt. Wenn viele Gesichter eines
psychotherapeutischen Ansatzes aufgeführt werden, besteht die Gefahr der „Gesichtslosigkeit“ (Spielhofer 2000)
bzw. des Identitätsverlustes, insbesondere, wenn die aufgeführten Strömungen auf anderen Grundannahmen
beruhen als auf den von Rogers postulierten. (So ist es dann auch nicht weiter verwunderlich, wenn der „RogersAnsatz“ von zahlreichen weniger erleuchteten Praktikern und Theoretikern verschiedenster Denominationen zu
einer Art Grundlage für alle Therapierichtungen verwässert wird und dadurch seine Erkennbarkeit völlig
verliert.)42
Hilfreich sind ausdifferenzierende Einteilungen hingegen vor allem dann, wenn sie nicht einander ausschließend
verstanden werden und dazu beitragen, die jeweils eigene Position kritisch zu hinterfragen, welche Einseitigkeiten sie enthält und welche Dimensionen am ehesten ausgeblendet werden, wie auch Finke (2000) betont.
Die Unterschiede benennen und zusammenarbeiten
In gleichem Atemzug mit der Betonung der Notwendigkeit zur Unterscheidung soll hier auch ein Plädoyer für
die Zusammenarbeit stehen.
Viele Ansätze, die sich aus dem personzentrierten heraus entwickelt haben oder mit einer gewissen
Beeinflussung durch ihn parallel entstanden sind, sind der genuin personzentrierten Position zweifellos weit
näher als andere psychotherapeutische Sichtweisen und Praktiken. Die klare Unterscheidung in theoretischer und
praktischer Hinsicht schließt natürlich Gemeinsamkeiten in etlichen Aspekten nicht aus. Germain Lietaer43 hat
Recht, wenn er meint, dass es auf einer breiteren Ebene Sinn macht zwischen psychodynamischen, kognitiv–
verhaltenstherapeutischen, systemischen und eben jenen Ansätzen zu unterscheiden, die unter diesem
Gesichtspunkt als „personzentriert und experienziell“ bezeichnet werden können und noch einige andere
humanistische Konzepte einschließen mögen. Deren Wurzeln liegen großteils in der Theorie von Carl Rogers,
aus der sie sich zumeist entwickelt haben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Zusammenarbeit notwendig ist. Deshalb erweist sich die
vereinsübergreifende Zusammenarbeit in der österreichischen PCA (Person-Centered Association in Austria)
und bei den durch sie angeregten Projekten als so fruchtbar.44 Deshalb machen gemeinsame Kongresse, wie die
39
Dies gilt natürlich nur dann, wenn von einem personzentrierten Menschenbild ausgegangen wird. Es macht, wie gesagt,
keinen Sinn, andere und anderes aus dem eigenen set of beliefs zu beurteilen. — Eine differenziertere Auseinandersetzung
mit einigen solcher Ansätze (Focusing–, Experienzielle Therapie, prozessdirektives Vorgehen, methodenintegrative Ansätze),
mit Methodenvermittlung sowie mit der Problematik von Einteilungen findet sich in Schmid 2001d. Dort auch ausführlicher
zur im Salzburger Vortrag gleichfalls diskutierten Frage, ob Focusing(-zentrierte) Therapien und Experienzielle Ansätze eine
Weiterentwicklung oder eine Abweichung des auf Rogers zurückgehenden Ansatzes darstellen.
40
Vgl. Finke 2000; s. a. ders. 1994, 13–25; 1999a.
41
Beispielsweise erscheint auf der Basis einer personalen Anthropologie die kontradiktorische Gegenüberstellung von „Alter
Ego und Dialogpartner“ oder von „Empathie at the face value“ und (in einem nicht-interpretierenden Sinn verstandener)
„hermeneutischer Empathie“ unzutreffend.
42
In diesem Kontext fordert Spielhofer (2000) zu Recht, dass die Psychotherapie als Wissenschaft neben der philosophischen
auch der psychologisch–empirischen Dimension zur Begründung des richtigen therapeutischen Handelns bedarf, und
moniert, dass die Frage nach der Bestimmung von „Person“ neben der ethischen und philosophisch–anthropologischen Seite
die Klärung der Bedingungen von Personwerdung bzw. deren Störung im Rahmen der Auseinandersetzung von menschlicher
Natur und Umwelt erfordert. Er betont, dass die Frage der Identität im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen
Tendenzen zur Auflösung von Grenzen und kulturellen Identitäten besondere Aktualität besitzt. (Pers. Mitteilg. 4. 12. 2000;
vgl. Spielhofer 2000)
43
Pers. Mitteilg., 19. 6. 2000.
44
Z. B. die gemeinsame Supervisionsausbildung des Instituts für Personzentrierte Studien (IPS) und der ÖGwG (PERSON 2
(1997), die Zeitschrift PERSON (Wien, WUV, 1997ff), der von der PCA veranstaltete, die Arbeit mit dem Körper
integrierende Fortbildungslehrgang „Mit Leib & Seele“ (seit 1996), das Symposium zum zehnjährigen Todestag von Rogers
13
seit 1988 bestehenden International Conferences for Client-Centered and Experiential Psychotherapy (ICCCEP;
jetzt World Conferences for Person-Centered and Experiential Psychotherapy and Counseling, PCE-Konferenz)
oder Institutionen, wie der 1997 gegründete Weltverband und das 1998 gegründete Europäische Netzwerk45
Sinn. Beständiger Dialog ist zur Weiterentwicklung des eigenen Ansatzes und als Gegengewicht zu
Zersplitterung nötig; er bereichert Theorie und Praxis und verhindert gleichzeitig Exkommunikationsfantasien
und puristische Entgleisungen, wie er ebenso Vermischungen entgegenwirkt. Und, nicht zuletzt, er macht stärker
in einer Zeit, in der es der Zusammenarbeit bedarf, um in wichtigen Bereichen, wie z. B. Therapie, Philosophie
und Gesundheitspolitik, Einfluss zu haben. Diesen Einfluss geltend zu machen angesichts der heute so gängigen
Versuchung zur Technifizierung und einseitigen Orientierung an Effizienz und sich damit dem Zeitgeist
querzulegen, stellt ebenso eine ethische Herausforderung dar, eine, die vielleicht heute brennender ist als je
zuvor.
Therapie und Dialog
Auf dem Weg zu einem personalen Ansatz
Überall wo der Ansatz wirklich als „Ansatz“, als „Herangehensweise (approach)“ verstanden wird und nicht als
fertige Doktrin, „nicht als ‚Schule’ oder Dogma, sondern als eine vorläufiges Set von Prinzipien“, um Carl
Rogers und John Wood (1974, dt. 115; Übers. pfs) zu zitieren, zeigt er sich als der emanzipatorische Ansatz
schlechthin. Es war zweifellos sein Einfluss, der andere Orientierungen, analytische und systemische
beispielsweise, zu einer vermehrten Wertschätzung der Bedeutung der Beziehung gebracht hat (auch wenn deren
Vertreter sich schwer tun, Carl Rogers zu zitieren). Vom österreichischen Psychotherapiegesetz angefangen,
dessen Erläuterungen sich streckenweise wie ein personzentriertes Lehrbuch lesen, bis zu den umwälzenden
Bedeutungen im Bildungswesen, in der Seelsorge und in der Sozialarbeit, um nur einige Beispiel zu nennen, hat
der Person–zentrierte Ansatz eine Position etabliert, von der sich die modischen Ziel– und Methoden–
orientierten Ansätze her infrage stellen lassen müssen. Trotz (oder wegen) aller „Erfolge“ steht aber der Ansatz
vor einer ganz ähnlichen Herausforderung wie zur Zeit seines Begründers: Er steht mit seiner ethischen und
anthropologischen Haltung dem Zeitgeist quer.
Deshalb muss sich der Personzentrierte Ansatz, wenn er den umfassenden Anspruch stellt, eine
Kulturphilosophie zu sein, nach wie vor der Herausforderung stellen, den Menschen in seiner Welt, die conditio
humana also, immer besser zu verstehen.46 Je mehr das von Anfang an implizierte Verständnis des Menschen als
Person bewusst, ausgefaltet und erforscht wird, umso mehr kündigt sich meines Erachtens ein
Paradigmenwechsel innerhalb des Ansatzes an. Der Personzentrierte Ansatz könnte so an der Schwelle zu einem
neuen Selbstverständnis stehen — eines, das zu seinen Ursprüngen zurückführt.
Wenn der aus der Phänomenologie gewonnene ethische Ausgangspunkt und das damit verbundene
Menschenbild ernst genommen werden, wird offensichtlich, dass der Ansatz der genuinen Weiterentwicklung zu
einem wahrhaft dialogischen, kairotischen und sozialen Ansatz bedarf, zu einem kreativen und flexiblen und
doch unverrückbar personalen Ansatz. Dies gilt für die Psychotherapie und Beratung wie für alle anderen Felder,
auf denen personale Beziehungsqualitäten gefragt sind.
Auf der Basis ethisch fundierter Anthropologie — nach dem vollzogenen Schritt vom Individuum zur Person,
von der Beziehung zur Begegnung, von der Ich–Du–Beziehung zur Wir–Beziehung — ist der Ansatz dabei,
1997 (s. PERSON 1 [1998]) oder die schulenübergreifenden Dialoge (Korunka 1997) bzw. die regelmäßigen Internationalen
Colloquia. (Zur PCA s. http://www.personzentriert.at.)
45
Beide Vereinigungen (World Association for Person-Centered and Experiential Psychotherapy and Counseling,
WAPCEPC, und Network of the European Associations for Person-Centred and Experiential Psychotherapy and Counselling,
NEAPCEPC) haben sich jeweils auf die folgende Präambel und die folgenden Prinzipien geeinigt:
„Die Begriffe ‚personzentriert’ und ‚experienziell’ und die mit ihnen verbundenen Konzepte und Prozesse beruhen auf einer
umfassenden und reichhaltigen Geschichte und sind ständig in Entwicklung begriffen. Die Bezeichnung ‚personzentriert und
experienziell’ wurde gewählt, um fortgesetzten Dialog und beständige Entwicklung zu fördern; es ist nicht beabsichtigt, ein
bestimmtes Verständnis dieser Ansätze und ihrer Beziehung zueinander zu bevorzugen.
ƒ Prinzipien: Ziel dieser Vereinigung ist es, ein weltweites Forum für jene Fachleute in Wissenschaft und Praxis
bereitzustellen, die
ƒ sich der Beziehung zwischen Klient bzw. Klientin und Therapeut bzw. Therapeutin in Psychotherapie und Beratung
verpflichtet wissen und ihr grundlegende Bedeutung beimessen
ƒ für das therapeutische Unterfangen den aktualisierenden Prozess des Klienten bzw. der Klientin und seine bzw. ihre
phänomenologische Welt für zentral erachten
ƒ in ihrer Arbeit jene Bedingungen und Haltungen verkörpern, die zuerst von Carl Rogers als förderlich für die
therapeutische Entwicklung postuliert wurden
ƒ einer Auffassung verpflichtet sind, der zufolge sie sowohl Klienten bzw. Klientinnen als auch Therapeuten bzw.
Therapeutinnen als Personen verstehen, d. h. in ihrer Individualität und gleichzeitig in ihrer Beziehung zu anderen und
ihren verschiedenen Umwelten und Kulturen
ƒ für die Entwicklung und Ausarbeitung personzentrierter und experienzieller Theorie im Licht gegenwärtiger und künftiger
Praxis und Forschung offen sind.“ (http:://www.pce-world.org und http://www.pce-europe.org; Übers. pfs)
46
Wozu übrigens auch gehört, sich mit ökologischen Fragen auseinander zu setzen.
14
seine immer schon enthaltene, aber erst spät entdeckte soziale Bedeutung zu entfalten. Dies gilt auch für den
bevorstehenden Weg von der (am Individuum oder System orientierten) Psychotherapie zu einer umfassenden
sozial–anthropologischen Therapie (vgl. Schmid 1996, 521-540), in der das Ich nicht nur als Antwort auf ein Du,
sondern auch als Antwort auf ein Wir verstanden wird und die Person in ihrer umfassenden Bedeutung im
Mittelpunkt steht, als Individuum ebenso wie als Teil einer Gemeinschaft. Dabei wird die immense politische
Bedeutung eines solchen Ansatzes noch deutlicher zutage treten.
Erst ein dialogisches Verständnis von Therapie und Beratung in Einzel– und Gruppenarbeit wird den
paradigmenverändernden Schritt von Behandlung, Betreuung und Beratung zu Begegnung wirklich vollziehen
und Modelle, die am individualistischen Selbst orientiert sind, ebenso überwinden wie Modelle, die sich
ausschließlich oder vorwiegend am Systemischen orientieren. Sobald dieser Schritt einmal wirklich vollzogen
ist, sind nicht mehr die verschiedenen Schulen das Thema, sondern der Dialog selbst wird das Thema sein — in
der Therapie wie im Gespräch zwischen den Therapierichtungen.
Oder etwas provokanter formuliert: Der Personzentrierte Ansatz muss darauf aus sein, sich selbst überflüssig zu
machen, wie es ein guter Therapeut in jeder Therapie anzustreben hat.
Bis dieses Ziel erreicht ist, bleibt allerdings noch viel zu tun.
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Autor
Peter F. Schmid, Univ.Doz. HSProf. Mag. Dr., Psychotherapeut, Supervisor, Praktischer Theologe und
Pastoralpsychologe, Begründer personzentrierter Aus– und Fortbildung in Österreich (1969), Mitgründer von
APG (1979), PCA (1994), IPS (1996) und WAPCEPC (1997), Ausbilder an der Akademie für Beratung und
Psychotherapie des Instituts für Personzentrierte Studien (IPS der APG), Vorstandsmitglied des Europäischen
Personzentrierten Netzwerks (NEAPCEPC) und des Personzentrierten Weltverbandes (WAPCEPC), CoHerausgeber der internationalen Zeitschrift „Person-Centered and Experiential Psychotherapies“.
Arbeitsschwerpunkte: Anthropologie und Grundlagenforschung zum Personzentrierten Ansatz.
A-1120 Wien, Koflergasse 4, E-Mail: [email protected], Website: www.pfs-online.at
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