Was bringt dieser Sommer 2011 für den Euro und die Charta?

Standpunkt
Standpunkt
Was bringt dieser Sommer 2011 für
den Euro und die Charta?
Adalbert Kienle
Hoffen wir, dass der August den Rekord-Regenmonat Juli 2011 schnell wieder vergessen
lässt und es doch noch zu einer halbwegs passablen Ernte kommt. Hoffen wir, dass die
Brüsseler Gipfelbeschlüsse vom 21. Juli 2011 die Grundlage für eine nachhaltige Stabilisierung des Euro, eine nachhaltige Gesundung der Staatsschulden-Länder und eine nachhaltige Stärkung des europäischen Integrationsprozesses gelegt haben. Hoffen wir, dass
die von Bundesministerin Aigner angestoßene Charta-Diskussion um die Landwirtschaft in
konstruktive und tragfähige Bahnen gelenkt werden kann. Hoffen wir, dass das Thema
Landwirtschaft und Tierhaltung nicht zum Tummelfeld für eine Stigmatisierung der Landwirte und kriminelle Übergriffe auf ihr Eigentum wird.
„Kein Wirtschaftsbereich hat in früheren Jahren
so sehr unter Währungsturbulenzen innerhalb
der EU gelitten wie wir deutschen Bauern! Niemand hat so konsequent eine Wirtschafts- und
Währungsunion gefordert wie wir deutschen
Bauern! Wir wünschen uns keinesfalls die Turbulenzen der 70er Jahre und zuletzt der Jahre
1992 bis 1995 zurück. Bei einer Abkehr vom
Euro nämlich stünde Deutschland unter permanentem Aufwertungsdruck. Mit fatalen Folgen
für unsere Erzeugerpreise. Nein, diese Zeit wünschen wir uns nicht zurück!“ Originalton unseres Präsidenten Gerd Sonnleitner auf dem Deutschen Bauerntag, gerichtet an Bundeskanzlerin
Angela Merkel.
Auch bei anderer Gelegenheit betonte er,
dass er als bekennender Europäer für den Euro
ist und sich darüber ärgert, wenn es heißt, der
Euro sei gefährdet. Dies selbstverständlich im
Wissen, dass eine endlose Eurokrise und tiefe
Europakrise auch die Finanzierung der EU und
damit die Finanzierung der Gemeinsamen
Agrarpolitik unmittelbar gefährden würde. Deshalb Sonnleitner: „Einzelne Staaten sind gefährdet und einzelne Banken sind gefährdet,
weil sie diesen Staaten zu viel Geld geliehen
haben, aber daran ist nicht der Euro schuld.“
Die Landwirtschaft ist eingebettet in unser
freies und arbeitsteiliges Wirtschaftssystem, die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik und in internationale Märkte. Soziale
Marktwirtschaft heißt für uns „Markt, Begleitung und Verantwortung“.
(Aus dem Leitbild des
Deutschen Bauernverbandes)
Es hatte in den letzten Wochen den Anschein,
als gehörten Sonnleitner und die deutschen
Bauern mit solchen Ansichten und Äußerungen
zur Minderheit. Und die Mehrheitsmeinung?
Man gab sich angesichts der Unüberschaubarkeit der Schuldenkrise und der Komplexität
möglicher Lösungswege gleich geschlagen,
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zeigte Ängste, verlangte einfache Erklärungen
und Lösungen – und ein paar Bösewichte. Das
deutsche Mehrheitsgefühl wünschte wohl auch,
dass es an der Zeit sei, dass ein deutscher
Bundeskanzler jetzt den „dicken Max“ bzw. die
„dicke Berta“ spielt.
Ein Bundeskanzler Kohl hatte europäisch gedacht und gehandelt, hatte die europäischen
Nationen und Menschen hofiert, ihnen ihren
Stolz gelassen, das alles im wohlverstandenen
deutschen Interesse. Die Bundeskanzlerin Merkel hingegen wurde für ihre lavierende Haltung
in der Staatsschulden- und Eurokrise kritisiert.
Die deutsche Politik lasse es geschehen – ja
trage jeden Tag ein bisschen dazu bei –, dass die
Überzeugung, warum wir alle Europa brauchen
und Europa wollen, Stück für Stück nachlässt.
Das Institut für Demoskopie in Allensbach wollte bereits eine gefährliche Entwicklung erahnen: Dass mit der Krise der Eurozone die Axt an
die Wurzeln der europäischen Einigung gelegt
werde. Dass zumindest in Deutschland eine Renationalisierung des Denkens befördert werde.
Dass der Europagedanke gleichsam von innen
ausgehöhlt werde.
Mehr oder weniger Europa?
Doch mit der Zuspitzung der Eurokrise und den
Beschlüssen des EU-Gipfels am 21. Juli 2011 tat
sich Erstaunliches:
➢ Die Medien entdeckten in der Bundeskanzlerin Merkel wieder eine Leidenschaft für Europa. Eine Kanzlerin, die zur richtigen Zeit großen Einfluss auf die Entscheidungen genommen hat: Nicht nur dass Griechenland
deutlich entlastet wird und Banken und Versicherungen daran beteiligt werden. Sondern dass die Staaten zu tief greifenden Reformen und zu einer engeren Koordination
(„Nennen wir das Wirtschaftsregierung“)
verpflichtet werden.
➢ „Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr
Europa. Europa – jetzt erst recht“, kom-
mentierte die Berliner Zeitung. „Die Zeit“
setzte noch einen drauf: „Wir brauchen die
Vereinigten Staaten von Europa.“ Und die
FAZ war überzeugt: „Die Europäische Union
wird noch viel tiefer in das Innenleben ihrer
Mitgliedstaaten eingreifen müssen als
bisher.“
➢ Das Argument vom Frieden durch Europa
habe einen endlos langen Bart, hatte Exaußenminister Joschka Fischer mal gebrummelt. Doch diesen Sommer rief Heribert
Prantl von der „Süddeutschen“ überzeugt:
„Die Europäische Union ist das Ende eines
fast tausendjährigen Krieges, den fast alle
gegen fast alle geführt haben. Europa ist das
Beste, was den Deutschen, Franzosen und
Italienern, den Tschechen und Dänen, den
Polen und Spaniern, den Niederländern und
Griechen, Bayern und Balten in ihrer Geschichte passiert ist.“
Alles in allem erlebten wir wie selten zuvor eine
europäische Öffentlichkeit. Das Ringen um die
Zukunft Europas wurde zum großen Thema, das
nicht fern, sondern ganz nah ist, das keinen kalt
lässt.
Kultur des Dagegen
Dieses Jahr ist aber auch – weit über Stuttgart
21 hinaus – von einer Kultur des „Dagegen“ geprägt. Der frühere CDU-Generalsekretär und
heutige Kapitalismuskritiker Heiner Geißler hat
dafür einfache Antworten zur Hand: Es gibt eine
Abnutzung der Idee der Demokratie. Vor allem
gibt es einen Vertrauensschwund in unser Wirtschaftssystem – und dies wiederum überträgt
sich auf die Politik. Viele Bürger glauben nicht
mehr an die Politik, und auch viele Politiker
scheinen selbst nicht mehr an ihre Lösungskompetenz zu glauben. Zudem drehen auch
noch die Medien kräftig an dieser Stimmungsmaschine. Und so entsteht eine Misstrauenskultur – hin bis zur Infragestellung der repräsentativen Demokratie.
Zauberwörter, um dem wirkungsvoll zu begegnen, sind Transparenz sowie Bürgerbeteiligung. Dies ist inzwischen die Überzeugung
von grün bis bürgerlich-konservativ. Doch
auch der Streit etwa um die Höhe des Quorums
bei Bürgerbefragungen und Volksentscheidungen hat es in sich. Erst recht um die Einführung
einer „Verbandsklage“ im Tierschutz. Doch
wenn ausgerechnet das Bundeskartellamt bei
den Milchpreisen weniger Transparenz will,
dann verliert auch dieses Zauberwort seinen
Glanz.
Wir sind offen für neue Entwicklungen und
Technologien, prüfen diese aber auf ihre
Nachhaltigkeit. Freiheit und Verantwortung
bedeutet für uns, die Agrar- und Energiemärkte wie auch betriebliche Entwicklung
mit Augenmaß voranzubringen.
(Aus dem Leitbild des
Deutschen Bauernverbandes)
Zum Thema Transparenz und Bürgerbeteiligung
hat Bundeslandwirtschafts- und Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner ein großes Experiment
gestartet. Sie stellte in Berlin mit Verbraucherschützer Gerd Billen das neue Internetportal Lebensmittelklarheit vor. Die Organisation hat die
Verbraucherzentrale Hessen übernommen, vom
BMELV mit 777.500 Euro gefördert. Die Ministerin
verspricht sich mit dem neuen Portal einen „seriösen, fairen und sachlichen Austausch“ zwischen
Verbrauchern und Lebensmittelherstellern. Die
Lebensmittelwirtschaft hingegen befürchtet einen Pranger. Als Bauernverband sind wir gegen
den Pranger – aber genauso entschieden für
„Klarheit und Wahrheit“ und für „das Original“.
Das wirkliche Problem aber ist doch, dass wegen
vielleicht einiger dutzend fragwürdiger Produkte
in Zusammensetzung, Aufmachung und Kennzeichnung die Gesamtheit der deutschen Lebensmittelbranche mit 170.000 unterschiedlichen
Produkten unter Generalverdacht gerät. Dass
nicht alles so bleiben kann, wie es ist, hat auch das
Europäische Parlament erkannt: Als Bauernverband anerkennen wir ausdrücklich die guten Fortschritte in der Lebensmittelkennzeichnung!
Seit Ende Juli steht der weitere Fahrplan für
den von Bundesministerin Aigner angestoßenen Prozess „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ fest:
– Ab sofort können im Internet des BMELV die
Zwischenberichte der vier Workshops der
Charta zu den Themen Umwelt, Tierschutz,
Ernährungssicherung/Welthandel sowie Lebensmittel eingesehen werden.
– Am 25. Oktober 2011 führt das BMELV die Abschlussveranstaltung einschließlich einer
Podiumsdiskussion durch.
– Zum Jahresanfang 2012 will die Ministerin
aus dem Prozess abschließende Schlussfolgerungen ziehen und die „Charta für Landwirtschaft und Verbraucher“ erstellen.
Kein Wünsch-dir-Was!
Erinnert sei an unsere im Berufsstand anfänglich geäußerte gehörige Skepsis – zumal
die erste Ankündigung einer Charta-Diskus-
sion in die Zeit der Aufarbeitung des Dioxinfalls fiel. Zwar hat sich der Deutsche Bauernverband bei den Workshops sehr aktiv eingebracht. Doch unsere Kritik gilt weiter fort, dass
generell die Wirtschaft zu wenig im ChartaProzess vertreten war. Auf dem Deutschen
Bauerntag in Koblenz begründete Aigner ihren
Vorstoß noch einmal: Man solle den Mut zum
Dialog aufbringen, „denn die Verbraucherwünsche von heute sind die Umsätze von morgen!“. Wir werden sehen, wie weit es am Ende
zutrifft, was die Ministerin versprach: Die
Charta werde „meine Handschrift tragen“ und
sie werde gewiss „kein Wünsch-dir-Was für lebensfremde Vorstellungen oder das gute
Bauchgefühl sein“.
Auch die jetzt vorliegenden Zwischenberichte der Charta mit Auswertung der Workshops sowie rund 1200 Internetbeiträgen bestätigen, dass es besonders beim Tierschutz im
Kern keinen Konsens zwischen der Wirtschaft
und extrem auftretenden Tierschutz-Vertretern gibt. Vor Ort ist es leider nicht besser.
Überall, nicht nur in Regionen mit hoher Viehdichte, wird es zunehmend schwer, zeitnah
und rechtssicher eine Genehmigung für landwirtschaftliches Bauen zu erhalten. Selbst
Kuhställe, die bisher eher unangefochten blieben, stehen protestierenden Bürgerinitiativen
gegenüber – ein investitionswilliger Biobauer
im Rheinland sieht sich offenem Widerstand
von hunderten Bürgern ausgesetzt.
Gegen Verbandsklage beim Tierschutz
Zudem sind Landesregierungen mit grüner
Regierungsbeteiligung drauf und dran, die
„Verbandsklage“ über das Umwelt- und Naturschutzrecht auch noch auf den Tierschutz
auszuweiten, angeblich sei dies eine zwingende Folge aus dem 2002 ins Grundgesetz
aufgenommenen Staatsziel Tierschutz. Allein
schon die Sprache des grünen Landwirtschaftsministers Johannes Remmel von Nordrhein-Westfalen ist entlarvend: „Es besteht
Aussicht, dass künftig die Tiere nicht mehr
rechtlos den Interessen der Tierhalter ausgeliefert sind“ – so als finde Tierhaltung in einem rechtsfreien Raum statt. Der WLV und der
RLV als berufsständische Interessenvertretung lehnen den Plan der Landesregierung
strikt ab, Tierschutzvereinen ein umfassendes
Klagerecht einzuräumen. Und sollte der Landtag den Gesetzentwurf annehmen, wird der
Bauernverband mit allen rechtsstaatlichen
Mitteln dagegen vorgehen, kündigte WLV-
Präsident und DBV-Veredlungspräsident
Franz-Josef Möllers an.
Die Analyse von Präsident Sonnleitner auf
dem Bauerntag war eindeutig: Die Mittel werden
immer härter, die Kampagnen immer schriller,
die Bilder immer aggressiver. Damit ist auch das
Umfeld des vermutlichen verbrecherischen
Brandanschlags auf einen neu errichteten
Hähnchenstall im Kreis Salzgitter beschrieben:
Mahnwachen am Hoftor, in Leserbriefen und
selbst von Abgeordneten verbreitete Halbwahrheiten oder Falschaussagen, anonyme Hasstiraden in Internetforen, öffentliche Ankündigungen, man werde psychologischen Druck auf den
investierenden Bauern ausüben. Der Chefredakteur von Land & Forst erinnerte an die Geschichte „Biedermann und die Brandstifter“ von Max
Frisch und mahnte: „Entscheidend ist das Klima,
das diese tageslichtscheuen Gestalten aus ihren
Löchern kriechen lässt.“ Krass anders reagierte
die in Berlin erscheinende – bekennend linke –
Tageszeitung taz und stellte sich in den Dienst
der Bürgerinitiativen „gegen die Industrialisierung der Landwirtschaft“. Ihre Ankündigung am
25. Juli 2011: „Der Widerstand erweitert sich. Er
zielt, mehr und mehr, aufs Ganze.“
Mit Mut, Überzeugung und Geschlossenheit
werden wir uns weiterhin aktiv in gesellschaftliche Diskussionen einbringen. Anliegen und Standpunkte der Landwirte vertreten wir entschlossen und deutlich hörbar.
(Aus dem Leitbild des
Deutschen Bauernverbandes)
Nicht ducken! Mucken!
„Ducken oder mucken“, hat unser Präsident auf
dem Bauerntag gefragt – und klare Antwort gegeben: „Nicht ducken! Mucken!“ Es wird eine
große Herausforderung für den Berufsstand
Landwirtschaft und die gesamte Wertschöpfungskette Fleisch sein, in einer aufgeheizten
Stimmung den Bürgern, Medien und Politikern
unsere moderne leistungsfähige Tierhaltung zu
erklären. Eine Nagelprobe hierfür wird im
Herbst – am 25. Oktober und in dessen Umfeld
– die Vorstellung und Diskussion der „Charta für
Landwirtschaft und Verbraucher“ sein. Und es
ist anzunehmen, dass die DBV-Präsidiumsklausur bei der Umsetzung und Konkretisierung des
Leitbildes gerade auch die „brennenden und
trennenden Themen“ aufgreift und für die bevorstehende Winterarbeit im Berufsstand zur
intensiven Behandlung vorschlagen wird.
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