Caren Anne Poe Traurige Gewissheit … oder alles nur ein böser Traum Roman Nach einer wahren Begebenheit Buch Wie schön könnte das Leben für Anna Porter weiter in ihrem Traumhaus in Sainte Maxime sein. Doch ihre wohl geordnete Welt bekommt die ersten Risse, als ihre Tatyana nach Rückkehr aus dem englischen Internat zu rebellieren beginnt, ihr Ehemann Henning sie nach seiner schweren Krankheit nur noch tyrannisiert. Anna fürchtet um ihr Leben. Plötzlich bricht Annas heile Welt wie ein altes Kartenhaus in sich zusammen. Für Anna beginnt ein Albtraum. Die Autorin Caren Anne Poe widmet sich schon seit vielen Jahren dem Bücher schreiben. Als Managerin in verschiedenen Unternehmen blieb ihr jedoch nie viel Zeit zum Schreiben. Doch Schreiben war schon immer ihre große Leidenschaft. Heute hat sich die Autorin aus dem Berufsleben zurückgezogen, um sich nur noch ihren Büchern zu widmen. Alle © Rechte vorbehalten. „Traurige Gewissheit oder alles nur ein böser Traum“ ist ein Roman nach einer wahren Begebenheit, sämtliche Namen und Orte wurden geändert, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, wären rein zufällig und nicht beabsichtigt. Copyright © 2013 by Caren Anne Poe Text u. Publishing Rights: Autorin Caren Anne Poe www.caren-anne-poe.com www.blog.caren-anne-poe.com [email protected] Titelillustration: Pixelio 483132 - Fotograf: Ulla Trampert u Pixelio 444588- Fotograf Günter Hommes Easybay-web – 86165 Augsburg Textgestaltung: EasyBay-web Limited Mercator House, New Road EVX, UK ISBN-13 978-3-00-044509-5 Leseprobe 1 Wenn du einen verhungernden Hund aufliest und machst ihn satt, dann wird er dich nicht beißen. Das ist der Grundunterschied zwischen Hund und Mensch. Mark Twain Vorwort „Also, wenn ich du wäre, ich würde mich auf gar keinen Fall davon trennen. Ich würde darum kämpfen wie ein Löwe. Lass´ dich um Himmels Willen doch nicht von ihm zwingen, deinen Lebenstraum aufzugeben. „Was hast du zu verlieren, wenn du ihn an die Luft setzt?“ „Das Problem ist nur, dass er sich nicht so einfach an die Luft setzen lassen wird. Du weißt doch, was er bereits getan hat. Er wird mich fertigmachen, sollte ich nicht zustimmen.“ „Auf keinen Fall wirst du das tun.“ Claudine konnte nicht fassen, wie Anna diesen Gedanken überhaupt zulassen konnte. Das hier war Annas Leben. Dabei schaute sie kopfschüttelnd durch die Glasfront des Hauses ihrer Freundin, das in Hanglage am Golf von Saint Tropez lag, mit einem grandiosen Blick zu den sanften Hügeln der gleichnamigen Stadt, auf der sich viele Prominente niederließen. Und Annas Haus bot nicht nur einen unbeschreiblich fantastischen Blick auf den gesamten Golf und auf das mondäne High Society Städtchen Saint Tropez, sondern auch über das offene Meer. Und bei klarer Sicht waren sogar die Bergspitzen von Korsika zu sehen. Dann wirkten sie wie eine Fata Morgana am Horizont des Mittelmeers. Das Anwesen war Annas ganzes Glück. Sie hatte es 7 besonders liebevoll im mediterranen Stil eingerichtet. Und alle Besucher schätzten und genossen dieses wundervolle Ambiente sehr. Anna war sich vollkommen im Klaren darüber, dass Henning ihr all das niemals kampflos überlassen würde. „Henning wird sicher nicht eher abreisen, bevor wir beim Notar waren. Er will mir um jeden Preis alles kaputtmachen, was ich mir hier aufgebaut habe.“ Anna wandte sich dem Fenster zu, schaute sehnsüchtig auf das Meer, das sie so sehr liebte. In Gedanken fragte sie sich, wie er all die wundervollen Jahre, die sie hier gemeinsam verlebten, so plötzlich aus seinen Erinnerungen löschen und zerstören konnte. Sie fühlte sich in diesem Moment in einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit gefangen. Claudine legte Anna mitfühlend ihre Hand auf ihre Schulter. Sie versuchte ihrer Freundin etwas Trost zu spenden und ihr Mut zuzusprechen, obwohl auch sie eine Vorahnung davon hatte, was noch kommen würde. Doch das behielt sie lieber vorerst für sich. „Lass den Kopf nicht hängen. Du musst jetzt stark sein. Wehr dich. Das hier alles“, dabei schwang Claudine ihren rechten Arm ausschweifend von links nach rechts, „das darfst du auf gar keinen Fall verlieren.“ „Ich weiß. Aber es ist aus. Dieses Leben ist endgültig vorbei. Alle unsere Träume, unsere Pläne die wir noch hatten, werden nie mehr wahr werden. Mein großer Traum ist ausgeträumt. Ich habe einfach keinen Nerv mehr für diesen Krieg. Verstehst du das?“ Claudine schwieg und hing ihren Gedanken für einige Sekunden hinterher. Während Anna noch immer auf das Meer starrte, fragte Claudine plötzlich: „Weiß deine Tochter eigentlich schon von dem Unglück und von all´ dem hier?“ 8 „Nein, woher denn auch. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr. Wir wissen ja nicht einmal, wo sie sich augenblicklich aufhält, ob es ihr gut geht, oder ob sie nicht tatsächlich in die Fänge einer Sekte geraten ist. An etwas anderes will ich erst gar nicht denken. Aber sie ist im Moment nicht auffindbar.“ „Oh Gott, habt ihr denn nicht nach ihr gesucht?“ „Doch sicher. Wir haben alles Menschenmögliche unternommen, um sie zu finden. Ich glaube, sie will vielleicht gar nicht von uns gefunden werden.“ „Wie kommst auf diese Idee?“ „Meine Tante deutete einmal so etwas an. Ich habe im Moment weiß Gott andere Probleme, als nach diesem undankbaren Kind zu suchen.“ Claudine schwieg eine Weile; denn sie wusste nur zu gut, was Tatyana alles angerichtet hatte. Was sie ihren Eltern zumutete. Und sie war sich nicht sicher, wie sie angesichts solcher Handlungen mit ihrem Sohn verfahren würde. Claudine nahm Anna noch einmal fest in den Arm, dann strich sie ihr freundschaftlich über den Rücken und schmiegte sich von hinten dicht an Annas Wange. Sie gab ihr einen sanften Kuss auf den Hals zum Abschied. Auch wenn es ihr schwer fiel, ihre Freundin jetzt in dieser Situation alleine zurückzulassen, doch sie hatte keine Wahl, sie musste gehen. 9 1 „Was ist, warum schaust du mich so komisch an? Ist irgendetwas falsch an mir?“ Anna beschlich augenblicklich ein ungutes Gefühl. Denn Henning saß nur da und starrte sie eigenartig und sonderbar an. Er saß vor seinem Schreibtisch, schrieb wieder einmal geheimnisvolle Mails, wie so oft in letzter Zeit, als er sich plötzlich Anna zuwandte. Sein Blick war kalt und hasserfüllt. Anna spürte sofort seine Feindseligkeit. Es fröstelte sie direkt bei seinem Anblick. Er wurde ihr immer unheimlicher. Oh mein Gott, dieser bedrohliche Blick, nein, das ist nicht mehr mein Henning. Niemals zuvor hatte er sie mit so kalten Augen angeschaut. „Henning, was ist los? Wieso schaust du mich so komisch an. Was ist bloß los mit dir? Was hab´ ich dir getan? Starr mich bitte nicht so an, du machst mir Angst.“ Doch Anna ahnte irgendwie schon, dass er genau das damit bezweckte. Das er gerade dabei war, irgendeinen neuen Giftpfeil auf seiner Zunge bereitzulegen, um ihn ihr entgegenzuschleudern. Sie schaute in seine früher so sanft wirkenden hellblauen Augen. Doch jetzt, in diesem Moment, da wirkten sie eher wie die Augen eines Raubvogels. Mit weit geöffneten Pupillen und einem starrem Blick fixierte er sie, ohne zu antworten. Er starrte sie nur kaltherzig an und schwieg. Anna lief ein kalter Schauer über den Rücken Sie spürte jetzt, wie sie sein Blick regelrecht durchbohrte. Ihre Magenwände krampften sich augenblicklich zusammen und Anna wusste sofort, es war wieder soweit. Was hat er dieses Mal vor? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als Henning endlich antwortete. Neuerdings liebte er es, Spannung zu erzeugen, geheimnisvoll zu wirken, sie ratlos zu machen. Doch auch 10 dieses Mal war es natürlich nichts Freundliches, was er zu sagen hatte. Er wollte ihr nur den nächsten Tiefschlag versetzen. Es nahm einfach kein Ende mehr. Noch immer war sein Blick fest auf ihre Augen gerichtet. Mit hassverzehrter Stimme sagte er scharf: „Weißt du eigentlich, dass ich dich nie geliebt habe?“ Während er mit einem angewiderten Gesicht zu Anna sprach, machte er eine abschätzige Handbewegung. Anna spürte augenblicklich, wie sich ihr Puls beschleunigte. „Ja, ich bin mir heute sogar ganz sicher, dass ich dich nie wirklich liebte. Das ist mir jetzt klar geworden, sonnenklar. Wie konnte ich nur all die Jahre so blind gewesen sein.“ „Willst du mir damit sagen, dass du mir in all den Jahren, in denen wir uns mit großer Zärtlichkeit und Leidenschaft liebten, uns oft stundenlang aneinander kuschelten, nur etwas vorgemacht haben willst? Das du in Wirklichkeit nie etwas für mich empfunden hast, das alles nur Theater war, alles nur eine einzige Lebenslüge? Ist es das, was du mir damit sagen willst?“ fragte Anna entsetzt. Ihre Stimme begann zu vibrieren, sie schien beinahe zu versagen, obwohl sie sich immer wieder, und immer wieder schwor, sich von ihm nicht mehr provozieren zu lassen. Doch das hier, das ging an die Substanz. In seiner maliziösen Stimme schwang jetzt Trotzigkeit mit. „Wieso denn Lebenslüge? Wie du weißt, hatte ich ja jetzt genügend Zeit gründlich darüber nachzudenken, mir Klarheit über uns zu verschaffen. Und nun teile ich dir lediglich das Ergebnis meiner Überlegungen mit. Ich denke nämlich, du solltest es wissen.“ Wie eine Trotzburg saß er mit verschränkten Armen nun vor ihr. Selbstgefällig lehnte er sich zurück, streckte salopp und entspannt seine langen Beine vor ihr aus und schmunzelte sie kampfeslustig an. 11 „Macht es Spaß?“ „Was? Was meinst du?“ fragte er scheinheilig, wobei er schadenfroh und spöttisch vor sich hin lächelte. „Macht es Spaß, mich ständig zu schockieren, mir irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf zu werfen?“ „Was kann ich dafür, wenn du Fakten nicht akzeptieren kannst. Und Fakt ist nun einmal, dass ich jetzt weiß, dass ich dich nie liebte. Ich frage mich sowieso schon länger, wieso mir das erst jetzt klar wurde.“ „Du bist so wunderbar gemein. Du scheinst dir richtig gut in deiner neuen Rolle eines zweiten J.R. Ewing zu gefallen. Ist es nicht so?“ „Wenn du meinst, dass ich nur eine Rolle spiele, muss ich dich enttäuschen.“ „Aber wenn du glaubst, dass du der Einzige hier bist, der sich seit geraumer Zeit allerlei Fragen stellt, dann muss ich dich ebenso enttäuschen. Denn auch ich stelle mir seit einigen Wochen einige Fragen.“ „So, na dann mal raus mit der Sprache. Wenn wir schon dabei sind, uns Klarheit zu verschaffen, dann leg mal los. Nur keine falsche Scheu. Sag schon, worüber denkst du angeblich schon lange nach?“ Eigentlich hatte Anna sich geschworen, egal wie gemein er zu ihr sein wird, so etwas niemals auszusprechen. Niemals so tief zuzuschlagen. Sich niemals auf sein Niveau zu begeben. Doch das Fass des Unerträglichen war inzwischen mehr als voll bei ihr. „Ich frage mich“, sie überlegte noch eine Sekunde, ob sie das tatsächlich sagen sollte, als Henning ihr ins Wort fiel. „Na, jetzt musst du wohl erst einmal scharf überlegen, dir schnell etwas ausdenken. Ist es nicht so? Dir geht nämlich in 12 Wirklichkeit überhaupt nichts durch den Kopf!“ fauchte er sie giftig an. „Hab ich recht?“ „Da gib dich mal keinen falschen Hoffnungen hin! Denn auch ich frage mich tatsächlich seit geraumer Zeit einiges. Wieso ich zum Beispiel so eine Idiotin war.“ „Idiotin? Warum? Vielleicht, weil du dich mich geangelt hast, eine gute Partie? Denn die war ich ja wohl damals für dich oder etwa nicht?“ „Mach dich nicht lächerlich. Gute Partie? Das ich nicht lache. Ohne dich wäre mir verdammt viel erspart geblieben. Außerdem wirst du damals ohne mich mit Robert verdammt hart gelandet. Vielleicht ist dir wenigstens diese Erinnerung geblieben.“ „Aha, jetzt kommt diese Leier. Ich hätte das auch ohne dich überstanden. Oder glaubst du allen Ernstes, dass Robert mich damals wirklich totgeschlagen hätte?“ „Genau das wäre passiert. Oder er hätte dich an diesem Tag zu einem Krüppel gemacht. Das weißt du doch ganz genau. Auch das ist Fakt.“ „Anna, die große Retterin, die Heldin, der ich mein Leben verdanke. Glaubst du das wirklich?“ „Du widerst mich an. Ja, ich habe dir damals deinen Arsch gerettet, mein Lieber Henning! Und ohne mich hättest du garantiert heute nicht mehr die Gelegenheit, mir ständig irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf zu werfen. Aber egal, über diese Zeit aus der Vergangenheit habe ich im Augenblick sicher nicht nachgedacht.“ „Nicht? Na, worüber hast du denn angeblich nachgedacht? Da werd´ ich ja direkt neugierig. Lass doch mal hören. Da bin ich aber wirklich gespannt, was dir vermeintlich schon lange durch den Kopf geht. Nur raus damit. Komm schon, lass mich 13 auch an deinen Gedanken teilhaben.“ Dabei grinste er spöttisch, weil er davon ausging, dass Anna das nur sagte, um sich zu rächen. „Okay, wenn du es wirklich wissen willst, dann sage ich dir, worüber ich seit Wochen bereits grüble. Nämlich, wieso ich nur so dämlich war, dir dein Leben zu retten. Ich hätte dich auch einfach in Bonaire lassen können. Dann wäre diese Insel dein letztes Zuhause geworden. Stattdessen ging ich für dich durch die Hölle, um dir dein Leben zu retten und wie dankst du mir das? Du undankbarer Unverschämtling!“ Sie spürte, wie ihr die aufsteigende Wut die Röte ins Gesicht trieb. Anna war in dieser Sekunde regelrecht in Rage geraten. Es schnürte ihr schier die Kehle zu. Sie bekam kaum noch Luft. Doch nun sah sie, wie sich sein Zorn auf sie nur noch mehr steigerte. Verdammt, vielleicht hätte ich das doch nicht sagen sollen, machten sich sofort die schlimmsten Gewissensbisse bei ihr breit. Sein irrer missmutiger Blick, die Art, wie er sich gebärdete, traf Anna wie ein Peitschenhieb. Ohne jeden Zweifel schlug ihr augenblicklich wieder seine volle Verachtung und tiefster Hass entgegen. Henning war ihr nie fremder, wie in diesem Moment. Anna fühlte, wie sich ihr Puls ein weiteres Mal stark beschleunigte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, und Übelkeit hochstieg. Inzwischen machte sich mehr und mehr Zerschlagenheit und Hilflosigkeit in ihr breit. Denn Anna hatte keinen blanken Schimmer, wieso er all das auf einmal tat. Wieso er sie plötzlich so hasste. Sie hatten doch seit einem viertel Jahrhundert eine harmonische und glückliche Ehe geführt. Oder hatte sie sich nur etwas vorgemacht? Nein, sie waren das perfekte Paar. Alle haben es gewusst. Alle haben es immer wieder bewundernd festgestellt. Wie oft wurden sie um ihre so 14 harmonische Beziehung beneidet. Was war bloß geschehen? Außerdem verdankte er ihr zum zweiten Mal sein Leben. Was hatte sie nicht alles auf sich nehmen müssen, um sein Leben zu retten. Und sie tat es aus Liebe, nicht aus Pflichtgefühl. Wie konnte er sie nach allem, was sie durchmachten, nur so behandeln? Henning und Anna teilten sich ein Büro in ihrem Hotel an der Côte d´Azur. Und seit ihrer Rückkehr aus den USA, nahm ihr gemeinsames Leben eine erschreckende Wende. Irgendwie schien es ein Rosenkrieg zu werden. Sie rang nach Luft. Hennings neue Offenbarung ließ Anna nachdenklich werden. Die unzähligen Auf und Ab´s, als fände ihr gesamtes Leben seit Monaten nur noch in einer Achterbahn statt, wurden unerträglich. Wohin soll das alles bloß noch führen? Oder befinden wir uns bereits in einer Sackgasse? überlegte Anna und blickte Henning traurig in seine blauen Augen. Während Anna darüber nachdachte, wie sehr sich ihr Henning in der kurzen Zeit seit ihrer Rückkehr aus Miami verändert hatte, beobachtete er sie sehr aufmerksam. Amüsiert, ja regelrecht triumphierend, beobachtete er nun jede ihrer Regungen. Beinahe wie ein Wissenschaftler, der konzentriert ein ganz winziges Insekt seziere. Ihn schien Annas entsetzter Gesichtsausdruck wunderbar zu gefallen. Unerbittlich genoss er diesen Triumpf über ihre Gefühle, die er einmal mehr mit Füßen trat. Nur mit großer Mühe schaffte sie es, ihre Tränen und die erneut aufsteigende Wut zu zügeln. Auf einmal schien sich alles um sie herum zu drehen. Sie glaubte, der Boden würde schwanken. Raus hier, ich muss raus aus dem Büro. Ich kann seinen blöden Gesichtsausdruck nicht mehr länger ertragen, sonst verliere ich noch 15 komplett die Beherrschung. Ich werde dir ganz sicher nicht noch die Genugtuung gönnen, mich weinen zu sehen, sprach sie in Gedanken zu Henning. Eine schwere Zeit lag bereits hinter ihnen. Und bis zu diesem Tag hatte Anna niemals die Hoffnung aufgegeben, eines Tages doch noch ihren Henning wiederzubekommen. Mehr und mehr, mit jedem verdammten Tag schwand jedoch diese Hoffnung. Und das nach einem viertel Jahrhundert, in dem sie doch glücklich waren. Oder hatte sie sich das immer nur eingebildet? Sich all die Jahre selbst etwas vorgemacht? Doch Irgendwann muss Schluss sein, überlegte Anna nun. Mal kommt der Moment, wo man akzeptieren muss, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Ihre so lange Zeit genährten Hoffnungen zerplatzten in diesen Minuten wie Seifenblasen. Dazu addierte sich zu allem Übel auch noch das Zerwürfnis mit ihrer Tochter. Auf der Terrasse rang sie erst einmal nach Luft. Ihr Blick schweifte über den Golf nach Saint Tropez hinüber. Sie musste sich irgendwie ablenken, um nicht zu heulen. Anna fühlte sich inzwischen so leer. Doch den Kampf gegen ihre Tränen hatte sie längst verloren. Ich bin ganz ruhig, ich atme ruhig ein und aus, ich atme tief durch, atme tief und langsam ein und aus. Ich bin ganz ruhig und atme tief und langsam ein und aus…, versuchte sie sich mit ein paar autogenen Atmungsübungen zu beruhigen, während ihr Herz wie wild pochte. Ihr Blick ruhte immer noch auf Saint Tropez, obwohl sie überhaupt nichts um sich herum wahrnahm. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um eine einzige Frage. Wie soll es bloß mit uns weitergehen. Das ist doch kein Leben mehr. Was soll ich bloß tun? Kann ich überhaupt noch etwas tun, um unsere Beziehung zu retten? Oder ist wirklich alles zu Ende? Ich weiß es einfach nicht. Aber es muss jetzt was geschehen. Soviel ist sicher. 16 Weder der wundervolle Anblick der vorüberziehenden Yachten, noch ihr geliebtes Meer vermochten ihre Wut, ihren aufsteigenden Hass und ihre neu aufflammenden Mordgelüste zu lindern. Das Einzige, was sie vor ihrem geistigen Auge sah, war Hennings blöd grinsendes Gesicht. Verdammt, wozu habe ich ihm sein Leben gerettet? Damit er mir meins zerstörst? fragte sie sich nun zum x-ten Mal Wütend auf sich selbst, schlug sie verbittert mit der Faust auf das eiserne Geländer. Wieso um alles in der Welt, habe ich ihn nicht einfach auf Bonaire gelassen? Wieso musste ich ihn unbedingt nach Miami bringen? Wenn ich das geahnt hätte. Da ahnte sie noch nicht, dass ihr das Schlimmste noch bevorstand. Noch während sie sich ihrem Selbstmitleid hingab, vernahm sie plötzlich ein lautes Geräusch, beinahe wie ein Schuss. Schlagartig aus ihren Gedanken gerissen, zuckte sie erschrocken zusammen. Plötzlich schlug die Haustür heftig ins Schloss, kurz darauf heulte sein BMW-Motor auf. Sekunden später entfernte sich das Motorengeräusch vom Haus. Aha, er ist also abgehauen. Auch gut. Wo er wohl hin will? Was hat der Kerl vor? Mein Gott, ich hatte so gehofft, dass er sich vielleicht dieses Mal entschuldigen würde. Aber wieso sollte er sich auch entschuldigen? Er scheint das alles für ein Spiel, ein bösartiges Spiel zu halten. Es bereitet ihm offenbar echte Freude, sprach Anna laut mit sich selbst. Wieso tut er bloß solche Dinge? Was verdammt nochmal geht in ihm vor sich? Wenn ich bloß wüsste, was neuerdings in seinem Gehirn herumspukt? Während ihr viele Gedanken durch den Kopf gingen, lehnte sie sich missmutig entnervt über die Brüstung ihrer oberen Terrasse und schaute traurig zu ihrem Pool hinunter, in dem sich die Schäfchenwölkchen auf den kleinen sanften Wogen des Wassers flimmernd spiegelten. Am Poolrand lag Felix, ihr kleiner rotgestreifter Kater, der gerade versuchte einen 17 Falter von der Wasseroberfläche zu fischen. Doch Annas Gedanken waren längst wieder abgedriftet. Sie fragte sich, welche Möglichkeiten ihr noch blieben. Denn in letzter Zeit führten immer öfter Kleinigkeiten, irgendwelche Unbedeutsamkeiten, eventuell ein falsches Wort, irgendeine Geste oder ein belangloses Ereignis dazu, ihn plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung ausrasten zu lassen. Seine Aggressionen steigerten sich von Tag zu Tag. Genau wie seine irrationalen Handlungen, die immer mehr an Stärke gewannen. Anna begann sich langsam vor seiner Unberechenbarkeit zu fürchten. Das Motorengeräusch verstummte. Sie lauschte nach oben zur Einfahrt. Doch alles war ruhig. Noch einmal atmete sie tief durch, vergewisserte sich, dass er wirklich fort war, nicht wieder eines seiner miesen Spielchen mit ihr trieb. Dann ging sie sofort zurück ins Büro. Eigentlich wollte sie nur auf seinem Schreibtisch nach irgendwelchen Hinweisen suchen, die ihn zu dieser neuerlichen Attacke veranlasst haben konnten. Dann stellte sie erstaunt fest, dass er dieses Mal seinen Computer vergessen hatte herunterzufahren. Er war ausnahmsweise auf Standby gegangen. Hat er ihn wirklich nur vergessen herunterzufahren, oder gehört das vielleicht wieder zu einem neuen perfiden Plan? Seltsam, überlegte sie. Angespannt hielt sie noch einen weiteren Moment inne. Alle ihre Sinne liefen auf Hochtouren. Sie lauschte konzentriert auf irgendwelche Geräusche im Haus. Doch er schien tatsächlich fort zu sein. Vorsichtshalber wollte sie aber lieber noch einmal nach oben zum Eingang und auf die Straße gehen, um sich zu vergewissern, dass sein Auto nicht doch irgendwo in der Nähe parkte. Sie musste ganz sicher sein und zog es vor, die Straße in Augenschein zu nehmen. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist 18 besser, dachte sie sich. Oh verdammt, wie ich das alles inzwischen hasse, fluchte sie auf dem Weg zur Haustür laut vor sich hin. Erleichterung. Aufatmen. Da war weit und breit nichts von ihm zu sehen, noch zu hören. Nichts war zu hören, außer dem Rauschen der Pinien, dem fröhlichen Rufen einiger Turteltauben und dem Hupen ihrer Nachbarin, die gerade mit ihrem Jeep freundlich grüßend vom Kindergarten zurückkam. Ihre kleine dreijährige Tochter saß im Fond des Wagens und winkte Anna freudig mit ihrer kleinen Hand zu. Sein BMW war nirgends auszumachen. Er war offenbar wirklich weggefahren. Erleichtert atmete Anna auf. Ob unsere Nachbarin weiß, was sich bei uns abspielt? überlegte sie kurz, während sie ihr freundlich zurückwinkend nachsah, als ihr Jeep sich die steile Auffahrt zu ihrem Haus hinaufquälte. Die Auffahrt ihrer Nachbarin führte so steil hinauf, dass, falls es jemals schneien sollte, sie keine Chance hätte, mit irgendeinem Fahrzeug zu ihrem Haus zu gelangen. Wahrscheinlich nicht einmal mit ihrem Jeep. Schnell begab sich Anna zurück ins Haus und rannte die eine Etage hinunter zum Büro. Ihr Haus verlief über drei Etagen. Im Untergeschoss befanden sich die Gästezimmer, die Küche, das Esszimmer und der große Salon. Von allen Etagen und Zimmern schaute man aufs offene Meer und nach Saint Tropez hinüber. Die Privaträume, sowie eine große Bibliothek und das Büro befanden sich auf der ersten Etage. Nun durfte sie keine Zeit verlieren. Denn so eine Chance, so eine gute Gelegenheit, mal einen Blick in Hennings Computer zu werfen, würde sich sicher sobald nicht wieder ergeben. Denn seit sie aus Miami zurück waren, tat er immer sehr geheimnisvoll damit. Oft fragte sich Anna verwundert, was er wohl vor ihr zu verbergen versuchte. Normalerweise ließ er 19 ihn auch niemals alleine zurück, nicht ohne ihn zuvor herunterzufahren. Deshalb war ihr nicht ganz wohl bei dem Gedanken, an seinen Computer zu gehen. Es bestand immer noch die Gefahr, dass es gar kein Zufall war, sondern wieder nur eine seiner perfiden Aktionen in einem seiner bösen Spielchen. Sicherheitshalber lauschte Anna noch einmal ins Haus hinein, hielt den Atem an und wartete einen weiteren Moment. Doch da bewegte sich nichts im Haus. Schnell machte sie sich über seinen Computer her. Adrenalin durchströmte ihren Körper, ihr Herz hämmerte wie wild und ihre Hände zitterten vor Erregung. Sie mochte sich seine Reaktion gar nicht erst vorstellen, sollte er sie hier an seinem neuerlichen Heiligtum erwischen. So ein Mist, der Kerl hat sein Passwort für sein Mailaccount geändert. Wer weiß, was er neuerdings vor mir verheimlicht. Mehr als fünfundzwanzig lange Jahre teilen wir nun schon unser gemeinsames Leben. Niemals gab es Geheimnisse zwischen uns. Wir waren all die Jahre wie eine zusammengeschweißte Einheit. Wie kann er das alles vergessen haben? Soll das wirklich alles für immer verloren sein, niemals wiederkehren? Hat seine Krankheit unser gemeinsames Leben ein für alle Male zerstört, sämtliche Erinnerungen ausgelöscht? Einfach so? murmelte sie leise frustriert vor sich hin. Anna saß vor seinem Computer, als sich noch mehr Fragen auftürmten, für die es scheinbar keine Antworten gab. Vielleicht fehlt es mir einfach nur an etwas mehr Geduld? Dieser Gedanke bedrückte sie. Doch es blieb die Frage, ob es denn überhaupt noch Hoffnung auf Heilung gab? Wird er jemals wieder der Mann sein, in den ich mich vor einem viertel Jahrhundert Hals über Kopf verliebte? Anna glaubte nicht mehr daran. Da müsste wohl schon ein Wunder geschehen. Mit einem mulmigen Gefühl in der 20 Magengegend, begann sie in seinem Computer herumzustöbern. Auf seinen Email-Account hatte sie ja keinen Zugriff. Sie saß an seinem Schreibtisch und überlegte einen Moment, welches Passwort mag er wohl benutzt haben. So probierte sie zuerst den Namen ihres Hundes, der Katzen, den seiner Mutter, den Namen seiner Schwester, den Namen seiner ersten echten großen Liebe und alle möglichen Geburtsdaten, alte Freunde, sogar den Namen seines ersten Autos. Nichts. Vielleicht der Name ihrer Yacht. Doch alle Möglichkeiten, die ihr logisch erschienen, blieben Nieten. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass er neuerdings Texte für Mails zuerst in Word schrieb, um sie durch das Rechtschreibprogramm laufen zu lassen. Vorsichtshalber lauschte sie zwischendurch immer mal wieder mit Herzklopfen in den Hausflur, um sicherzustellen, dass sie absolut alleine im Haus war. Dann öffnete sie die zuletzt verwendeten Dokumente. Doch was sich ihr dort offenbarte, entsetzte sie. Wie kann er nur so etwas schreiben? Unglaublich, was dieser Irre all unseren Freunden an niederschmetternden Verleumdungen schrieb. Jetzt verstehe ich auch das merkwürdige Verhalten einiger Freunde, die kaum noch Kontakt zu mir suchen, die angeblich immer gerade keine Zeit haben, wenn ich anrufe. Fassungslos schaute sie auf seine Erzählungen. Spricht er in diesen Mails wirklich von mir, oder berichtet er von einer anderen Person? Starr vor Entsetzen schaute sie auf seine Briefe. Nicht zu fassen, was dieser Mann für einen Schwachsinn schreibt. Glaubt er das etwa selbst, was er sich hier zusammenspinnt? Was sie hier las, schockierte Anna sehr und es erklärte auch einiges, beantwortete aber nicht ihre derzeitige Frage, wieso er sie an diesem Morgen so dermaßen kränken wollte. Frustriert und erschöpft sackte sie in sich zusammen. Sie ließ die Arme 21 hängen, starrte noch immer entsetzt auf seinen Computer. Wozu hatte sie überhaupt diese ganze Odyssee auf sich genommen? Und das alles nur, um sein Leben zu retten. Ihre Kräfte waren aufgezehrt. Seit eineinhalb Jahren ging das nun schon so, seit sie zurück waren. Doch sein Zustand, jedenfalls der Geistige, wurde statt besser immer schlimmer. Es war beinahe unheimlich, wie sehr er sich veränderte, jeden verdammten Tag seinem Vater ähnlicher wurde. Dabei hatte Henning seinen Vater knapp dreißig Jahre für diese Art mit seinen Mitmenschen umzuspringen, gehasst. Ja, er verachtete ihn dafür. Anna kam es so vor, als habe die Krankheit in seinem Gehirn ein vollkommen neues Programm aufgespielt. Und unwillkürlich fragte sie sich nach dem Sinn des Lebens. Wie in Trance griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer Freundin. Es dauerte eine ganze Weile, die Anna beinahe unerträglich lang vorkam, als Claudine endlich den Hörer abnahm. „Hallo Claudine, ich brauche dringend jemanden zum Reden, sonst platze ich. Ich bin so wütend.“ „Was ist wieder passiert?“ „Das erzähl´ ich dir später. Ich weiß mir einfach keinen Rat mehr. Henning wird immer unerträglicher und vor allem unberechenbarer.“ Und wieder musste Anna gegen ihre Tränen ankämpfen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, ihr Mund vollkommen ausgetrocknet. „Ich brauche unbedingt deinen Rat und jemanden zum Reden. Der Kerl macht mich vollkommen fertig.“ „Reicht es dir, wenn wir uns in einer dreiviertel Stunde im Café Wafou treffen? Ich muss dringend noch ein paar Kunden anrufen, aber dann habe ich Zeit für dich.“ 22 „Merci ma Cheri, du bist ein echter Schatz. Ich gehe schon mal runter in die Stadt. Ich muss hier raus. Mein Gott bin ich froh, dass noch keine Gäste im Hause sind, ich könnte sie jetzt nicht ertragen.“ „Kopf hoch Kleines, wir werden eine Lösung finden, da bin ich mir sicher, wir finden eine.“ Wirklich? Würden wir tatsächlich eine akzeptable Lösung finden, mit der wir beide, Henning und ich leben konnten? Claudine war eine gute Freundin in Sainte Maxime, wo Anna und Henning inzwischen ein kleines Hotel betrieben. Ihr Haus lag, wie ja schon erwähnt, auf einem Hügel, mit einem traumhaften Blick auf den Golf von Saint Tropez, auf das offene Meer und natürlich konnte man von ihrem Haus aus direkt zur Stadt Saint Tropez hinüberschauen. Ihnen gegenüber lag die Halbinseln von Saint Tropez, auf der viele Prominente ihre Supervillen besaßen, wie Gunter Sachs, Brigitte Bardot, Paul Newman, Francois Mitterrand, der Baulöwe Christian Krawinkel, sogar Nina Hagen, einige Sportprofis und natürlich auch die Familie Al Fayed, um nur einige wenige zu nennen. Ihre Gäste saßen damals oft stundenlang mit Ferngläsern bewaffnet auf der Terrasse ihres Hotels und verfolgten die rauschenden Feste. So auch das der Familie Al Fayed, als die beiden frisch Verliebten, Dodi und Diana (Prinzess Di), dort einst mit Dodis Motoryacht vor Anker lagen. Das war ein unbeschreiblich grandioses Spektakel, sowohl für Anna und ihre Familie, wie auch für ihre Hotelgäste. Mit den Ferngläsern hatte man das Gefühl, direkt vor dem gewaltigen Buffet zu stehen. Und natürlich konnte man so auch die extravagant gekleideten Besucher bestaunen. Jedes dieser Kleider kostete sicherlich so viel, wie ein Kleinwagen. Gegenüber Sainte Maxime eröffnete sich eine andere Welt, zu der das normale Bürgertum keinen 23 Zutritt hatte. „Kommt meine Kleinen, wir gehen spazieren.“ Sofort sprangen ihre beiden Hunde aus ihren Körbchen und wedelten wie wild mit den Schwänzen. Vor lauter Begeisterung sprangen sie mehrmals an ihrem Frauchen hoch. Dann sausten sie wie auf Kommando die Treppe hinauf zur Haustür. Sie bellten wie verrückt und hüpften im Kreis herum. Anna nahm zuerst ihren kleinen Chicco, einen knuddeligen Tibetterriermischling an die Leine. Den hatten Anna und Henning einst aus einem Tierheim in Gibraltar mitgenommen, als sie sich mit ihrem Segelschiff auf dem Weg in die Karibik befanden. Eigentlich sollte ihre geliebte Labradorhündin Susi sie in die Karibik begleiten. Doch noch bevor sie Gibraltar verließen, verstarb ihr größter Schatz an einem Gehirntumor. Zwei Jahre zuvor, war ihre Susi von einem Auto angefahren worden. Bei den nachfolgenden Röntgenaufnahmen und tierärztlichen Untersuchungen wurde das Karzinom nicht entdeckt. So konnte es ungehindert zu einem apfelsinengroßen Tumor heranwachsen, der in Gibraltar plötzlich aus der Nase zu bluten begann. Tage der großen Trauer und Tränen vergingen, ehe sich Anna und Henning dazu durchringen konnten, ein armes Wesen aus dem Tierheim mitzunehmen. In diesem Tierheim befand sich auch die Tierarztklinik, in der ihre allesgeliebte Susi eingeschläfert werden musste. Einige Trauertage später bekam ihre kleine Familie wieder Zuwachs mit little Chicco, der bereits viel Schlimmes hinter sich gebracht hatte. Danach versuchte sie Moustique an die Leine zu nehmen. Moustique war ein Cocker King Charles, ein Erbstück ihrer Nachbarn. Der lief nun ungeduldig wie aufgezogen im Kreis herum, womit er Anna das Anleinen erschwerte. „Halt endlich still, du alter Zappelphilipp“, schimpfte sie 24 den armen Tropf aus, der sich doch nur auf das Gassi gehen freute und zog ihn zornig zu sich heran. Wütend schnappte Anna sich ihre Handtasche von der Kommode im Flur, steckte vorsichtshalber noch ein paar Taschentücher ein, entnahm dem Schlüsselkästchen ihre Hausschlüssel und dann ließ auch sie die unschuldige Tür wütend ins Schloss knallen, als sei sie Schuld an ihrem ganzen Dilemma. Ihre ungezügelte Wut im Bauch trieb sie vorwärts wie ein Soldat. Zornig marschierte sie großen Schrittes mit ihren kleinen Lieblingen in Richtung Stadtzentrum. Das Auto ließ sie stehen. Anna musste sich dringend an der frischen Luft bewegen, denn beim Spazierengehen konnte sie immer schon ganz prima abschalten oder gute Ideen entwickeln. Und heute wollte sie während des Spaziergangs mal in Ruhe ihre Gedanken sondieren. Denn das war bitternötig. Bis ins Zentrum waren es so nicht einmal fünfzehn Minuten zu Fuß, insbesondere, weil es praktischerweise nur bergab ging. Im strammen Tempo näherten sie sich dem Zentrum des Ortes. Ihre Hunde hatten sicherlich wenig Spaß an diesem Sparziergang, da sie ohne Zwischenstopp bis ins Zentrum durchmarschiert war. Wann immer ihre beiden Hunde stehenblieben, um die Informationen anderer Hunde zu entziffern und ihre Antwort in Form von Pipi zu hinterlassen, riss Anna die armen Dinger schier von ihren Pfoten. Sie hätten sicherlich lieber irgendwo schnuffeln und an jedem zweiten Grashalm ihre Duftmarken hinterlassen wollen. Bei der letzten Möglichkeit, bevor sie die Fußgängerzone erreichten, durften sie endlich ihre Notdurft verrichten. Anna glaubte echte Erleichterung in ihren Augen erkannt zu haben. Und sofort überfiel sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich waren sie ja nicht der Auslöser für ihre Wut. 25 „Tut mir leid meine Süßen, aber heute ist auch ein Scheißtag für mich.“ Beide schauten ängstlich zu ihr auf, denn so ein rüdes Verhalten kannten sie überhaupt nicht von ihrem Frauchen. Anna beugte sich nun liebevoll zu ihnen runter, gab beiden ein paar Streicheleinheiten als Entschuldigung und jedem noch ein paar zärtliche Küsschen auf ihre Köpfchen. Zu gerne hätte sie in diesem Moment die Gedanken ihrer misstrauisch schauenden Hunde lesen wollen. Im Café Wafou schien wieder einmal die Hölle los zu sein. Jeder Tisch war belegt. Als ihr Lieblingskellner Bertrand sie sah, signalisierte er ihr, sich kurz zu gedulden. Dabei zeigte er mit dem Finger auf einen bestimmten Tisch. Anna wartete mit ihren beiden Hunden also brav im Schatten eines Olivenbaums, der sich vor der Terrasse des Cafés befand, bis Bertrand ihr ein Signal geben würde. Es vergingen nur wenige Minuten, dann saßen sie bereits an einem kühlen Plätzchen und Anna bestellte sich wie üblich einen Café au lait. Moustique und Chicco bekamen wie üblich von Bertrand eine Schüssel mit Wasser unter den Tisch gestellt. Ihre Kaffeetasse stand noch unberührt vor ihr, als sie Claudine auf das Café zukommen sah. Sie war froh, dass es Claudine gab, mit der sie einfach über alles offen sprechen konnte, die niemals etwas weitertratschte. Das gehörte zu ihrem Berufsethos. „Salut Anna, bin doch schneller fertig geworden, als ich dachte. Manche Kunden sind echt schräg und nervig, sag ich dir. Die wollen immer das, was man gerade nicht auf Lager hat oder haben Wünsche, die kaum erfüllbar sind. Aber nun zu dir. Bist du schon lange hier?“ „Nein, auch erst ein paar Minuten, oder etwas länger. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Mir schwirrt gerade so viel 26 durch den Kopf.“ Claudine war eine von wenigen, mit der Anna über ihre persönlichen Probleme offen reden konnte. Sie erzählten sich eigentlich alles gegenseitig. Claudine und ihr Mann Michel betrieben ein Raumausstattergeschäft mit Designerstoffen und Accessoires in Sainte Maxime. Doch ihre Preise waren nichts für arme Leute. Trotzdem konnten sie sich kaum vor Aufträgen retten. Zudem war sie eine top Verkäuferin, denn sie gab ihren Kunden ständig das Gefühl, etwas Besonderes zu sein oder sie verbände eine Art Freundschaft miteinander. Damit zog sie sich viele Stammkundinnen heran, da hauptsächlich Frauen zu ihrer Kundschaft zählten. Zumindest trafen die Frauen meistens die Entscheidungen. Nur sie entschieden, was oder wie und wann neu bezogen werden sollte, welche Stoffe beziehungsweise, welche neuen Vorhänge gekauft wurden. Aber auch die Preisverhandlungen überließen die Ehemänner gerne ihren Frauen. Überhaupt hielten sich die Männer gerne vorzugsweise aus den Entscheidungen der Raumausstattung heraus, um den häuslichen Frieden nicht zu gefährden. Oft fragte Anna sich, wozu die Männer überhaupt mitkamen. Außer für das Berappen der 35% Anzahlung, die bei Stoffkäufen oder Aufträgen fällig wurden, waren sie eigentlich überflüssig, eher lästig für die Ehefrauen. Aber sicher war Claudine selbst auch einer der Gründe, weshalb die Männer gerne die Gelegenheit nutzten, um ab und zu Claudine Hallo zu sagen. Denn Claudine war nicht nur eine spitzenmäßige Verkäuferin, sie sah auch betörend gut aus, und das, obwohl sie nicht superschlank war. Wie die meisten Südfranzösinnen, strahlte sie ein Sexappeal aus, was nicht nur die Männerwelt verzauberte. Zudem verstand 27 sie es ebenso brillant, ihr Sexappeal einzusetzen, um allen Männern den Kopf zu verdrehen, insbesondere dann, wenn sie etwas damit erreichen wollte. Armer Michel, dachte Anna oft, wenn sie die schmachtenden Blicke ihrer männlichen Kunden oder Lieferanten beobachtete. Und die Kundinnen kamen sicher oftmals nur aus einem Grund mit ihren Männern im Schlepptau in Claudine´s Laden, damit sie sich hinterher nicht über die exorbitanten Preise echauffieren konnten, wenn die dicke fette Endabrechnung ihnen ins Haus flatterte. Denn die hatte es meistens in sich. „Anna, was ist wieder passiert?“ Kaum wollte Anna ihrer Freundin von dem Gespräch mit Henning berichten, da bahnten sich die lange unterdrückten Tränen nun doch den Weg ins Freie. Sie schnappte nach Luft, musste erst einmal mehrmals tief durchatmen, um ihre Tränen erneut zum Rückzug zu bewegen. „Irgendwann erschlag ich ihn! Oder ertränke ihn im Pool. Oder gebe ihm eine Portion Arsen in sein Essen. Sein Verhalten ist kaum noch zu ertragen. Er macht mich krank und fertig.“ Wieder rang sie nach Luft, während ihr gesamter Körper bebte. „Nun beruhige dich doch erst einmal wieder.“ Claudine zog Anna voller Mitleid in ihre Arme, um sie zu trösten. Doch dadurch steuerte Anna geradewegs auf einen Weinkrampf zu, weshalb sie sie abwehrte. Sie musste sich unbedingt zuerst alles von der Seele reden, andernfalls drohte sie daran zu ersticken. „Sorry Claudine, aber ich muss ohnehin dagegen ankämpfen, mich nicht in einen Wasserfall zu verwandeln.“ Da mussten beide kurz lachen. „Schon gut Anna, das verstehe ich doch. Erzähl, was ist 28 passiert?“ „Es ist kaum noch zu ertragen. Stell dir vor, heute sitzen wir im Büro, ich arbeitete gerade an dem neuen Belegungsplan für die Saison, obwohl ich am liebsten sämtlichen Gästen absagen würde. Unvermittelt wendet sich Henning von seinem Schreibtisch ab. Ohne einen vorausgegangen Streit, ohne irgendein Vorkommnis sagt er spontan, er habe mich nie wirklich geliebt. Ich war wie vom Donner gerührt. Da lebst du fünfundzwanzig Jahre mit einem Mann zusammen, gehst mit ihm durch Dick und Dünn, bestehst ohne größere Blessuren die guten, aber auch die schwierigen Zeiten. Und dann erkennt der Kerl plötzlich nach einem viertel Jahrhundert, dass er dich angeblich niemals liebte. Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt? Fünfundzwanzig Jahre meines Lebens mit einem Mann gelebt zu haben, der einen offenbar niemals liebte? Vielleicht ist ja nicht alles auf die Krankheit abzuwälzen. Ist es nicht möglich, dass er nur jetzt in diesem Zustand die Wahrheit sagt, genau das ausspricht, was ihn ernsthaft bewegt? Wie bei Betrunkenen und kleinen Kindern, die ja bekanntlich auch ihre Gedanken auf der Zunge tragen?“ Nun kam doch noch ihre Sonnenbrille zum Einsatz, da sich ihre neuen Tränenergüsse nicht mehr aufhalten ließen. Ihr gesamter Körper geriet augenblicklich in Aufruhr. „Es tut so schrecklich weh.“ „Ich weiß, es wird dich in deiner derzeitigen Situation wenig trösten. Aber glaub mir bitte, das ist nicht mehr der Mann, mit dem du ein viertel Jahrhundert zusammen lebtest. Ganz sicher nicht. Ich kenne euch nun schon so viele Jahre. Das ist nicht mehr dein Henning, soviel ist sicher. Und ich glaube ganz ehrlich, dass dich dein Henning immer abgöttisch liebte. Auf mich machtet ihr all die Jahre den Eindruck von frisch 29 Verliebten. Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich stets um deinen Henning beneidet habe?“ „Wirklich? Wieso?“ „Denke nur mal an die vielen Rosen, die er dir jeden Sonntag vom Markt mitbrachte. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann Michel mir das letzte Mal Rosen gekauft hat. Das liegt sicherlich mehr als zehn Jahre zurück. Das, was er heute sagt, darfst du nicht überbewerten. Es ist die Krankheit, nicht mehr er selbst.“ „Egal, ich musste die letzten Monate so viele Dramen durchleben, so viel Gemeinheiten schlucken, so viele Erniedrigungen ertragen. Nein, es geht nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr. Meine Nerven liegen inzwischen vollkommen blank. Mir fällt es immer schwerer, seine Spielchen, seine Gemeinheiten, seine Widerwärtigkeiten noch zu ertragen. Es muss jetzt etwas geschehen, es muss sich etwas ändern. Entweder ändert sich sein Charakter wieder oder es ändern sich die Gesichter in unserem Haus. So geht es jedenfalls nicht weiter. Sag du mir, was ich tun soll, bitte“, flehte Anna. „Komm, lass uns zahlen und am Hafen spazieren gehen“, schlug Claudine vor. Während sie mit den Hunden um den Hafen liefen, berichtete Anna Claudine vom Abend zuvor, als David aus London anrief. Ein weiteres Mosaik in diesem Drama. „Was war mit diesem David? Kenne ich ihn?“ „Sicher nicht. Gestern Abend läutete das Telefon und obwohl Henning direkt davor saß, ließ er es einfach klingeln. Willst du nicht rangehen, fragte er scheinheilig. Ich dachte natürlich, er hat nur keinen Bock, wegen seiner Sprachstörungen ans Telefon zu gehen und nehme ab. Ein gewisser David von einer Meadow Clinic aus London war dran. Ich sagte ihm, dass 30 er sicherlich mit Henning sprechen wolle, der sei krank, nicht ich. Daraufhin änderte sich sein Tonfall so, als würde er mit einer Geisteskranken sprechen. Hi Anna, nein ich will mit dir sprechen. Henning bat mich darum. Dein Problem ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Ich hatte keine Ahnung, wovon der gute Mann sprach. Wir haben hier sehr gute Spezialisten und bereits ein Bett für dich reserviert. Wenn du willst, kannst du schon Ende der Woche hier behandelt werden, berichtete er mir voller Stolz und mit einer samtweichen Stimme. Behandelt werden? Ich? Ich dachte noch immer, dass er sich nur in der Person geirrt hatte und versuchte ihn aufzuklären. Sorry David, aber hier liegt ganz sicher ein Missverständnis vor. Nicht ich bin der Patient, vielmehr ist es mein Mann Henning. Worauf ist die Meadow Clinic eigentlich spezialisiert? fragte ich ihn. Und er erklärte mir beinahe flüsternd,………………. Leseprobe 2 Nachdem Claudine in ihren Laden zurückgegangen war, schlenderte auch Anna langsam wieder den Berg hinauf und überlegte sich ihre nächsten Schritte. Als sie mit ihren Hunden die Einfahrt erreichte, sah sie seinen Wagen stehen. Er war also wieder Zuhause. Sofort verkrampfte sich ihr Magen wieder und eine neue Beklemmung überkam Anna. Leise öffnete sie die Haustür und schlich wie ein Dieb in ihr eigenes Haus. Geräuschlos hing sie ihre Jacke in den offenen Garderobenschrank. Dann lauschte sie einen Moment lang, denn sie hoffte, seinen augenblicklichen Aufenthaltsort orten zu können. Aber alles blieb gespenstisch still. Sie konnte kein einziges Geräusch vernehmen. Da war nichts zu hören, es war mucksmäuschenstill im ganzen Haus. 31 Es war noch immer still im Haus, als Anna sich der Küche näherte. „Na war´s schön? Schnell ne´ Nummer geschoben? Wer war denn der Glückliche?“ Anna fuhr herum, ihr Herz schien auszusetzen. Er stand direkt hinter der Küchentür, wo er sie schon erwartete. Wahrscheinlich hörte er sie kommen. Unsinn, natürlich wusste er, dass sie die Treppe herunterkommen würde. Schließlich rannten die Hunde nicht gerade leise bis ins Wohnzimmer durch, das sich unmittelbar neben der Küche befand. Wahrscheinlich sah er sie durch das Bürofenster die Straße heraufkommen. Die gesamte Südfront ihres Hauses bestand aus Glas. So hatte man einen unbeschreiblich schönen Blick den Hügel hinunter und auf den gesamten Golf von Saint Tropez. Und natürlich konnte man vom Büro aus die Straße unterhalb ihres Grundstücks gut einsehen, auf der sie mit den Hunden zurückkam. Henning wusste nur zu genau, dass sie nach jedem Spaziergang mit den Hunden zuerst in der Küche nachsah, ob noch genügend Wasser in der Hundeschüssel war. Ihre Schreckhaftigkeit nahm inzwischen ernsthafte Ausmaße an. Die machte ihr bereits schwer zu schaffen. Das nagte an ihrer Gesundheit. Jedes Mal, wenn etwas Unvorhersehbares passierte, zuckte sie nicht nur zusammen, sondern ihr Herz verkrampfte sich dann auch so heftig, dass ihr schier die Luft wegblieb. Sie wusste, dass konnte auf Dauer nicht gutgehen. Herzinfarkte gehörten zu ihrer Familientradition. Umso mehr genoss er es, sich ständig wie eine Katze anzuschleichen, um plötzlich wie ein Geist hinter ihr aufzutauchen. Er wusste, dass sie jedes Mal vor Schreck beinahe einen Herzinfarkt bekam, wenn er sie aus dem Nichts plötzlich ansprach oder antickte. Aber wahrscheinlich 32 verfolgte er genau dieses Ziel? „Du widerst mich echt an mit deinen perfiden und perversen Vorstellungen. Man, lass dich endlich behandeln, du wirst immer irrer.“ In ihrer Wut und Erregung hätte sie ihm gerne noch ein paar Dinge mehr sagen wollen, auch dass sie bald einen Antrag auf Entmündigung stellen würde, wenn es mit ihm so weiterginge. Aber Anna behielt das lieber für sich. Und das war gut so. Denn kaum hatte sie ihm gesagt, wie sehr er sie inzwischen anwidere, verzog sich sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. Sein Gesichtsausdruck glich schlagartig einem dieser scheußlichen Figuren einer Geisterbahn. Und obwohl sich Anna in seiner Gegenwart nicht mehr sicher fühlte, versuchte sie sich cool zu geben, als würde sie seine augenblickliche Verfassung nicht bemerken. Dabei vibrierte sie innerlich. Sie ärgerte sich, dass sie sich immer noch kein Pfefferspray besorgt hatte. Obwohl sie es sich jede Woche vornahm. Ihr Mann drehte jeden Tag ein wenig mehr durch. Und nach der Vorstellung am Morgen mit seiner plötzlichen Eingebung und dem Gespräch mit David aus London, zog Anna es vor, ab sofort ihr Schlaflager in einem der Gästezimmer aufzuschlagen, wo sie die Tür verschließen konnte. Ihr eigener Mann wurde ihr von Tag zu Tag unheimlicher. Die Tage rauschten nur so an ihr vorüber, wie ihr gesamtes Leben. Nach dem Zwischenfall in ihrer Küche, rief Anna nochmals einige seiner Ärzte an, weil sie sich davon irgendeine Unterstützung erhoffte. Wie naiv von mir. „Tut mir leid Frau Porter, aber wie meine Kollegen und ich Ihnen bereits erklärten, wird Ihr Gatte ohne eine entsprechende Therapie in einer Rehaklinik es kaum schaffen, sein altes Ich wiederzufinden, Realitäten zu akzeptieren, oder gar die 33 Vergangenheit aufzuarbeiten. Und mit jedem Monat, den Ihr Mann wartet, wird es schwieriger werden. Sollen wir nochmals mit ihm ein Gespräch führen?“ fragte sie Professor Dr. Schwedler von der Uniklinik in Köln. „Das wäre sehr schön. Aber ich denke nicht, dass er auf Sie oder sonst wen hören wird. Ich habe beinahe den Verdacht, dass er sich in seiner neuen Rolle des Bösewichts gut gefällt. Eine Reha lehnt er kategorisch ab. Gibt es nicht irgendwelche Psychopharmaka, die ich ihm heimlich ins Essen mixen könnte? Irgendetwas, das ihn wieder normaler ticken und freundlicher werden lässt?“ „Das sollten Sie um Himmels Willen nicht tun. Sollte Ihr Mann ohne Ihr Wissen irgendwelche Medikamente nehmen, könnte es zu einer unkontrollierten Gegenreaktion kommen. Wenn überhaupt, sollte er solche Medikamente nur nach Absprache mit seinem behandelnden Arzt und nach Anweisung dosiert zu sich nehmen. Das unterlassen Sie besser.“ „Das Problem ist nur, dass er glaubt, nicht er, sondern ich sei krank im Kopf und würde sowohl eine Therapie, als auch entsprechende Medikamente benötigen. Er glaubt allen Ernstes, ich hätte mich seit seinem Schlaganfall total verändert, ich sei dadurch psychisch krank geworden, nicht er. Er würde niemals bewusst Pillen nehmen, die ihn wieder normaler ticken ließen.“ „Dann tut es mir leid, aber dann kann niemand, weder Ihrem Mann, noch Ihnen helfen. Er muss es selbst wollen, sonst macht jede Therapie keinen Sinn. Tut mir ausgesprochen leid, aber uns Ärzten sind in diesem Fall die Hände gebunden.“ Auch die Frauenärztin von Claudine konnte ihr keinen anderen Rat geben, als dass Henning unbedingt eine Therapie in einer Rehaklinik machen müsse. Die folgenden Tage blieben etwas ruhiger, sie sprachen kaum 34 noch miteinander, denn Anna versuchte so viel es eben ging, ihm aus dem Wege zu gehen. Die Situation schien sich etwas zu normalisieren. Trotzdem sagte Anna vorsichtshalber einigen Gästen ab, deren Anreise bald bevorstand. Es vergingen einige herrliche Tage ohne nennenswerte Vorkommnisse, bis zu dem Zeitpunkt, als Anna ein paar Aktien verkaufen wollte, die damals vor dem Crash am neuen Markt exorbitant gestiegen waren. Ihr Bankberater stammelte seltsam nervös einige Freundlichkeiten vor sich hin und sagte schließlich, „ähm, tut mir sehr leid Frau Porter“, er räusperte sich verlegen, „aber Ihr Mann, ähm, hat Ihnen leider die Vollmacht entzogen. Es tut mir außerordentlich leid, das müssen Sie mir glauben. Aber unter diesen Umständen, ähm, das verstehen Sie sicher, darf ich keine Order mehr von Ihnen entgegen nehmen.“ Und abermals räusperte er sich sichtlich nervös. „Bitte sprechen Sie mit Ihrem Gatten darüber. Tut mir wirklich aufrichtig leid.“ Dieser verdammte Mistkerl. Auf die Idee, dass er mir die Vollmacht für unser gemeinsames Depot entziehen könnte, kam ich gar nicht erst. Der Rosenkrieg hat also wirklich Einzug gehalten. Seine neuerliche Aktion gegen sie, traf Anna ein weiteres Mal vollkommen überraschend und unvorbereitet. Sie spürte augenblicklich, wie sie vor Zorn rot anlief. Nicht nur ihr Unbehagen, sondern auch das ihres Bankberaters, der ihr diese Nachricht übermitteln musste, konnte Anna beinahe körperlich spüren. Ihr wurde heiß und eine Wahnsinnswut erfasste sie einmal mehr. Dieser gottverdammte Scheißkerl. Na, der wird sich noch wundern. Mein lieber Freund, damit hast du endgültig den Bogen überspannt. Ich dachte, ich könnte es verhindern. Aber du lässt mir keine Wahl, sprach sie in Gedanken zu Henning. Wir sind im Krieg. Ich nehme deine Herausforderung an und bin gespannt, wie dir mein Gegenschlag gefallen wird. 35 Wieder saßen sie beide in ihrem Büro zusammen, als Anna durch ihren Bankberater von dem Entzug der Vollmacht erfuhr. Nur zu genau beobachtete sie Hennings triumphierenden Gesichtsausdruck. Doch dieses Mal ließ sie sich nichts anmerken, obwohl es in ihr geradezu kochte. So antwortete sie lediglich lapidar, „aha, na dann eben nicht.“ Denn dieses Mal sollte es ein Eigentor werden. Henning wusste es nur noch nicht. Doch das würde sich bald ändern. Seit nunmehr über zwanzig Jahren arbeiteten sie zusammen, erwirtschafteten gemeinsam ihr Vermögen, verbrachten quasi vierundzwanzig Stunden jeden Tag miteinander, was bis zu seinem Schlaganfall überhaupt kein Problem darstellte. Niemals gab es Geheimnisse oder linkische Aktionen zwischen ihnen. Sie waren das perfekte Team. Da sich ihre Vermögenswerte ständig vergrößerten, trafen sie vor vielen Jahren ein notarielles Abkommen. Und das sollte sich angesichts der jetzigen Lage als eine glückliche Fügung erweisen. …………… Anna hatte gerade ihr Gespräch beendet und aufgelegt, als Henning just in diesem Moment gut gelaunt aus der Küche zurückkam. Er war offensichtlich sehr zufrieden mit sich selbst, Anna wieder einmal so richtig vorgeführt zu haben. Mit einem schelmischen Schmunzeln und einer Tasse Earl Grey Tee in der Hand, betrat er hochmütig das Büro. Noch kannst du grinsen, dir wird dein Hochmut schon bald vergehen, das kannst du aber glauben. Wie du weißt, kommt Hochmut immer vor dem Fall. Bin gespannt, wie dir meine Aktionen schmecken werden. Anna musste bei dem Gedanken an seinen Gesichtsausdruck grinsen, wenn ihm gewahr wurde, was sie für ihn gerade arrangiert hatte. Noch schwante ihm nichts. Noch hatte er keinerlei Vorstellen davon, was ihm bevorstand. Selbstgefällig saß er ihr arrogant 36 blickend gegenüber und schlürfte genüsslich seinen Tee. Deine Arroganz wird dir bald aus dem Gesicht fallen, glaub´ mir Darling, du wirst dich noch umgucken. Dieses Mal werde ICH eine Siegermiene aufsetzen. Bin gespannt, wie dir das gefällt. Der Gedanke gefiel ihr, obwohl sie solche Spielchen hasste. Irgendwie war ihr trotz allem, was er ihr alles schon antat, nicht wohl bei der Sache. Eigentlich empfand sie nur noch Mitleid mit ihm. Er hatte sich den Schlaganfall ja nicht freiwillig zugezogen. Darum schlich sich plötzlich ein schlechtes Gewissen bei Anna ein. Doch letztendlich wägte sie ab: Ach was solls, er nimmt ja auch keinerlei Rücksicht mehr auf mich, versuchte sie ihr aufkommendes schlechtes Gewissen zu beruhigen. Und eigentlich ist er schließlich auch nicht mehr er selbst, beschwichtigte sie ihr schlechtes Gewissen. Auch wenn ihn keinerlei Schuld trifft, allenfalls dafür, dass er jede Art der Rehabilitierung strickt verweigert. Wie sehr hat er mich schon geschädigt, beleidigt, beschissen und erniedrigt. Sollte ich ihm das einfach alles durchgehen lassen? Nur wegen seiner Krankheit? Nein. Ein eindeutiges nein, suggerierte ihr ihre innere Stimme augenblicklich. Eine Stunde nach ihrem Telefonat, fuhr Anna in die Stadt runter, um auch dort konsequenterweise alles in die Wege zu leiten. Es vergingen zwei Tage, in denen sie jede Minute mit seinem Ausraster rechnete. Doch erst am späten Nachmittag des zweiten Tages nach ihrem Anruf, kam er wutschnaubend von einer Tour zurück. Nachdem er sein Auto betankt hatte, wollte er mit einer seiner Kreditkarten bezahlen. Doch die funktionierte nicht mehr. Glücklicherweise verfügte er gerade noch über genügend Bargeld, andernfalls hätte er sein Auto stehen lassen und zu Fuß nach Hause gehen müssen. Wutschnaubend wie ein gereizter Stier betrat er das Haus, ließ die arme Tür erneut mit voller Fahrt ins Schloss knallen, kam die Treppe zum Büro in großen Sprüngen herunter gerannt 37 und brüllte sofort wie ein Irrer los. „Kannst du mir mal sagen, was das soll?“ schrie er Anna an.“ „Gerne“, antwortete sie ihm mit einem dezenten Lächeln und in einem besonders ruhigen und freundlichen Tonfall. Endlich war ER mal der Schockierte. Anna genoss diesen Augenblick in vollen Zügen, auch wenn ihr bewusst war, dass es die ganze Situation vermutlich eskalieren lassen werde. „Bist du jetzt total durchgeknallt? Was fällt dir ein, meine Kreditkarten sperren zu lassen? Tickst du nicht mehr richtig?“ brüllte er weiter wie ein altes Marktweib. „Was regst du dich überhaupt darüber auf. Du entziehst mir die Vollmacht für unser gemeinsames Aktiendepot, sowie dem Dollarkonto und ich dir konsequenterweise die Vollmachten für unsere Girokonten. Das ist doch nur fair und durchaus eine normale Reaktion meinerseits. Oder glaubst du allen Ernstes, du bist der Einzige, der ständig austeilen kann? Du weißt doch, wer fleißig austeilt, muss auch selbst einstecken können. Du kannst gerne in die Schweiz fahren“, wo sich ihr Aktiendepot befand, „und dir dort eine neue MasterCard ausstellen lassen. Da du dir das Konto offensichtlich einverleiben willst, bitte, nur zu.“ „Wenn du das nicht sofort zurücknimmst, dann mache ich dir den Rosenkrieg, so wahr ich hier stehe“, schrie er weiter vollkommen außer sich, dass es mit Sicherheit bis in die Nachbarschaft schallte. Mein Gott, nur gut, dass ich unseren Gästen abgesagt habe. Das wären alles schrecklich peinliche Vorstellungen geworden. Wenn Gäste im Hause gewesen wären, ich hätte vor Scham im Boden versinken wollen, ging es Anna schlagartig durch den Kopf, während sie diese irre Darbietung über sich ergehen ließ. Einige Wochen zuvor hatten sie gemeinsam den Film Der 38 Rosenkrieg mit Kathleen Turner und Michael Douglas gesehen. Anna fand den Film absolut grausam und brutal, auch wenn einige Szenen sie zum Lachen brachten. Doch im Großen und Ganzen war es ein schreckliches Drama. Und wie es aussah, schien dieser Film Henning inspiriert zu haben, diente ihm jetzt scheinbar als Vorlage für seine Aktionen gegen seine Frau. Als Henning nun so ausrastete, den Blick eines Geisteskranken hatte, wie ein Bekloppter aussah, bekam Anna einmal mehr ein ungutes Gefühl. Nun wurde es für sie allerhöchste Zeit, sich so schnell wie möglich endlich in dem Waffengeschäft in Saint Raphael das Pfefferspray zu besorgen. Seine Wutausbrüche bereiteten ihr inzwischen ernsthaft Sorge, ja, sie beängstigten sie. „Falls es dir entgangen sein sollte, den haben wir bereits und nicht ich, sondern du hast damit begonnen. Außerdem will ich, dass du so schnell wie möglich dieses Haus verlässt, mein Haus!“ „Das hier ist auch mein Haus, von meinem Geld bezahlt“, schrie er außer sich vor Zorn. Anna versuchte ruhig zu bleiben und bemühte sich sehr darum, nicht ihre Stimme zu erheben, um die Situation nicht noch mehr außer Kontrolle geraten zu lassen, während ihr Herzschlag bis zum Hals schlug. Doch sie sagte, was es zu sagen gab. „Sorry, von unserem Geld bezahlt. Und das hier ist mein Haus, wenn ich dich kurz daran erinnern darf, du hast schließlich die Segelyacht.“ „Und wie soll ich bitte in die Schweiz fahren, wenn ich kein Geld mehr abheben kann oder beim Tanken nicht mehr mit der Karte bezahlen kann? Würdest du mir das mal erklären?“ Henning war außer sich vor Wut. Er schaukelte sich 39 förmlich hoch. Anna erschrak furchtbar, als er plötzlich zornig mit der geballten Faust auf die Tischplatte schlug, sodass sämtliche Gegenstände kurz auf und nieder hupften. Nie zuvor übermannten ihn derartige Wutausbrüche. Niemand, der ihn aus früheren Zeiten kannte, hatte ihn je so erlebt. Er, der Mann, der immer besonders ruhig und ausgeglichen war, der sich niemals aus der Reserve bringen ließ. Gerade diese Charaktereigenschaften schätzten seine damaligen Kunden, wo er Seminare für Verkaufstraining abhielt, sehr an ihm. „Ganz einfach. Ich gebe dir dreihundert Euro in bar, das reicht für die Fahrt und eine Hotelübernachtung. Danach kannst du dir ja Geld von deinem Depot holen und neue Kreditkarten beantragen. Wenn du das von hier aus bereits tust, liegen deine neuen Karten wahrscheinlich schon für dich bereit, wenn du in Zürich ankommst. Was ist bloß aus uns geworden? Wie kannst du plötzlich so ein anderer Mensch werden? Wie kannst du all die schönen gemeinsamen Zeiten einfach leugnen und mich nun wie deinen schlimmsten Feind behandeln? Ich verstehe das alles nicht mehr!“ Nie wäre Anna zu diesem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, dass sie ihrer Tochter Tatyana einmal exakt die gleichen Fragen stellen würde………… Und dabei begann alles Anfang der Siebziger Jahre wie in einem richtigen Märchen. Leseprobe 3 Es geschah an einem wundervollen Morgen. Der Morgentau hatte sich gelichtet und die Sonne ließ sich nach wochenlangem Dauerregen endlich wieder einmal blicken. In den vergangenen Schlechtwetterwochen mit extremen 40 Sturmböen, hatte sich eine Menge Müll in ihren neuen Garten verirrt, den sie gerade einsammelte, als dieser Anruf sie aufschreckte. Es war noch sehr früh am Morgen. Sie dachte noch, dass kein normaler Mensch ohne Not so früh am Morgen andere Leute anrufen würde. Automatisch zuckte sie deshalb zusammen. Das Klingeln riss sie abrupt aus ihren Gedanken und Selbstgesprächen, die sie gerade wieder einmal führte. Mein Gott, wer ruft mich denn so früh am Morgen an, merkwürdig. Automatisch ließ sie den Müllsack aus ihrer Hand und auf den Rasen gleiten. Eile war geboten. Denn war sie nicht schnell genug, quasselte ihr die freundliche Stimme des Anrufbeantworters dazwischen. Da die Betriebsanleitung offenbar von einem koreanischen Legastheniker übersetzt wurde, wie man in solchen Fällen scherzhaft zu sagen pflegt, gelang es ihr bis zum Kauf eines neuen Gerätes einfach nicht herauszufinden, wie sie ein Gespräch auch nach dem fünften Klingelton annehmen konnte, ohne von der elektronischen Stimme des Anrufbeantworters unterbrochen zu werden. Bis zu dem Tag, an dem sie es vertrauensvoll ihrer Mülltonne anvertraute, lieferte sie sich regelmäßig mit diesem Teil ein Wettlaufen. So auch an diesem Morgen. In letzter Sekunde erreichte Anna ihren Apparat und riss hastig den Hörer an sich. Huch, das war knapp. Noch vollkommen außer Atem hauchte sie „hier Porter“ in die Muschel. Wassertropfen rannen von ihren Füßen auf das Parkett und eine Gänsehaut überzog sofort ihren gesamten Körper. Ihr wurde schlagartig saukalt. Annas nasse Füße verwandelten sich schlagartig in Eisklötze. Jedenfalls empfand sie es so. „Hier auch Porter“, schallte es ihr wie ein Echo entgegen. 41 Danach folgte eine Pause. Im ersten Augenblick war Anna total konfus. Sie glaubte sich verhört zu haben und fragte noch einmal nach: „Wie bitte, wieso auch Porter?“ Nun schien die Leitung plötzlich tot zu sein. „Wer ist denn da?“ Irgendwie schien noch jemand in der Leitung zu sein, denn ein leises Atmen drang an ihr Ohr. Erlaubte sich hier jemand so früh am Morgen einen Scherz mit ihr? „Hallooo? Was soll der Unfug? Wer ist denn da?“ Anna wusste absolut nicht, wer sie anrief. Die Stimme klang ihr nicht sehr vertraut. Sie wollte gerade auflegen, da schien die Anruferin ihre Sprache wiedererlangt zu haben. „Welche Porter, welche Porter, was ist das denn für eine Frage?“ entrüstete sich diese Anruferin. Es durchfuhr Anna wie ein Stromschlag. Sofort hämmerte Annas Herz so heftig, dass es ihr den Atem raubte. Überraschung! Schlagartig wusste sie wieder, weshalb sie Überraschungen hasste. Augenblicklich hörte sie ihr Blut wie das Wasser eines Wildbachs in ihren Ohren rauschen. Ihr gesamter Körper geriet sofort in Aufruhr. War das möglich, dass dieses Wesen mich tatsächlich anrief, auch noch hier in meinem neuen Zuhause, hier in Deutschland? Das nach all den Ereignissen und Jahren? Doch diese typisch schnippische Art ließ keinerlei Zweifel zu. Sofort läuteten ihre Alarmglocken. Beim Klang dieser Stimme sah sie sie direkt wieder vor ihrem geistigen Auge, als sei es erst gestern gewesen. Dabei waren seither Jahre, viele Jahre ins Land gestrichen. So viel war inzwischen geschehen, so vieles hatte sich in ihrem Leben geändert. Niemals hätte sie mit diesem Anruf gerechnet. Aber wieso rief sie sie so plötzlich an? Irgendein Gefühl sagte ihr, dass es kein guter Tag mehr werden 42 würde. Ihr Geist und Körper sträubten sich gegen dieses Gespräch. Und plötzlich war alles wieder präsent, als sei es erst gestern geschehen. Dabei spielte sich das alles lange Zeit, vor Hennings Schlaganfall ab. Wie sie damals in das Café hereinstolziert kam, durchgestylt und aufgebrezelt wie ein Mannequin. Glasklar sah Anna jetzt das Bild wieder vor sich. Gerade so, als hätte es die Zeit dazwischen gar nicht gegeben. Wie sie mit ihrem eleganten kurzen roten Bouclé Blazer ins Café kam, mit den auffallend edlen schwarzen, fein geschliffenen und leicht gewölbten Glasknöpfen verziert, die im Schein der Lichter wie Diamanten funkelten. Und man bekam eine Ahnung über den Kaufpreis, den sie dafür hingeblättert haben musste. Schließlich war es das letzte Bild von ihr, das sich Anna ins Gedächtnis einbrannte. Darunter trug sie eine schwarze Bluse. An ihrem Hals erkannte Anna damals gleich die Goldkette wieder, mit einem in einer ovalen Goldfassung eingefassten Jadestein, die sie sich einst aus Hong Kong mitbrachte. Dazu trug sie eine eng anliegende schwarze Hose von Rosner, die ihre sehr schlanke Figur ins rechte Licht rückte. Ihre langen dunkelbraunen Haare glänzten im Schein des einfallenden Sonnenlichts wie nasses Herbstlaub in verschiedenen rötlichen Farbtönen. Sie schienen frisch geschnitten zu sein. Man hätte glauben mögen, ein berühmter Star habe sich nur im Café geirrt. Während sie sich suchend im Café zur Uni nach Anna und Henning umschaute, warf sie einige Male ihr langes Haar gekonnt mit einer eleganten Handbewegung über ihre schmalen Schulter zurück. Unter ihrem rechten Arm eingeklemmt, verbarg sich eine schwarze, sackähnliche Handtasche aus feinstem Leder. Nicht einmal Anna leistete sich zu dieser Zeit solche teuren Klamotten oder Handtaschen. 43 Sie zog eine echte Show ab. Die Aufmerksamkeit vieler Gäste war ihr sicher. Überhaupt schien Tatyana ihren grandiosen Auftritt zu genießen. Es fehlte eigentlich nur noch der Applaus der Cafébesucher. Dann entdeckte sie ihre Eltern in einer Nische am Fenster. Mit leicht schwingenden Hüften, als befände sie sich auf einem Laufsteg, einem Gesichtsausdruck, schrecklich verbissen und arrogant wie Sauerampfer, schritt sie auf sie zu. Alles glich dem Stil eines dieser neuen Mannequins, bei denen man immer das Gefühl hat, als hätten sie gerade in eine Zitrone gebissen. Als sie vor ihrem Tisch zum Stehen kam, schaute sie herausfordernd und verachtend zwischen ihren Eltern hin- und her. Sie begann nervös mit ihren künstlichen Fingernägeln die Tischplatte zu bearbeiten. Ihr Gesichtsausdruck brachte beide schon wieder auf die Palme. Provokant fragte sie: „Ihr wolltet mich sprechen. Also, hier bin ich, was gibt es so Wichtiges? Ich hab´ nicht viel Zeit.“ Ihnen stockte der Atem! Sie, die Studentin sprach mit ihren Eltern, als sei sie eine vielbeschäftigte Managerin, die von einem ihrer Untertanen gestört wurde. Ihre Eltern waren eigens aus Südfrankreich nach Düsseldorf geflogen, um mit ihr über einige grundsätzliche Dinge zu sprechen, darüber, dass sie den Bogen ihrer Eskapaden bei weitem überspannte. Das Maß inzwischen mehr als voll war. Und sie faselte davon, sie habe nicht viel Zeit für sie? „Setz dich bitte und verschone uns mit derlei Dummgeschwätz. Ich fasse es nicht, liebes Kind, alles was du trägst bezahlen wir, alles wovon du lebst bezahlen wir, das Auto, das du fährst, bezahlen wir, inklusiv sämtlicher Nebenkosten, wir bezahlen deine Wohnung plus Nebenkosten, dein Telefon, deine Penner, die sich ständig bei dir einnisten können, um sich 44 von dir, sprich uns, aushalten zu lassen, einfach alles und du meinst, du hättest nicht viel Zeit für uns? Setz dich sofort hin. Sonst lernst du mich mal von einer anderen Seite kennen.“ Hennings Blick verfinsterte sich, er starrte seine Tochter drohend an. Auch Anna fiel es weiß Gott schwer genug, in diesem Moment ruhig auf ihrem Platz zu bleiben. Denn Tatyanas Auftritt war mehr als grotesk und affig dazu. Einige der anwesenden Gäste schauten jetzt leicht irritiert zu ihrem Tisch herüber. Andere schüttelten den Kopf, warteten wohl darauf, dass etwas passieren würde. Endlich kam mal etwas Schwung in die ansonsten sehr dezenten Unterhaltungen der älteren Gäste, deren Tonlagen verdammt an eine Trauergemeinde erinnerten. Denn vormittags pflegten offenbar hauptsächlich ältere Gäste das Café zur Uni zu besuchen, denn es war in dieser Ecke das einzige existierende Café. An diesem Tag eskalierte alles. Anna sah plötzlich die gesamte Szene wieder vor sich, wie ein Theaterstück, das sie sich zum zweiten Mal anschaue. Wie ein Déjà-vu Erlebnis. Und nun dieser Anruf. Was hatte das zu bedeuten. Ein unangenehmes Gefühl stieg in Anna auf. Jahre der Funkstille lagen hinter ihr. Anna spürte sofort, wie sie ihre Beklemmungsgefühle wieder in den Würgegriff nahmen, an denen sie beinahe zu ersticken drohte. Mit einem großen Paukenschlag bahnten sich ihre bereits verblasten Erinnerungen wieder den Weg an die Oberfläche, als hätten die Jahre der Funkstille nie existiert. Schon ihr Tonfall verriet Anna augenblicklich, dass ihr Anruf, auch noch um diese Uhrzeit, ihr den Tag versauen würde. Sie fragte sich unwillkürlich: Von wem hatte sie wohl meine neue Telefonnummer bekommen? Und durch wen hatte sie erfahren, dass ich nicht mehr in Frankreich lebe? Nicht einmal Henning weiß es bis heute. 45 Anna war von diesem Anruf ausgesprochen überrascht. Es war irgendwie ein seltsames Gefühl, ihre Stimme nach so langer Zeit wieder einmal zu hören. Sie hat es sich all die Jahre sehr leicht gemacht, ging es ihr sofort durch den Sinn. Niemals wollte sie sich zu den im Raum stehenden Vorwürfen äußern, sich nie entschuldigen, sie empfand auch niemals Reue oder gar Schuldgefühle. Sie wäre sicherlich eine tolle Politikerin geworden, mit diesen Charaktereigenschaften. Bin gespannt, was sie von mir will? Wie seltsam, ich freue mich eigentlich gar nicht über diesen Anruf, stellte Anna erstaunt fest. Was hätte ich vor ein paar Jahren, als sie spurlos verschwand, noch darum gegeben, ihre Stimme zu hören, überlegte Anna kurz. Aber immerhin verwirrte sie dieser Anruf. Wie oft hatte sie sich in den letzten Jahren gewünscht, die Uhren bis zu dem Zeitpunkt einfach wieder zurück drehen zu können, bevor alles zerbrach. Doch man kann nun einmal den Verlauf der Dinge nicht nachträglich ungeschehen machen. Auch nicht verändern. Es ist wie es ist. Was geschehen ist, ist geschehen. Wie gehandelt wurde, wurde gehandelt und was gesagt ist, ist gesagt. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Doch es war noch lange nicht alles gesagt, was gesagt werden müsste. „Ja auch Porter, deine Tochter natürlich, wie viele weibliche Porters kennst du denn?“ Nach dieser zickenhaften Antwort auf Annas ernst gemeinte Frage, blieb es abermals einen Moment lang still. Anna spürte plötzlich so eine merkwürde Unruhe in sich, ihr Blutdruck stieg an, ihr Herz raste, als wollte es gleich zerspringen. Keiner von ihnen beiden sprach für einen winzigen Augenblick ein Wort. Sie schien wohl erst einmal auf eine Reaktion von ihrer Mutter zu warten. Die Überraschung war gelungen. Denn Anna war ein, zwei, vielleicht drei Sekunden lang gar nicht in der Lage gewesen, 46 darauf zu antworten. Der Boden unter ihren Füßen wurde plötzlich hauchdünn. Sie drohte einzubrechen und in einem Strudel der Gefühle zu versinken. Nur der fröhliche Gesang der Vögel im Garten, das Hundegebell und die Stimmen aus der Nachbarschaft durchbrachen diese unangenehme Stille. Moustique, ihr Cocker und Chicco, ihr Tibetterriermischling schienen jedoch sofort ihre plötzliche Anspannung zu spüren. Beide legten sich flach neben sie auf den Boden. Sie schauten sie sorgenvoll mit ihren großen runden Augen an. Sicher fragten sie sich, was passiert war, als Anna so blitzartig ein Gewitter der Gefühle überfiel. Den Hunden blieb das natürlich nicht verborgen. Eine Sekunde überlegte sie, wie sie auf diesen Anruf reagieren solle. Die plötzliche Stille ließ ihr einen Augenschlag Zeit, über eine Reaktion nachzudenken. Warte ich, bis sie wieder zu reden beginnt oder breche ich als Erste das Schweigen. Oder lege ich einfach auf? Zu tief saßen die Wunden, die sie ihr bereits geschlagen hatte, ohne zu ahnen, dass sie ihr später noch viel tiefere Wunden schlagen wird. Dann hörte sie sich sagen: „Ich bin erstaunt über deinen Anruf, dass kannst du dir sicher denken. Was verschafft mir diese außerordentliche Ehre nach so langer Zeit? Und woher hast du überhaupt meine neue Telefonnummer? Die kennen nicht viele Leute.“ Angesichts der letzten Ereignisse hatte sich Anna eigentlich geschworen, einfach keinen einzigen Gedanken mehr an dieses Enfant terrible zu verschwenden. Und doch war sie immer noch präsent, schließlich war und ist sie trotz allem immer noch ihre Tochter. Sie wünschte sich, sie hätte mehr Glück mit ihrem Kind gehabt oder wäre damals doch besser nach Holland gefahren. 47 In der Vergangenheit dachte Anna oft darüber nach, wie komisch, aber auch ironisch das Leben doch sein konnte. Erst war sie geschockt über die Nachricht, schwanger zu sein. Dann die freudige Entscheidung für das Kind. Danach der Heiratsstress und die Überlegung, nach Holland zu reisen und eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Wieder eine Kehrtwende. Die endgültige Entscheidung zugunsten ihres Kindes, die letztendlich doch noch zur Heirat im sechsten Monat führte. Und nicht zu vergessen die Vorfreude auf das große Abenteuer Kind. Heute fragt sie sich nach dem Sinn, ein Kind großgezogen zu haben. Wofür eigentlich? Um sich quälen und sich ihr Leben erschweren zu lassen? Sich quälen zu lassen? Wie ein räudiger Hund getreten und fortgejagt zu werden? Eine seltsame Spannung, die sich über Jahre aufgestaut hatte, lag plötzlich wieder in der Luft und zwischen ihnen. So, als könnte man die Luft geradezu knistern hören. Wie eine gefährliche Gaswolke, der nur ein winziger Funke fehlte, um zu explodieren. Obwohl so viele Jahre seit ihrem großen Krach verstrichen waren, spürte Anna diese starke Spannung zwischen ihnen ausnehmend klar. Die wartete nur darauf, sich mit voller Wucht entladen zu können. Zu viele Dinge blieben damals noch unausgesprochen, wurden nie geklärt. Sie gingen im Zorn auseinander. Anna überlegte: Sollte ich mich nicht eher über diese neue Kontaktaufnahme freuen? Über diesen winzigen Funkenschimmer am sonst schwarzgrauen Beziehungshimmel? Doch Tatyana, ihr einziges Kind, war ihr inzwischen längst fremd geworden. Diese schmerzliche Erkenntnis war erschreckend und ernüchternd zugleich. Annas Selbstschutz war schon vor langer Zeit aktiv geworden. Hunderttausend Überlegungen rasten gerade in Schallgeschwindigkeit durch ihr Gehirn, als Tatyana sie je unterbrach……. 48 „Mama, ich brauche dringend deine Hilfe!“ erklang es beinahe wie ein Befehl. Kaum das Tatyana diesen Satz ausgesprochen hatte, riet Annas innere Stimme ihr, sofort aufzulegen. Doch Annas Neugierde war bedauerlicherweise größer als der Wunsch, sich vor neuen Enttäuschungen zu schützen. Manches Mal denke ich, dass in mir ein kleiner Masochist haust. „Du rufst MICH an, um ausgerechnet MICH um Hilfe zu bitten?“ „Mama, es ist wirklich sehr dringend. Ich hätte dich sonst nicht angerufen, wenn es nicht so wichtig wäre.“ Typisch Tatyana, sie macht nicht lange Umwege, sondern kommt direkt gleich zur Sache, sprach Anna im Stillen zu sich selbst. Selbst nach Jahren der Funkstille. Nur keine Zeitverschwendung mit jedweden Höflichkeitsfloskeln wie, - wie geht es dir? Nett mal wieder deine Stimme zu hören? oder tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war, nach allem, was du für mich tatst, oder vielleicht etwas wie, es tut mir so leid, dass ich euch so viel Kummer bereitete. Oder tut mir echt leid, dass ich mich euch gegenüber wie ein Chauvinist benahm. Irgendetwas in dieser Art wäre doch wohl das Mindeste gewesen, was ich von ihr erwarten durfte, wenn sie mich nach allem, was geschehen war und nach all den vielen Jahren ohne jeglichen Kontakt, das erste Mal wieder kontaktierte. Und letztendlich hatten nicht wir uns eine neue Tochter gesucht, sondern Tatyana sich neue Eltern, insbesondere eine neue Mutter. Und jetzt will sie Hilfe von mir? Ich glaube, ich spinne! Annas Gedanken schlugen gerade wilde Kapriolen. „Wenn es doch so wichtig ist, wieso rufst du dann nicht deine neue Mutter an, die ja so wahnsinnig toll und lieb ist? Die wird dir sicherlich gerne helfen wollen!“ „Mama bitte, lass uns nicht jetzt darüber sprechen.“ „Wieso nicht?“ „Weil es nicht geht.“ 49 „Wieso geht es nicht? Ich würde es aber gerne wissen!“ „Ich hätte dich ganz sicher nicht damit belästigt, wenn es nicht so wichtig wäre.“ Sie wich ihrer geschickt Frage aus……. Ende der Leseproben. 50
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