Ärzteblatt Mecklenburg

RECHT
Behandlungsfehler aus der Praxis der
Norddeutschen Schlichtungsstelle
Heute: Unfallchirurgie – Verzögerte Diagnose einer Hüftkopflösung
Die schicksalhafte Erkrankung der spontanen Hüftkopflösung
(Epiphyseolysis capitis femoris) ereignet sich im Präpuber­­täts­
alter, vorwiegend bei Mädchen. Man unterscheidet entspre­
chend der unterschiedlichen Anfangssymptomatik die akute
Form von der schleichend auftretenden, sogenannten LentaForm. Bei der selteneren akuten Hüftkopflösung tritt die Lö­­
sung und Dislokation des Hüftkopfes ohne vorherige Warn­
symptome nach einem inadäquaten Trauma auf. Bei der
Lenta-Form geht der definitiven Hüftkopflösung meist eine
un­charakteristische Schmerzsymptomatik mit Funktionsbe­­ein­­
trächtigung des betroffenen Beines voraus, häufig werden
inadäquate Traumen angeschuldigt. Der Beschwerde­symp­to­
matik liegt ein langsames bzw. schrittweises Abgleiten des
Hüftkopfes vom Schenkelhals zugrunde. Für das Schicksal der
betroffenen Hüfte ist die frühzeitige Diagnose und Therapie
der Hüftkopflösung entscheidend.
Kasuistik:
Ein elfjähriges Mädchen klagte seit etwa vier Wochen bei
Belastung des rechten Beines über Schmerzen in der rechten
Hüftregion. Nach einem Fahrradsturz kam es zur Verstärkung
der Schmerzen und es konnte mit dem rechten Bein nicht
mehr auftreten. Am Unfalltag erfolgte eine chirurgisch-radio­
logische Untersuchung in der Unfallambulanz eines Kreis­
krankenhauses. Unfallfolgen am rechten Hüftgelenk waren
auf den Röntgenaufnahmen nicht festzustellen. Da das rechte
Bein nicht belastbar war, wurden Unterarmgehstützen mit­
gegeben. Die Diagnose lautete: Hüftprellung.
Neun Tage später kam es bei bis dahin unverändert bestehen­
den Schmerzen mit Belastungsunfähigkeit des rechten Beines
zu einem erneuten Sturz. Die Untersuchung im gleichen Kran­
kenhaus ergab jetzt eine vollständige Lösung des rechten
Hüftkopfes mit einem Abknickwinkel von 50 Grad in der axia­
len Ebene. Noch am Unfalltag erfolgte die geschlossene Re­­
po­sition des Hüftkopfes und die Stabilisierung mittels Kirsch­
nerdraht und Schrauben. Es schloß sich eine langwierige Be­­
handlung, später auch in anderen Einrichtungen, an. Schließ­
lich kam es zu einer Defektheilung infolge Teilnekrose des
Hüftkopfes. Es verblieb eine erhebliche und schmerzhafte Be­­
wegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk. Das zuständige Versorgungsamt bestätigte zwei Jahre später einen
Grad der Behinderung von 40 %.
AUSGABE 9 / 2007 17. JAHRGANG
Die Eltern des Kindes warfen dem erstbehandelnden
Krankenhaus vor, es hätte den Schaden bereits bei der
Erstvorstellung erkennen und sachgerecht therapieren
müssen. Da die Diagnose damals nicht gestellt wurde,
sei es beim zweiten Trauma zu einer plötzlichen, schwe­
ren Verschie­bung des Hüftkopfes mit ihren negativen
Folgen gekommen.
Der verantwortliche Arzt des Krankenhauses nahm zu diesem Vorwurf Stellung. Auf den bei der Erstvorstellung angefertigten Röntgenaufnahmen sei die Hüftkopflösung nicht
zu erkennen gewesen, die Behandlung des später dislozierten Hüftkopfes wäre korrekt erfolgt.
In dem von der Schlichtungsstelle eingeholten orthopädischunfallchirurgischen Gutachten wird nach summarischer Dar­
stellung des Behandlungsverlaufes zunächst die zugrunde
liegende Diagnose erläutert. Bei dem Kind habe die LentaForm einer Hüftkopflösung vorgelegen, wobei sich die ersten
Symptome bis vier Wochen vor dem ersten Unfall zurückverfolgen ließen. Durch den zweiten Sturz wäre es akut zum
vollständigen Abgleiten des gelösten Hüftkopfes gekommen.
Bei der Auswertung der nach dem ersten Sturz angefertigten Röntgenaufnahmen stellt der Gutachter fest, daß bereits
zu diesem Zeitpunkt das Hüftkopfgleiten eindeutig erkennbar war, der rechte Hüftkopf war um 20 Grad in der Axial­
ebene abgeglitten. Die neun Tage später nach dem zweiten
Sturz angefertigten Röntgenaufnahmen ergaben dann die
vollständige Dissoziation von Hüftkopf und Schenkelhals mit
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einer Vergrößerung des Gleitwinkels auf 50 Grad. Die späteren, zum Teil in anderen Einrichtungen gefertigten Röntgen­
aufnahmen, wiesen eine Teilnekrose des Hüftkopfes mit Um­­
bauvorgängen und Deformierung (Entrundung) sowie die
Zeichen der Hüftgelenksarthrose aus.
In der Beurteilung der im Erstversorgungskrankenhaus ge­­
trof­fenen ärztlichen Entscheidungen und eingeleiteten Maß­
nahmen kommt der Gutachter zu folgenden Wertungen:
Die Hüftkopflösung sei auf den ersten Röntgenaufnahmen
bereits eindeutig zu erkennen gewesen. Bei dem Alter des
Mädchens hätte man von vornherein an die Möglichkeit
einer Hüftkopflösung denken müssen. Wäre das beginnende
Hüftkopfgleiten bereits bei der Erstvorstellung, als noch
keine endgültige Dissoziation von Hüftkopf und Schenkelhals
bestand, operativ stabilisiert worden, hätte sich mit großer
Wahrscheinlichkeit die Hüftkopfnekrose mit den deletären
Folgen für das Hüftgelenk vermeiden lassen. Die übersehene
Hüftkopflösung und das dadurch bedingte Versäumnis
der zeitgerechten Behandlung seien als Behandlungs­
fehler zu wer­ten.
Die Behandlung der vollständigen Hüftkopflösung neun Tage
später wäre zwar korrekt, aber zu spät erfolgt. Das operative
Vorgehen selbst sei nicht zu beanstanden. Die später eingetretene Hüftkopfnekrose wäre nicht auf operative Fehler,
sondern allein auf die verspätet durchgeführte operative Be­­
handlung zurückzuführen.
Die verbliebenen Beschwerden und Funktionseinschränkun­
gen am rechten Hüftgelenk seien allesamt Folgen des Be­­
handlungsfehlers. Die Behandlung dauerte zur Zeit der Be­­
gutachtung noch an. Ein Dauerschaden am rechten Hüftge­
lenk sei bereits eingetreten, der u. a. eine Einschränkung für
die spätere Berufswahl darstelle.
Die Schlichtungsstelle schloß sich den Wertungen des Gut­
achters an. Der Gutachter beurteilte den Sachverhalt unter
Bezug auf die aktuelle Literatur korrekt. Die zuerst angefertigten Röntgenaufnahmen weisen bereits eindeutig das be­­
ginnende Hüftkopfgleiten in der axialen Ebene aus. Zudem
hätte bei dem Alter des Mädchens unbedingt an eine Epi­­phy­
seolysis capitis femoris gedacht werden müssen, da dieses
Krankheitsbild bei Hüft- bzw. Beinbeschwerden in diesem
Lebensalter in die differential-diagnostischen Erwägungen
zwingend einzubeziehen sind. Der Diagnosefehler und die da­­
raus resultierende verzögerte Behandlung waren vermeidbar.
Bezüglich der fehlerbedingten Folgen stellt der Gutachter
folgende Überlegungen an: Selbst die rechtzeitige Diagnose
und Behandlung der Hüftkopflösung hätte bis zur Wiederer­
lan­gung der vollen Belastbarkeit des rechten Beines einen
Zeitraum von etwa sechs Monaten in Anspruch genommen.
Als fehlerbedingt sei daher nur die über diesen Zeitraum hinausgehende Behandlung einschließlich weiterer klinischer
Behandlungen anzusehen. Der eingetretene Dauerschaden
in Form der Hüftkopfdeformierung und der daraus resultierenden Früharthrose des rechten Hüftgelenkes sei jedoch auf
den Behandlungsfehler zurückzuführen. Bei rechtzeitiger Dia­
­gnose und adäquater Therapie wäre wahrscheinlich ein
Dauer­schaden am Hüftgelenk vermieden worden, zumindest
jedoch erheblich geringer ausgefallen. Das Ausmaß des bleibenden Schadens und deren Folgen für die spätere Berufs­
wahl blieben einer Begutachtung zum gegebenen Zeitpunkt
vorbehalten.
Die Schlichtungsstelle empfahl auf der Grundlage des
vorliegenden Gutachtens eine außergerichtliche Regu­
lierung.
Verfasser:
Prof. Dr. med. Heinrich Vinz
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle für
Arzthaftpflichtfragen
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover
Außerdem heute: Nicht indizierter Eingriff an der Brust bei Mastitis nonpuerperalis
Kasuistik:
Bei einer 42jährigen Frau wurde im Jahre 2004 in der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung eines Kreiskran­ken­hau­
ses wegen zunehmender Schmerzen an der rechten Brust ein
mamillenferner, Zwerghuhnei großer Tumor aus dem oberen
inneren Quadranten entfernt. Die zuvor durchgeführte Mam­
mographie hatte zystische bzw. pseudozystische Strukturen
mit zarten Wandverkalkungen ohne Hinweise auf Bösartig­
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keit gezeigt. Aus der Vorgeschichte der Patientin war eine
Kontusion der rechten Brust mit Hämatombildung aus dem
Jahre 1998 bekannt.
Der Eingriff gestaltete sich problemlos. Nach Blutstillung und
Spülung der Wunde mit einer Desinfektionslösung wurde
eine Drainage plaziert und zur Submammärfalte herausgeleitet. Vier Tage später verließ die Patientin die Klinik, nachdem das Drain entfernt worden war.
ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN