ADHS in Deutschland - Deutsches Ärzteblatt

MEDIZIN
ORIGINALARBEIT
ADHS in Deutschland: Trends in Diagnose
und medikamentöser Therapie
Bundesweite Auswertung von Krankenkassendaten der Jahre 2009–2014 zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Christian J. Bachmann, Alexandra Philipsen, Falk Hoffmann
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) besteht bei einem Teil der Patienten auch im Erwachsenenalter fort. Untersuchungen aus Deutschland zur Diagnose und Behandlung der ADHS im Lebensverlauf
einschließlich der Transition jugendlicher ADHS-Patienten fehlen bisher weitgehend.
Methode: Bundesweit wurden Routinedaten der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) zur Häufigkeit von ADHS-Diagnosen und ADHS-Medikamentenverordnungen ausgewertet. Ergänzend wurde die Versorgung einer Kohorte
15-jähriger ADHS-Patienten als sogenannte Transitionskohorte im Verlauf von
sechs Jahren analysiert.
Ergebnisse: Zwischen 2009 und 2014 stieg die Häufigkeit von ADHS-Diagnosen
bei 0- bis 17-Jährigen von 5,0 % auf 6,1 % (mit einem Maximum von 13,9 %
bei 9-jährigen Jungen) und bei 18- bis 69-Jährigen von 0,2 % auf 0,4 % an.
Während bei Erwachsenen mit ADHS-Diagnose die Verordnung von ADHSMedikamenten zunahm, sank sie bei Kindern und Jugendlichen. Meistverordneter
Wirkstoff war Methylphenidat, gefolgt von Atomoxetin und Lisdexamfetamin. In
der Transitionskohorte fiel der Anteil der ADHS-Diagnosen innerhalb von 6 Jahren
von 100 % auf 31,2 % und die Medikationshäufigkeit von 51,8 % auf 6,6 %.
Schlussfolgerung: In den vergangenen Jahren hat die Häufigkeit von ADHSDiagnosen und ADHS-Medikation bei Erwachsenen zugenommen, was als Ausdruck einer Sensibilisierung von Ärzten und Patienten für die adulte ADHS
gewertet werden kann. Die Diagnosehäufigkeit liegt jedoch unter der in epidemiologischen Studien ermittelten Prävalenz. Dies könnte auf die Notwendigkeit
eines Ausbaus der Versorgung adulter ADHS-Patienten hindeuten. Die niedrige
Medikationsquote am Übergang ins Erwachsenenalter wirft die Frage auf,
ob für diese Altersgruppe spezifische Transitionskonzepte entwickelt werden
müssen.
►Zitierweise
Bachmann CJ, Philipsen A, Hoffmann F: ADHD in Germany: trends in
diagnosis and pharmacotherapy—a country-wide analysis of health
insurance data on attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) in children,
adolescents and adults from 2009–2014. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 141–8.
DOI: 10.3238/arztebl.2017.0141
Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg: Prof. Dr. med. Dr. P.H. Bachmann
Medizinischer Campus Universität Oldenburg, Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften,
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Karl-Jaspers-Klinik, Bad Zwischenahn:
Prof. Dr. med. Philipsen
Abteilung Ambulante Versorgung und Pharmakoepidemiologie, Department für Versorgungsforschung,
Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg:
Prof. Dr. P.H. Hoffmann, MPH
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 9 | 3. März 2017
ie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eines der häufigsten kinderund jugendpsychiatrischen Störungsbilder und hat
erhebliche klinische und gesundheitsökonomische
Relevanz (1, 2). Die Prävalenz der ADHS liegt bei
Diagnosestellung nach ICD-10-Kriterien im Kindes- und
Jugendalter bei circa 1,5–3 % (3, 4). Untersuchungen
unter Verwendung der weiter gefassten DSM-IV-Kriterien ergeben eine höhere ADHS-Prävalenz, wobei
US-amerikanische Studien wiederum höhere Prävalenzen berichten als europäische Studien (4–6).
Noch bis vor etwa 15 Jahren herrschte die Auffassung vor, dass eine ADHS sich mit der Pubertät „auswachse“ und eine Behandlung nach diesem Alter nicht
mehr notwendig sei (7). Aktuelle Studien (auf Basis
von DSM-IV-Kriterien) zeigen jedoch, dass die Störung auch im Erwachsenenalter fortbesteht (8). Unter
Verwendung strikter Diagnosekriterien ergibt sich eine
ADHS-Persistenzrate von etwa 40–50 % (8), in Studien mit anderen Diagnosekriterien zeigt sich eine erheblich größere Streuung der Persistenz (4–79 %) (8–11).
Die weltweite Prävalenz der ADHS im Erwachsenenalter nach DSM-IV-Kriterien wird mit 2,8 % angegeben
(12). In der ICD-10 fehlen erwachsenenspezifische diagnostische Kriterien für die Diagnosestellung einer
ADHS (13) und somit auch hochwertige bevölkerungsbasierte Studien zur ADHS-Prävalenz nach ICD-10.
Unbehandelt kann eine ADHS verschiedene ungünstige Konsequenzen haben, unter anderem höheres Unfallrisiko, höhere Mortalität, höheres Risiko für Depression, Persönlichkeitsstörung, Substanzmissbrauch
und Inhaftierung, schlechteren Schulabschluss sowie
häufigeren Arbeitsplatzverlust (14).
Die Therapie der ADHS erfolgt bei Kindern und Jugendlichen leitliniengemäß multimodal mit den Elementen
Elterntraining, Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie
(Stimulanzien, Atomoxetin) (15), wobei eine medikamentöse Behandlung nur bei entsprechend ausgeprägtem Schweregrad der Symptomatik indiziert ist. Eine
medikamentöse Behandlung ist im Regelfall wirksam
(Effektstärken: 0,5–1,0) (16), für nichtmedikamentöse
Verfahren ist die Evidenz unzureichend (17).
Eine Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter
sollte bei moderater bis schwerer Beeinträchtigung (eine
D
141
MEDIZIN
GRAFIK 1
Prävalenz von ADHS-Diagnosen (in %)
14
weiblich 2009
männlich 2009
weiblich 2014
männlich 2014
gesamt 2009
gesamt 2014
12
10
8
6
4
2
0
0–4
5–9
10–14
15–19
20–24
25–29
30–34
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
60–64
65–69
Altersgruppe (in Jahren)
ADHS-Diagnosen bei Versicherten der AOK auf der Grundlage von Routinedaten (administrative Prävalenz) in den Jahren 2009 und 2014,
nach Alter und Geschlecht
ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; AOK, Allgemeine Ortskrankenkassen
schwere psychosoziale Beeinträchtigung liegt bei circa
30 % der Betroffenen vor [12]) erfolgen (18), wobei
Pharmakotherapie sowie Verhaltenstherapie eingesetzt
werden. Für die Pharmakotherapie mit Stimulanzien werden mittlere bis große Effektstärken (0,6–4,3) angegeben, während es zur Wirksamkeit psychotherapeutischer
Interventionen divergierende Daten gibt (19, 20). Die
Therapieresponse (≥ 30 % Symptomreduktion) beträgt
unter leitliniengerechter Medikation etwa 60 % (21, 22).
Im Gegensatz zum internationalen Schrifttum (zum
Beispiel 23–25) liegen nur wenige Daten zu Prävalenz
und Therapie der ADHS im Erwachsenenalter in
Deutschland sowie zu entsprechenden zeitlichen
Trends vor (26–28).
Dem Erkenntnisfortschritt hinsichtlich der Persistenz
der ADHS im Erwachsenenalter ist dadurch Rechnung
getragen worden, dass in den letzten Jahren diesbezügliche Leitlinien und Diagnostikverfahren entwickelt sowie Therapiestudien durchgeführt wurden (29, 30).
Ebenso sind verschiedene Medikamente für die Therapie der ADHS im Erwachsenenalter zugelassen worden
(eTabelle 1). Auch die Zahl der Spezialambulanzen für
Erwachsene mit ADHS nimmt allmählich zu; die Versorgungslage ist aber aus Sicht von Experten sowie
Selbsthilfegruppen noch nicht befriedigend (31, 32).
Ein damit einhergehendes Problem ist der Übergang
Jugendlicher mit ADHS in die erwachsenenmedizini-
142
sche Versorgung. Idealerweise sollte diese sogenannte
Transition „geplant, geordnet und zielgerichtet“ verlaufen (33). Hierzu gehört zum Beispiel die rechtzeitige
Suche nach einem in der Behandlung der ADHS erfahrenen Arzt oder Psychotherapeuten im Erwachsenenbereich (sozialrechtlich endet die kinder- und jugendpsychiatrische oder pädiatrische Zuständigkeit mit Vollendung des 18., spätestens des 21. Lebensjahres) oder die
strukturierte Übergabe relevanter Informationen (bisherige Therapie, Komorbiditäten) an diesen (34). Für
viele Jugendliche ist dieser Übergang jedoch durch einen Mangel an Kontinuität in der medizinischen Versorgung gekennzeichnet – mit negativen Auswirkungen
auf Gesundheit, Wohlbefinden und berufliches Potenzial (35). Bisher liegen nur wenige Untersuchungen zur
Transition Jugendlicher mit ADHS vor, entsprechende
deutsche Daten existieren nicht.
Vor diesem Hintergrund sollen in dieser Arbeit folgende Fragen untersucht werden:
● Diagnose- und Behandlungshäufigkeit: Wie hat
sich im Zeitraum 2009–2014 die Häufigkeit von
ADHS-Diagnosen und medikamentöser Behandlung der ADHS bei Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen verändert?
● Transition: Wie sieht bei Jugendlichen mit
ADHS-Diagnose die medikamentöse Versorgung
bis zum Erreichen des Erwachsenenalters aus?
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GRAFIK 2
Prozent
ADHS-Medikation 2014
50
ADHS-Medikation 2009
40
30
20
10
0
0
5
10
15
20
25
30
a
35
40
45
50
55
60
65
70
Alter
Prozent
MPH
50
ATX
LDX
40
DEX
30
10
0
0
5
10
15
20
25
30
b
35
40
45
50
55
60
65
70
Alter
Prozent
MPH
50
ATX
LDX
40
DEX
30
20
10
0
0
5
10
15
20
c
25
30
35
40
45
50
55
60
65
70
Alter
ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; AOK, Allgemeine Ortskrankenkassen;
ATX, Atomoxetin; DEX, Dexamfetamin; LDX, Lisdexamfetamin; MPH, Methylphenidat
20
ADHS-Medikation in den Jahren 2009 und 2014 (a) sowie Übersicht der in 2014 verordneten Wirkstoffe (b, c)
a) prozentualer Anteil der AOK-Versicherten mit Verordnung eines Wirkstoffes zur ADHS-Behandlung an der Gesamtheit aller AOK-Versicherten mit ADHS-Diagnose, nach Alter (2009 versus 2014)
b) prozentualer Anteil der Verordnungen verschiedener Wirkstoffe zur ADHS-Behandlung im Jahr 2014 bei weiblichen AOK-Versicherten mit
ADHS-Diagnose, nach Alter
c) prozentualer Anteil der Verordnungen verschiedener Wirkstoffe zur ADHS-Behandlung im Jahr 2014 bei männlichen AOK-Versicherten mit
ADHS-Diagnose, nach Alter
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143
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Anteil der AOKVersicherten der
Transitionskohorte
mit ADHS-Diagnose
beziehungsweise
ADHS-Medikation
im zeitlichen Verlauf, 2008–2014.
ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung
GRAFIK 3
Prozent
Versicherte mit ADHS-Diagnose
100
100
Versicherte mit ADHS-Medikation
90
80
75,7
70
63,1
60
51,4
51,8
50
40,0
40
38,5
34,9
28,7
30
31,2
18,9
20
11,3
8,6
10
6,6
0
0
15
16
17
18
Alter (in Jahren)
Methoden
Die Analysen beruhen auf den Daten aller Mitglieder der
Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK). Um Angaben zur
Diagnosehäufigkeit machen zu können, wurde auf der
Grundlage der Krankenkassendaten die Zahl der Versicherten im Alter von 0–69 Jahren mit der Diagnose ADHS
im Kalenderjahr 2009 und 2014 festgestellt. Für die Behandlungshäufigkeit wurden die Daten zur Verordnung
von ADHS-Medikamenten im Zeitraum 2009–2014 ausgewertet (ausführlichere Darstellung der Methoden im
eKasten).
ADHS-Diagnosen sind die im ambulant-ärztlichen Sektor als gesichert kodierten ICD-10-Diagnosen F90.0,
F90.1, F90.8, F90.9 und F98.8. ADHS-Medikamente sind
Methylphenidat, Atomoxetin, Lisdexamfetamin, Dexamfetamin, Amphetamin. Zur Transitionskohorte zählen alle
Versicherten mit ADHS-Diagnose, die im Jahr 2008 fünfzehn Jahre alt und bis 2014 durchgängig versichert waren.
Ergebnisse
Diagnosehäufigkeit
Im Jahr 2009 wiesen 214 110 AOK-Versicherte zwischen 0 und 69 Jahren (71,4 % männlich, Durchschnittsalter: 13,5 [± 31,9] Jahre) eine ADHS-Diagnose auf, im
Jahr 2014 waren es 274 982 (69,7 % männlich, Durchschnittsalter: 14,6 [± 35,1] Jahre), wovon 22,0 % auf den
diagnostischen Kode F98.8 („Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in
der Kindheit und Jugend“ einschließlich „Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität“) entfielen.
144
19
20
21
Die ADHS-Gesamthäufigkeit (0–69 Jahre) lag im Jahr
2009 bei 1,2 % der AOK-Versicherten (männliche Versicherte [m]: 1,7 %; weibliche Versicherte [w]: 0,7 %) und
2014 bei 1,5 % (m: 2,1 %; w: 0,9 %). Im Altersbereich
0–17 Jahre betrug die Diagnosehäufigkeit im Jahr 2009
5,0 % (m: 7,2 %; w: 2,8 %) und im Jahr 2014 6,1 % (m:
8,4 %; w: 3,6 %). Im Altersbereich 18–69 Jahre lag die
Diagnosehäufigkeit im Jahr 2009 bei 0,2 % (m: 0,3 %;
w: 0,2 %) und im Jahr 2014 bei 0,4 % (m: 0,5 %, w:
0,3 %). Ohne Berücksichtigung des ICD-10-Kodes F98.8
ergab sich für das Jahr 2009 eine ADHS-Gesamthäufigkeit von 0,9 % (0–17 Jahre: 3,9 %; 18–69 Jahre: 0,2 %)
und für 2014 von 1,1 % (0–17 Jahre: 4,5 %; 18–69 Jahre:
0,3 %).
Die ADHS-Diagnosehäufigkeit im Lebensverlauf in
den Jahren 2009 und 2014 ist in Grafik 1 dargestellt.
Nach einem Gipfel bei 9-Jährigen (2009: 9,2 % [m:
12,8 %; w: 5,4 %]; 2014: 10,2 % [m: 13,9 %; w:
6,4 %]) fällt die Diagnosehäufigkeit deutlich ab (2009:
1,9 % beziehungsweise 2014: 3,5 % bei 18-Jährigen;
0,2 % beziehungsweise 0,4 % bei 30-Jährigen), um danach nur noch langsam abzusinken. Bezüglich der Altersgipfel zeigt sich kein klinisch relevanter geschlechtsspezifischer Unterschied. Hinsichtlich der
ADHS-Diagnosehäufigkeit betrug das Verhältnis Männer/Frauen 2,5 (2009) beziehungsweise 2,3 (2014), bei
weitgehend ausgeglichenem Geschlechterverhältnis ab
dem Ende der vierten Lebensdekade.
Im Jahr 2014 war die Häufigkeit von ADHS-Diagnosen in allen Altersgruppen höher als 2009.
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TABELLE
Übersicht aktueller internationaler Arbeiten zur Häufigkeit von ADHS-Medikation im Jugend- und Erwachsenenalter
Autor, Jahr
(Quelle)
Land
Zeitraum
Datenbasis
Substanz(en)
Alter
N (Population
unter Risiko)
Medikationsprävalenz
Trend
(Medikation)
Anstieg
(Erwachsene)
Abnahme (Kinder/
Jugendliche)
Häufigkeit der ADHS-Medikation bei Patienten/Versicherten mit ADHS-Diagnose
diese Studie
Deutschland
2009–2014
Allgemeine
Ortskrankenkassen (AOK)
MPH, ATX,
LDX, DEX
18–69
ca. 24 Mio.
165/1 000 (2009) bzw.
224/1 000 (2014)
Versicherte
mit ADHS-Diagnose
McManus et al.
2016 (39)
Großbritannien
2014
Adult Psychiatric Morbidity
Survey 2014
MPH, ATX
≥ 16
7 546
5/1 000 der im ASRS positiv –
gescreenten Personen
Aragonès et al.
2010 (e2)
Spanien
2009
Institut Català
de la Salut
(Hausärzte)
MPH, ATX
18–44
2 452 107
321/1 000 Versicherte mit
ADHS-Diagnose
–
Giacobini et al.
2014 (23)
Schweden
2006–2011
nationales Patienten- und
nationales Verschreibungsregister
MPH, ATX,
LDX, DEX,
MOD
alle
4,6–4,9 Mio.
keine konkrete Angabe
(700–800/1 000 aller Versichertern mit ADHS-Diagnose)
Anstieg
20–64
3,5 Mio.
15/1 000 (2010)
24/1 000 (2014)
Anstieg
Häufigkeit der ADHS-Medikation unabhängig von einer ADHS-Diagnose
Burcu et al.
2016 (24)
USA
2010–2014
Blue Cross
Blue ShieldKrankenversicherung in vier
US-Bundesstaaten
MPH, LDX,
DEX
Geirs et al.
2014 (e9)
Island
2003–2012
nationales
AMF, MPH,
Verschreibungs- ATX
register
≥ 19
227 000
2,9/1 000 (2003)
12,2/1 000 (2012)
Anstieg
Karlstad et al.
2016 (25)
Dänemark,
Finnland,
Island,
Norwegen,
Schweden
2008–2012
nationale
Register
MPH, ATX,
LDX, DEX
18–64
15,8 Mio.
2,4/1 000 (M) (2008)
1,8/1 000 (F) (2008)
4,9/1 000 (gesamt) (2012)
5,3/1 000 (M) (2012)
4,4/1 000 (F) (2012)
Anstieg
(in allen Ländern)
Zetterqvist et
al. 2013 (e10)
Schweden
2006–2009
nationale
Register
MPH, ATX,
LDX, DEX
6–45
5 149 791
2,9/1 000 (2006)
7,0/1 000 (2009)
Anstieg
McCarthy et al.
2012 (e11)
Großbritannien
2003–2008
THINDatenbank
(Hausärzte)
MPH, ATX,
DEX
≥6
3 529 615
0,7/1 000 (2003)
1,4/1 000 (2008)
Anstieg
ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; AMF, Amfetamin; ASRS, „Adult ADHD Self-Report Scale“; ATX, Atomoxetin; DEX, Dexamfetamin; F, Frauen;
LDX, Lisdexamfetamin; M, Männer; MOD, Modafinil; MPH, Methylphenidat; THIN, „The Health Improvement Network“
Behandlungshäufigkeit
Die Häufigkeit der medikamentösen Therapie Versicherter mit ADHS-Diagnosen ist in Grafik 2 dargestellt.
Es zeigen sich zwei Altersgipfel, und zwar im Alter von
13–14 Jahren (2009: 51,7 %; 2014: 43,1 %) sowie im
Alter von 34 (2009: 19,2 %) beziehungsweise 37 Jahren
(2014: 33,4 %). Von 2009 nach 2014 nahm die Häufigkeit medikamentöser ADHS-Behandlung bei Erwachsenen zu, bei Kindern und Jugendlichen hingegen ab
(Grafik 2a). Die maximale Behandlungshäufigkeit betrug im Jahr 2014 bei weiblichen Jugendlichen 33,0 %
und bei Frauen 31,8 %, bei männlichen Jugendlichen
46,9 %, bei Männern 36,0 %, (Grafik 2b, Grafik 2c).
Mit einem Anteil von 75–100 % der verordneten
ADHS-Medikamente war Methylphenidat in fast allen
Altersklassen die meistverordnete Substanz. AtomoxeDeutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 9 | 3. März 2017
tin war überwiegend der am zweithäufigsten verschriebene Wirkstoff. Eine Ausnahme bildeten weibliche Versicherte im Alter von 9–15 und 17 Jahren sowie männliche Versicherte im Alter von 4, 6–15 und 64 Jahren,
bei denen Lisdexamfetamin mindestens genauso häufig
wie Atomoxetin verschrieben wurde.
Bereits vor Zulassung des ersten Methylphenidat-Präparates für Erwachsene (April 2011) (eTabelle 1) wurde
zwischen 11,4 % und 18,8 % der 19- bis 21-jährigen
Versicherten mit ADHS-Diagnose Methylphenidat verordnet (eTabelle 2). In den Jahren 2011–2014 stieg dieser Anteil auf 13,3–24,0 %. Die Verordnung von Atomoxetin (Zulassung für Erwachsene: Juni 2013) stieg von
1,2–1,9 % (2012) auf 1,7–2,2 % im Jahr 2014.
Die Transitionskohorte umfasste 5 593 15-jährige
Jugendliche (m: 77,6 %) mit ADHS-Diagnose, von de-
145
MEDIZIN
nen im Alter von 21 Jahren noch 31,2 % eine ADHSDiagnose aufwiesen. Im gleichen Zeitraum fiel die Medikationsquote von 51,8 % auf 6,6 % (Grafik 3).
Die Kontakte zu verschiedenen Facharztgruppen im
Verlauf der Transition sind in der eGrafik dargestellt.
Diskussion
Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie lassen sich
wie folgt zusammenfassen:
● Zwischen 2009 und 2014 ist die ADHS-Diagnosehäufigkeit in allen Altersklassen angestiegen.
● Während der Anteil mit ADHS-Medikamenten
behandelter Erwachsener mit ADHS-Diagnose
zunahm, ging der Anteil medikamentös behandelter Kinder und Jugendlicher zurück.
● In der Transitionskohorte fiel die Medikationsquote innerhalb von sechs Jahren um knapp 90 %.
Die in dieser Studie gefundene Häufigkeit von
ADHS-Diagnosen bei AOK-Versicherten im Kindesund Jugendalter liegt gegenüber anderen deutschen
Studien (2007: 2,2 % bei 0- bis 18-Jährigen [36]; 2011:
4,1 % bei 0- bis 19-Jährigen [28]) höher, was auch auf
Unterschiede im Studiendesign (zum Beispiel Einschluss von F98.8 in der vorliegenden Studie) zurückzuführen sein mag. Eine Zunahme findet sich auch in
anderen westlichen Ländern (37, 38). Bei 5- bis 14-jährigen Jungen liegt die Diagnosehäufigkeit – analog zu
Grobe et al. (11,9 % der 10-jährigen Jungen [28]) – mit
10,5–12,1 % (2014) deutlich über der in epidemiologischen Studien ermittelten ADHS-Prävalenz von
0,6–5,0 % (3, 4, 6). Die Erklärungsansätze für diesen
Befund sind vielfältig und umfassen neben unterschiedlichen diagnostischen Kriterien im klinischen
Alltag und in epidemiologischen Studien möglicherweise auch eine Überdiagnostik (zum Beispiel im Kontext schulischer Adaptationsprozesse).
Hinsichtlich der Veränderung der ADHS-Diagnosehäufigkeit bei Erwachsenen liegt ein Vergleich mit der
Arbeit von Grobe et al. nahe, die von 2006–2011 eine
Verdoppelung bis Verdreifachung der Häufigkeit von
ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen (20–39 Jahre) berichtete (28). International war in den vergangenen Jahren in verschiedenen Ländern gleichfalls eine Zunahme
der ADHS-Diagnosehäufigkeit bei Erwachsenen zu
verzeichnen (23, 39, 40).
Dieser Trend ist vermutlich auf vielfältige Faktoren,
unter anderem die verbesserte Versorgungssituation
(zum Beispiel Kostenerstattung von ADHS-Medikamenten, Neugründungen von ADHS-Spezialambulanzen
für Erwachsene) und – ähnlich wie bei Autismus-Spektrum-Störungen (e1) – eine verstärkte Sensibilisierung
für ein Fortbestehen der ADHS im Erwachsenenalter zurückzuführen.
Von der Größenordnung liegt die ADHS-Diagnosehäufigkeit im Erwachsenenalter in Deutschland höher als in
Spanien (0,04 %) (e2), aber deutlich unter den aus Schweden berichteten Zahlen (1,1 % in 2006, 4,8 % in 2011)
(23). Insgesamt liegt die in dieser Studie gefundene
ADHS-Diagnosehäufigkeit unter dem, was nach einer Metaanalyse (e3) und bei einer ADHS-Persistenz von etwa
146
40–50 % zu erwarten wäre. Mögliche Gründe hierfür sind
eine weiterhin unzureichende Versorgungssituation sowie
die oft schwierige Diagnosestellung (e4).
Die Angleichung der ADHS-Diagnosehäufigkeit von
Männern und Frauen im Verlauf des Erwachsenenalters
entspricht weitgehend den Ergebnissen epidemiologischer Studien (26).
Der Befund, dass die Verordnung von ADHS-Medikamenten für Kinder und Jugendliche mit ADHS-Diagnose
rückläufig ist, geht in eine ähnliche Richtung wie andere
Arbeiten mit deutschen Daten, die gleichfalls eine Stagnation beziehungsweise Abnahme der Verschreibung
von Methylphenidat im zeitlichen Zusammenhang mit
der Verschärfung der Verordnungsbedingungen im Jahr
2010 berichten (e5, e6).
Im internationalen Kontext steigen die Verschreibungszahlen für ADHS-Medikamente bei Kindern und
Jugendlichen (unabhängig vom Vorhandensein einer
ADHS-Diagnose) eher an (e6). Auch bei anderen Substanzgruppen, zum Beispiel Antipsychotika und Antidepressiva, sind bei Kindern und Jugendlichen zunehmende Verschreibungszahlen zu beobachten (e7, e8).
Die Zunahme der Verordnungen von ADHS-Medikamenten bei Erwachsenen ist vermutlich auf die gleichen Ursachen, die auch der gestiegenen ADHS-Diagnosehäufigkeit zugrundeliegen, zurückzuführen.
Die Tabelle bietet eine Übersicht (methodisch unterschiedlicher) internationaler Studien zur Häufigkeit von
ADHS-Medikation bei Erwachsenen. Die mit zunehmendem Lebensalter abnehmenden MedikamentenVerschreibungen bei Erwachsenen stimmen mit internationalen Daten überein (24, 25). Die in unserer Studie
gefundene ADHS-Medikationshäufigkeit liegt niedriger
als in Spanien und Schweden, aber höher als in England
(Tabelle). Analog zu Skandinavien und Großbritannien
(25, 39) erhielten Männer häufiger ADHS-Medikamente, wohingegen in den USA ab Anfang der vierten Lebensdekade Frauen überwiegen (24).
Bemerkenswert ist, dass bei Versicherten mit ADHSDiagnose in der vierten und fünften Lebensdekade eine
ADHS-Medikationsquote um 30 % erreicht wird. Dies
entspricht in etwa dem Anteil Erwachsener mit ADHS,
bei dem eine schwere psychosoziale Beeinträchtigung
vorliegt (12). Eine abschließende Bewertung der Adäquanz der Medikationsquote ist jedoch aufgrund fehlender Referenzwerte und international deutlicher Unterschiede in der Behandlung nicht möglich (e12).
Bezüglich der verordneten Wirkstoffe war Methylphenidat die wichtigste Substanz. Dies entspricht den
Leitlinienempfehlungen und der Zulassungssituation in
Deutschland (eTabelle 1). Die Zunahme der Verschreibung von Methylphenidat in den Jahren 2011–2014 bei
den über 18-Jährigen kann als Folge der Zulassung bei
Erwachsenen interpretiert werden.
Die in der Transitionskohorte von 51,8 % auf 6,6 %
abgesunkene Medikationsquote ist von der Größenordnung her mit Großbritannien vergleichbar (e13) und
kann einerseits als Folge der Transitionsphase, andererseits aber auch als mögliches Indiz einer sehr niedrigen
ADHS-Persistenz im Erwachsenenalter gewertet werDeutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 9 | 3. März 2017
MEDIZIN
den. Vergleichsdaten zur Transition der ADHS (nach
ICD-10-Diagnosekriterien) aus populationsbasierten
Studien fehlen bisher.
Für die erstgenannte Erklärung spricht, dass unabhängig von der Transitionskohorte auch bei Versicherten mit
ADHS zum Ende der zweiten Lebensdekade die Medikationsquote zurückging (Grafik 2a), was in ähnlicher
Weise interpretiert werden könnte – zumal in der ersten
Hälfte der dritten Lebensdekade der Anteil medikamentös behandelter AOK-Versicherter erneut (wenn auch auf
einem vergleichsweise niedrigem Niveau) ansteigt.
Andererseits könnte dieser zweite Medikationsgipfel
auch im Zusammenhang mit den Herausforderungen dieser Lebensphase (zum Beispiel Familiengründung, Elternschaft) mit entsprechenden Anforderungen an Organisationsfähigkeit und Emotions- und Impulskontrolle stehen.
Limitationen
Stärke dieser Arbeit ist die Verwendung von Sekundärdaten,
die eine Vollerhebung innerhalb einer großen Population ermöglicht und hierdurch Störfaktoren, wie zum Beispiel Erinnerungsverfälschungen („recall bias“), ausschließt. Dies
bringt jedoch auch Nachteile mit sich, zum Beispiel eine
möglicherweise geringere Qualität der kodierten Diagnosen
und fehlende Zusatzinformationen hinsichtlich Symptomschwere, Komorbiditäten (9), psychosozialem Status oder
Indikationen von Arzneimittelverordnungen. Allerdings ist
anzunehmen, dass die allermeisten Verordnungen in dieser
Studie für die Indikation ADHS erfolgten, da als alternative
Indikation nur die recht seltene Narkolepsie (Prävalenz:
25–50/100 000) infrage käme (e14).
Psychiatrische Auffälligkeiten kommen unter anderem aufgrund des niedrigeren sozioökonomischen Status häufiger bei AOK-Versicherten vor (e15), wodurch
unsere Routinedatenanalyse die tatsächliche ADHSPrävalenz überschätzen dürfte.
Eine weitere Limitation besteht darin, dass nur Verschreibungsdaten, jedoch keine Diagnosen aus Psychiatrischen Institutsambulanzen und Hochschulambulanzen zur Verfügung standen. Dies dürfte zu einer
geringen Unterschätzung der Diagnosehäufigkeit führen. Gelegentlich off-label zur ADHS-Behandlung
verordnete Medikamente (zum Beispiel Clonidin) sowie andere ADHS-Therapieformen (zum Beispiel
Neurofeedback) konnten nicht in die Auswertung einbezogen werden. Eine Auswertung psychotherapeutischer Behandlungen erfolgte nicht, da keine Angaben
vorlagen, ob die zugrunde liegende Indikation ADHS
oder eine andere psychische Störung war.
Schlussfolgerung
In den vergangenen Jahren hat die ADHS-Diagnosehäufigkeit bei Erwachsenen zugenommen, was als Ausdruck einer gesteigerten Sensibilisierung von Ärzten
und Patienten für die adulte ADHS gewertet werden
kann. Die diagnostizierte Häufigkeit der ADHS bei Erwachsenen liegt jedoch unter der in epidemiologischen
Studien ermittelten Prävalenz, was auf einen signifikanten Anteil undiagnostizierter Fälle hindeutet und die
Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus der Versorgung
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 9 | 3. März 2017
KERNAUSSAGEN
● Zwischen 2009 und 2014 stieg die Häufigkeit von
ADHS-Diagnosen (rohe, nichtstandardisierte Daten) bei
0- bis 17-Jährigen von 5,0 % auf 6,1 % und bei 18- bis
69-Jährigen von 0,2 % auf 0,4 % an.
● Während die Verordnung von ADHS-Medikamenten
zwischen 2009 und 2014 bei Erwachsenen mit ADHSDiagnose anstieg, sank sie im gleichen Zeitraum bei
betroffenen Kindern und Jugendlichen.
● Meistverordneter Wirkstoff war Methylphenidat, gefolgt
von Atomoxetin und Lisdexamfetamin.
● In der Transitionskohorte im Altersbereich von 15–21
Jahren sank die Medikationsquote von 51,8 % auf 6,6 %.
● Aufgrund des niedrigeren sozioökonomischen Status
dieser Kohorte ist die tatsächliche ADHS-Prävalenz in
Deutschland vermutlich niedriger als hier ermittelt.
adulter ADHS-Patienten unterstreicht. Der erhebliche
Rückgang der medikamentösen Therapie der ADHS am
Übergang ins Erwachsenenalter wirft die Frage auf, ob
dafür spezifische Transitionskonzepte (e16, e17) entwickelt werden sollten.
Danksagung
Wir danken Herrn Jürgen-Bernhard Adler und Frau Bettina Gerste vom
Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) in Berlin für die Aufbereitung und
Bereitstellung der dieser Studie zugrunde liegenden Daten. Die Studie wurde
ohne externe finanzielle Unterstützung durchgeführt.
Interessenkonflikt
Prof. Philipsen erhielt Honorare für Berater- und Vortragstätigkeit sowie
Reisekostenerstattung von Eli Lilly, MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG,
Novartis, Shire und Lundbeck.
Prof. Bachmann und Prof. Hoffmann erklären, dass kein Interessenkonflikt
besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 23. 9. 2016, revidierte Fassung angenommen: 10. 1. 2017
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Dr. P.H. Christian J. Bachmann
Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg
35043 Marburg
[email protected]
Zitierweise
Bachmann CJ, Philipsen A, Hoffmann F: ADHD in Germany: trends in diagnosis and
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The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit0917 oder über QR-Code
eTabellen, eKasten, eGrafik:
www.aerzteblatt.de/17m0141 oder über QR-Code
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 9 | 3. März 2017
MEDIZIN
Zusatzmaterial zu:
ADHS in Deutschland: Trends in Diagnose und medikamentöser Therapie
Bundesweite Auswertung von Krankenkassendaten der Jahre 2009–2014 zur
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Christian J. Bachmann, Alexandra Philipsen, Falk Hoffmann
Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 141–8. DOI: 10.3238/arztebl.2017.0141
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I
MEDIZIN
eTABELLE 1
Übersicht der in Deutschland zur Behandlung der ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zugelassenen Medikamente
Handelsname(n)
Wirkdauer
Markteinführung
Indikation(en) Kinder/Jugendliche*1
Indikation(en) Erwachsene*1
Ritalin
Medikinet
Methylpheni TAD
Methylphenidat
(ratiopharm)
Methylphenidat
(Hexal)
1–4 Stunden
1970
2000
2004
11/2004
–
2003
Behandlung der ADHS ab 6 Jahren
– nach ausführlicher Untersuchung und
Diagnostik nach ICD-10 oder DSM-5
– im Rahmen einer therapeutischen
Gesamtstrategie
– wenn andere Maßnahmen (z. B. Psychotherapie) nicht erfolgreich waren
– unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen
Narkolepsie (nur Ritalin)
Equasym retard
7–8 Stunden
7/2006
siehe oben (farbig unterlegt)
–
Medikinet retard
(K) bzw. Medikinet
adult (E)
6–8 Stunden
1/2005 (K) bzw.
4/2011 (E)
siehe oben (farbig unterlegt)
Behandlungsbeginn im
Erwachsenenalter, Weiterführung der Therapie einer seit
Kindesalter bestehenden
ADHS
Ritalin LA (K) bzw.
Ritalin adult (E)
6–8 Stunden
8/2007 (K) bzw.
5/2014 (E)
siehe oben (farbig unterlegt)
Behandlungsbeginn,
Weiterführung
Concerta
Methylphenidat
neuraxpharm
9–12 Stunden
1/2003
2/2014
siehe oben (farbig unterlegt)
Weiterführung
Dexamfetamin
5–6 Stunden
12/2011
unzureichendes Ansprechen auf eine vorherige ADHS-Behandlung mit Atomoxetin und
eine ADHS-Behandlung mit Methylphenidat,
weitere Bedingungen siehe oben
–
Lisdexamfetamin
12–14 Stunden
6/2013
unzureichendes Ansprechen auf eine vorherige ADHS-Behandlung mit Methylphenidat, weitere Bedingungen siehe oben
–
Atomoxetin
kontinuierlich
3/2005 (K) bzw.
6/2013 (E)
Behandlung der ADHS ab 6 Jahren im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie
Behandlungsbeginn,
Weiterführung
Guanfacin
kontinuierlich
1/2016 (K)
unzureichendes Ansprechen auf eine vorherige ADHS-Behandlung mit Stimulanzien,
weitere Bedingungen siehe oben
–
Substanz
Stimulanzien
Methylphenidat*2
(unretardiert)
Methylphenidat*2
(retardiert)
andere
ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; E, Erwachsene; K, Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr
*1 Die Indikationen sind zum Teil gekürzt dargestellt.
*2 Aufgrund unterschiedlicher Zulassungen und Wirkdauer sind zur besseren Nachvollziehbarkeit alle in Deutschland derzeit erhältlichen Methylphenidatpräparate
mit ihrem jeweiligen Handelsnamen angegeben.
II
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 9 | 3. März 2017 | Zusatzmaterial
MEDIZIN
eTABELLE 2
Anteil der Versicherten (in %) mit Verordnung des jeweiligen Wirkstoffes
zur Behandlung der ADHS (15– bis 21-jährige AOK-Versicherte mit ADHS-Diagnose, 2009–2014)
Alter (in Jahren)
Kalenderjahr
Wirkstoff
15
16
17
18
19
20
21
2009
MPH
47,15
42,79
35,37
29,18
18,85
16,27
13,43
ATX
4,72
4,62
4,52
4,76
3,38
2,23
2,43
LDX
–
–
–
–
–
–
–
2010
2011
2012
2013
2014
DEX
–
–
–
–
–
–
–
MPH
46,70
41,96
35,76
28,18
16,07
13,78
11,42
ATX
4,36
4,16
4,19
4,70
3,05
1,95
1,26
LDX
–
–
–
–
–
–
–
DEX
–
–
–
–
–
–
–
MPH
45,19
41,08
34,99
29,42
17,71
15,78
13,28
ATX
4,45
3,78
3,59
3,88
2,60
1,97
1,17
LDX
–
–
–
–
–
–
–
DEX
0
0,03
0,01
0,02
0,02
0
0
MPH
44,27
39,80
33,74
28,86
24,00
19,09
17,64
ATX
3,94
3,55
3,28
2,39
1,93
1,57
1,21
LDX
–
–
–
–
–
–
–
DEX
0,18
0,13
0,16
0,11
0,02
0,03
0
MPH
42,65
39,11
32,86
27,82
22,71
20,14
18,12
ATX
3,51
3,06
2,70
2,44
1,79
1,72
1,56
LDX
1,17
0,73
0,54
0,19
0,02
0,02
0,03
DEX
0,24
0,19
0,20
0,16
0,02
0,02
0,09
MPH
38,84
35,59
29,20
26,03
22,74
20,06
17,33
ATX
2,83
2,81
2,31
2,70
2,24
1,69
1,89
LDX
3,22
2,25
1,62
0,97
0,30
0,02
0,03
DEX
0,29
0,19
0,18
0,10
0,06
0
0
ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; AOK, Allgemeine Ortskrankenkassen;
ATX, Atomoxetin; DEX, Dexamfetamin; LDX, Lisdexamfetamin; MPH, Methylphenidat
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 114 | Heft 9 | 3. März 2017 | Zusatzmaterial
III
MEDIZIN
eKASTEN
Methoden
● Datengrundlage
– Für unsere Analysen verwendeten wir Daten aller circa 24 Millionen Mitglieder der Allgemeinen Ortskrankenkassen
(AOK), die in jedem Quartal des entsprechenden Jahres mindestens einen Tag versichert waren.
– Für die Selektion von Personen mit ADHS musste bei den betroffenen Versicherten im jeweiligen Jahr mindestens eine
der folgenden ICD-10-Diagnosen („Indexdiagnosen“) als gesichert im ambulant-ärztlichen Sektor kodiert worden sein:
F90.0, F90.1, F90.8, F90.9, F98.8.
– Hinsichtlich der Verordnungen von ADHS-Medikamenten wurden folgende Wirkstoffe betrachtet: Methylphenidat (ATCCode: N06BA04), Atomoxetin (N06BA09), Lisdexamfetamin (N06BA12), Dexamfetamin (N06BA02) sowie Amphetamin
(N06BA01).
– Auf Grundlage der Fachgruppenkodes wurden folgende behandelnde Disziplinen untersucht: Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendmedizin, hausärztliche Versorgung sowie Psychiatrie/Psychosomatik/Neurologie.
– Die Daten wurden vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) aufbereitet und den Autoren in aggregierter Form zur
Auswertung zur Verfügung gestellt.
● Analyse
– Diagnose- und Behandlungshäufigkeit
Es wurde der Anteil Versicherter im Alter von 0 bis 69 Jahren mit einer Indexdiagnose im jeweiligen Kalenderjahr (2009
und 2014) untersucht. Ergänzend wurde für Versicherte mit Indexdiagnose die Verordnung von ADHS-Medikamenten im
Zeitraum 2009–2014 ausgewertet. Versicherte, für die in einem oder mehreren Jahren keine Diagnosen vorlagen, wurden nicht zensiert. Die Analysen wurden nach Alter, Geschlecht sowie verordnetem Wirkstoff stratifiziert.
– Transition
Grundgesamtheit waren alle Versicherten mit Indexdiagnose, die im Jahr 2008 fünfzehn Jahre alt waren sowie bis 2014
durchgängig versichert waren. Für den Zeitraum 2008–2014 wurde erfasst, ob im betreffenden Jahr eine Indexdiagnose
vorlag, ein Medikament verschrieben wurde und (Fach-)Arztkontakte stattfanden. Die Analysen wurden nach Geschlecht
stratifiziert.
IV
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MEDIZIN
eGRAFIK
Prozent
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
2009
2010
2011
2012
2013
2014
Jahre
Psychiatrie/Psychosomatik/Neurologie
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Kinder- und Jugendmedizin
hausärztliche Versorgung
Patienten mit ADHS-Medikation
Arztkontakte der Transitionskohorte; prozentuale Verteilung auf die verschiedenen Facharztgruppen, 2009–2014
ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
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