Erinnert Euch an mich

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
„Erinnert Euch an mich“
Nestor Machno und seine ukrainische anarchistische Volksarmee.
Autor: Mark Zak
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Redaktion: Karin Beindorff
Produktion: DLF 2017
Erstsendung: Dienstag, 7. März 2017 , 19.15 Uhr
Erzähler: Matthias Haase
Sprecher 1: Hendrik Stickan
Sprecher 2: Mark Zak
Sprecher 3: Philipp Schepmann
Sprecher 4: Thomas Balou Martin
Sprecherin 1: Susanne Flury
Sprecherin 2: Anja Bilabel
Sprecherin 3: Kerstin Fischer
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©
- unkorrigiertes Exemplar -
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Soundcollage: Revolution: Schüsse, Pferde, Kriegsgeräusche usw.
Russisch und Deutsch:
Sprecher
Friede den Völkern, Land den Bauern, Fabriken den Arbeitern. Alle Macht den
Räten! Es lebe die Revolution! Freiheit oder Tod!
Musik Varchavianka
Erzähler Sprecher 4
Unter den Gestalten, die in der russischen Revolution aufgetaucht sind, ist Nestor
Machno eine der bemerkenswertesten: Nestor Machno ist eine sagenhafte Gestalt…
Aus der Zeitschrift Syndikalist, 1922
Musik Varchavianka, dann Kossack Volkslied
Sprecher
Als er mich das erste Mal besuchte, fühlte ich mich ein wenig enttäuscht, einen
kleinen Mann vor mir zu sehen, dessen äußere Erscheinung mit allem, was ich von
ihm gehört hatte, in gar keinem Verhältnis stand. Nur das energische
kühngeschnittene Gesicht mit den düster blickenden Augen verriet, welche
unbändigen und fabelhaften Kräfte in diesem Mann lebten. In der Tat gab es wohl
wenig Menschen, die auf ein so wildbewegtes und abenteuerliches Leben
zurückblicken konnten.
Erzähler: Rudolph Rocker, deutscher Publizist und Anarchist
Musik „Kossack“ Lied
Sprecher
Doch die erste Kugel,
sie traf das Pferd am Bein.
Und die zweite Kugel,
sie war für mich allein.
Herrlich ist das Leben,
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Mit Säbel, Schnaps und Pferd,
mit unsrem Ataman
ist‘s Leben unbeschwert.
Geräusch Schuss
Ansage:
„Erinnert Euch an mich.“
Nestor Machno und seine ukrainische anarchistische Volksarmee.
Ein Feature von Mark Zak
Erzähler
Für „Glaube, Zar und Vaterland‘ stürzte das Zarenregime 1914 Russland in den 1.
Weltkrieg. Drei Jahre später stand das Land am Rande des Ruins. Bittere Armut,
Krankheiten und Hunger waren allgegenwärtig. Die Februarrevolution 1917 beendete
die Zarenherrschaft in Russland. Das Volk - Soldaten, Arbeiter, Bauern, aber auch
die bürgerliche und intellektuelle Schicht - begrüßte das Ende der zaristischen
Diktatur. Doch der Provisorischen Regierung mit dem Sozialisten Alexander Kerenski
an der Spitze gelang es weder den Krieg noch die Wirtschaftskrise zu beenden. Die
Bolschewiki, eine verhältnismäßig kleine, aber bestens organisierte kommunistische
Gruppierung unter Lenins Führung gab im Oktober 1917 das Signal für den
revolutionären Umsturz, den man später die Große Sozialistische Oktoberrevolution
nannte. Damit begann der russische Bürgerkrieg, der 5 Jahre dauerte und über 10
Millionen Opfer forderte.
Musik Varchavianka
Erzähler
Nirgendwo im Russischen Reich wütete der Bürgerkrieg so brutal, so verhängnisvoll
wie in der Ukraine. Hier kämpfte jeder gegen jeden: Die bolschewistische Rote
Armee, die russische national-konservative Weiße Armee, die nationalistische
Ukrainische Armee der Volksrepublik, die deutschen und österreich-ungarischen
Truppen. Und im Südosten des Landes die sagenumwobene Revolutionäre
Aufständische Armee der Ukraine unter dem Kommando des Anarchisten Nestor
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Machno. Auf ihrer schwarzen Flagge stand geschrieben: „Anarchie ist die Mutter der
Ordnung“. Machno führte einen kompromisslosen Partisanen Krieg für die kollektive
Selbstverwaltung der Bauern und Arbeiter in einer herrschaftsfreien Gesellschaft
ohne Staat.
Kossack Lied
Erzähler
Seine Freischärler, meist Bauern, nennen ihn respekt- und liebevoll Batjko Machno,
was auf Ukrainisch sowohl Vater als auch Heeresführer bedeutet.
Sprecher
Ich bin bäuerlicher Abstammung. Geboren wurde ich am 27. Oktober 1888 im kleinen
Städtchen Gulajpole in der Ukraine als fünftes Kind. Meine Eltern waren zuerst
Leibeigene, später freie Bauern. An meinen Vater kann ich mich nicht erinnern. Er
starb, als ich 11 Monate alt war. Meine arme Mutter blieb alleine mit 5 kleinen
Kindern zurück. Als ich 8 war, hat mich meine Mutter in der Dorfschule angemeldet.
Ich war ein guter Schüler, und meine Mutter war sehr stolz auf mich. Leider war diese
herrliche Zeit bald zu Ende. Der Winter kam und unter dem Einfluss anderer Schüler
begann ich die Schule zu schwänzen um auf dem gefrorenen Fluss Schlittschuh zu
fahren. Natürlich flog das eines Tages auf… Und als ich kurz vor Ostern in eine
Schlägerei verwickelt wurde, war meine Schullaufbahn erstmal zu Ende. Im Sommer
begann ich als Viehhirte im Gutshof eines Herrn namens Jansen zu arbeiten und
verdiente 25 Kopeken am Tag. Aufgrund der schwierigen finanziellen Lage meiner
Familie beschloss ich mit 11 Jahren weiterhin als Tagelöhner zu arbeiten. Zu dieser
Zeit begann ich - immer dreckig, in zerfetzten Lumpen, barfuß, nach Mist stinkend,
gegenüber meinem reichen Herrn und vor allem seinen wohlgenährten, fein
gekleideten und parfümierten Kindern Zorn, Groll und sogar Hass zu empfinden.
Erzähler
Gulajpole, in der weiten Steppe der Südostukraine gelegen, war Anfang des 20.
Jahrhunderts eine für russische Verhältnisse recht wohlhabende kleine Stadt mit
15.000 Einwohnern. Es gab an die 70 Fabriken und Handwerksbetriebe, ein
Gymnasium, jüdische und deutsche Schulen. In dieser Gegend lagen über 50 große
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prosperierende Gutshöfe deutscher Kolonisten. Bei einem war Machno als
Tagelöhner beschäftigt.
Sprecher
Mit 13 Jahren habe ich „Karriere“ gemacht; bin vom Viehhirten zum Stalljungen
aufgestiegen. Eines Tages habe ich gesehen, wie die zwei Söhne des Gutsbesitzers
einen Stallburschen zusammenschlugen. Schnell rannte ich zum Stallmeister, der
gerade beim Mittagessen war: „Onkel Iwan, Filip wird von den Kindern des Herrn
Jansen zusammengeschlagen!“. Iwan eilte in den Stall und verprügelte die
Herrensöhnchen. Von Iwan hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben Worte der
Rebellion: “Niemand soll sich hier schlagen lassen. Und wenn einer der Herren es
bei dir versucht, mein kleiner Nestor, greif nach der nächsten Mistgabel und spieß ihn
auf!“ Für mein Alter, für meine Kinderseele klangen diese Worte schrecklich. Doch
instinktiv, tief im Inneren fühlte ich deren wirklichen Sinn und ihre Gerechtigkeit.
Wenn ich später einen der Söhne sah, stellte ich mir oft vor, dass er mich schlagen
will und ich ihn mit der Mistgabel aufspieße.
Musik „Kossack“ RussenSoul
Erzähler
Nachdem er mehrfach Lehren abgebrochen hatte, landete Machno als ungelernter
Arbeiter bei der Eisengießerei in Gulajpole. Dort begann er in der Laientheatergruppe
des Werks zu spielen. Die meisten Mitglieder des Theater-Zirkels gehörten einer
lokalen Anarchisten-Gruppe an. Machno war klein, hatte eine schmächtige Figur und
lange Haare und wurde deshalb gerne als Frau besetzt. Seine schauspielerische
Begabung konnte er noch Jahre später im Bürgerkrieg unter Beweis stellen;
Rollenwechsel und das Verkleiden gehörten zum festen Repertoire des
Freischärlers.
Sprecher
Machno war ein geborener Rebell, der sich früh gegen die „Tyrannei der Umstände“
aufbäumte, unter denen er zu leben gezwungen war. Doch erst nach dem Ausbruch
der Revolution von 1905 bekam er erste Fühlung mit der äußeren Welt und schloss
sich als Siebzehnjähriger den Kommunistischen Anarchisten an. Von Natur aus
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wagemutig bis zur Verwegenheit, beteiligte er sich an einer ganzen Reihe
revolutionärer und gefahrvoller Unternehmungen.
Erzähler: Rudolf Rocker
Musik Wladimir Wyssotzkij - Wolfsjagd
Sprecher
Wladimir Wyssozki Wolfsjagd
Losgerannt und so schnell wir nur konnten,
doch wie gestern hat man mich erneut
längst umzingelt an sämtlichen Fronten
bei dem Treiben, das alle erfreut.
Geräusch Schuss
Erzähler
Die Anarchisten aus Gulajpole überfielen Großgrundbesitzer und reiche Bauern.
1908 wurde Machno verhaftet und 1910 wegen mehrerer ‚terroristischer
Raubüberfälle‘ zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde bald aufgrund seiner
Unmündigkeit (laut gefälschter Geburtsurkunde war er zu Tatzeit noch keine 21
Jahre alt) in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt. Doch davon wusste
Machno zunächst nichts. 52 Tage verbrachte er in der Todeszelle in Jekaterinoslaw.
Musik „Reverso“ Alva Noto & Ryuichi Sakamoto
Sprecher:
Diese Todeszelle, mit der niedrigen gewölbten Decke, 2 x 5 Meter groß, befand sich
im Keller des Gefängnisses. In unserer Zelle waren wir elf. Die zum Tode Verurteilten
verloren nach und nach jegliche Verbindung zur Außenwelt. Jeden Tag warteten wir
darauf abgeholt und hingerichtet zu werden. Mein Kamerad Bondarenko war sich
sicher, dass er bald gehängt würde. Aber zu mir sagte er: „Nestor, du hast eine
Chance, dass die Todesstrafe durch Lebenslänglich ersetzt wird. Und dann wirst du
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durch die kommende Revolution befreit, und ich bin davon überzeugt, dass du die
Flagge der Anarchie ganz hoch halten wirst.“ Ich und andere Kameraden zweifelten
an seinen Worten. Wir sprachen über meine fehlende intellektuelle Bildung und über
meine körperliche Schwäche – zudem litt ich damals an Magenschmerzen und
konnte kaum etwas essen. Doch Bondarenko widersprach:
Sprecher:
„Um zu handeln braucht man keine großen geistigen oder körperlichen Fähigkeiten.
Der Wille und die Ergebenheit für die Sache reichen aus.“
Erzähler
Ab 1911 verbüßte Machno die lebenslange Strafe im Butyrkagefängnis in Moskau.
Unter den vielen anderen politischen Gefangenen lernte er den Anarchokommunisten Pjotr Arschinow kennen, seinen späteren Weggefährten. Arschinow
unterrichtete Machno in anarchistischer Theorie.
Sprecher:
Da er sich häufig gegen die Erniedrigungen auflehnte, die er über sich ergehen
lassen musste, wurde er oft bestraft und war die ganze Zeit seiner langen
Gefangenschaft mit Ketten an Händen und Füßen gefesselt. Durch den Aufenthalt in
der eiskalten Zelle hatte sich Machno eine Lungentuberkulose zugezogen, von der er
sich Zeit seines Lebens nicht mehr erholte. Doch wie den meisten politischen
Gefangenen in der Zeit des Zarismus, so wurde auch ihm das Gefängnis zu einer
Schule, wo er seine freien Stunden zu nützlicher Arbeit verwenden konnte. Unter der
Anleitung von anderen Gefangenen erlernte er die Grammatik der russischen
Sprache und las eine Anzahl Bücher über kulturgeschichtliche und wirtschaftliche
Fragen.
Erzähler
Rudolf Rocker...Im März 1917, kurz nach der Februarrevolution wurde Machno so
wie alle anderen politischen Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen.
Musik „Avaol“ Alva Noto & Ryuichi Sakamoto
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Sprecher Machno
Ich komme auf die Straße, wankend, da das Fehlen der Ketten an meinen Füßen das
Gleichgewicht meines Ganges stört. Eine riesige Menschenmenge begrüßt uns und
ruft uns zu: “Es lebe die Befreiung politischer Häftlinge!“ Dann bringt man uns zur
Stadtverwaltung, wo man uns registriert und Ausweise austeilt.
Erzähler
Zurück in Gulajpole wurde Machno gefeiert. Viele Menschen waren stolz darauf
einen einheimischen „echten“ politischen Häftling in ihrem Städtchen begrüßen zu
können. Machno entwickelte eine fieberhafte Tätigkeit. Er wurde Vorsitzender des
Arbeiter- und Bauernrats. Gleichzeitig organisierte er eine etwa 60 Mann starke
bewaffnete Truppe, die Schwarze Garde. Die Freischärler überfielen Züge,
Großgrundbesitzer, Fabrikanten. Machno ließ per Dekret Land enteignen, das dem
Staat, der Kirche oder Gutsbesitzern gehörte und verteilte es unter den Bauern.
Musikakzent „Terminator“ Leningrad
Erzähler
Im Februar 1918 wurde in Brest-Litovsk der sogenannte „Brotfrieden“ unterzeichnet.
Deutschland und Österreich-Ungarn erkannten die Ukraine als unabhängigen Staat
an und verpflichteten sich militärischen Beistand zu leisten. Als Gegenleistung
musste die Zentralna Rada, das höchste staatliche Gremium der Ukraine, innerhalb
von 6 Monaten 1 Million Tonnen Getreide, 50.000 Tonnen Rinder, 400.000 Eier,
Speck, und diverse Rohstoffe liefern. 750.000 deutsche und österreich-ungarische
Soldaten marschierten in die Ukraine ein.
Sprecher
Dies hatte eine erschütternde Wirkung in unserem Landkreis. Denn die Bauern und
Arbeiter wussten sehr wohl was die Zentralna Rada in Kiew ihnen in der Union mit
Wilhelm und dem österreichischen Karl bringen würde. Auch wenn die Agenten der
Zentralna Rada den Bauern verkündeten, dass diese Regierung mit viel Schuhwerk,
Kleidung, Zucker und Salz komme und auf ihrem Weg ein allseits gesundes
friedliches Leben organisiere. Die Bauern und Arbeiter hatten dafür keine Ohren. Sie
bereiteten sich eilig auf einen bewaffneten Empfang ihrer sogenannten „Retter“ vor.
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Das Revolutionskommittee von Gulajpole hatte mich als Vorsitzenden beauftragt
freiwillige Bataillone aus Bauern und Arbeitern zu rekrutieren, die ich im Kampf
gegen die Rada und die Deutschen führen sollte.
Erzähler
Doch die deutschen Truppen nahmen Gulajpole ohne Widerstand ein.
Sprecher
In meiner Abwesenheit wurde eine Delegation von deutschen Besatzern und
Zentralna Rada zugelassen, die den Arbeitern und Bauern damit drohte, ganze
Dörfer zu verbrennen, wenn auch nur einer von ihnen an Kampfhandlungen
teilnehmen würde. Daraufhin haben die Bauern und Arbeiter ihre Waffen
niedergelegt. Anstatt nach Gulajpole fuhr ich nach Taganrog und von da aus in die
russische Provinz.
Erzähler
In Kiew putschte sich inzwischen mit Hilfe der deutschen Militärverwaltung der
rechtskonservative General und Großgrundbesitzer Skoropadskij an die Macht. Die
sozialdemokratisch geprägte Zentralna Rada wurde aufgelöst. Damit war Machnos
führende Position, die er sich im Jahr zuvor aufgebaut hatte, verloren. Die deutsche
Militärverwaltung und ihre ukrainischen Handlanger hatten einen Preis auf seinen
Kopf ausgesetzt, und da sie ihn nicht fassen konnten, brannten sie das Haus seiner
Mutter nieder und erschossen seinen älteren Bruder Emeljan, einen Kriegsinvaliden.
Doch im Juli 1918 kehrte Nestor Machno nach Gulajpole zurück und hielt sich
zunächst bei einem Bauern auf dem Dachboden versteckt. Dort schrieb er an die
alten Weggefährten.
Sprecher
Genossen, nach zweieinhalb Monaten herumwandern im revolutionären Russland,
kehre ich zu euch zurück, um gemeinsam die konterrevolutionären DeutschÖsterreichischen Armeen zu vertreiben, die Herrschaft des Hetman Skoropadskij zu
stürzen und keine andere Macht an seiner Stelle zuzulassen…
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Erzähler
Der Brief wurde vervielfältigt und zirkulierte. Einige Tage später traf sich Machno mit
den Genossen. Sie beschlossen den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen.
Und nun begann der kometenhafte Aufstieg der Machnobewegung. Immer mehr
aufständische Bauerneinheiten schlossen sich dem Anarchisten an. Aus einer 50
Mann starken Partisanentruppe wurde eine schlagkräftige Armee, die ein Jahr
später, im Dezember 1919 in der Zeit ihrer größten Ausdehnung über 60.000
Infanteristen und 20.000 Kavalleristen verfügte. Sie agierte auf einem Gebiet von
etwa der Größe Bayerns.
Musik Wolfsjagd Wyssozki
Ja, jetzt ist Wolfsjagd angesagt. Sie jagen heute
die grauen Räuber, gleich ob Mutter oder Kind
Die Treiber schreien laut und furchtbar jault die Meute,
Blut auf dem Schnee und rote Lappen dort im Wind.
Erzähler
Von nun an, schrieb der deutsche Anarchist Rudolf Rocker, habe Machno gegen alle
Feinde des Volkes gekämpft
Sprecher
... gegen die Deutschen und Österreicher, gegen die konterrevolutionären
Erhebungen und später auch gegen die Rote Armee. Dass Machno sich drei Jahre
im Feld behaupten und immer wieder breite Volksschichten seiner engeren Heimat
zum Widerstand begeistern konnte, verdankte er dem Umstand, dass ihm die
Arbeiter und ärmeren Bauern treu ergeben waren und in ihm den Hüter und
Beschützer ihrer sozialen Belange erblickten.
Sprecher
Einmal, als ich gerade mit einem alten Typen, einem wahrhaftigen Patriarchen mit
einem langen weißen Bart sprach, überraschte es mich, dass er, als der Name
Machno erwähnt wurde, seine Bauernmütze, mit einer ehrerbietigen Geste abnahm.
„Ein großer und guter Mann, „sagte er, “möge Gott ihn schützen. Es ist jetzt zwei
Jahre her, dass er hier war, aber ich kann ihn immer noch vor mir sehen, wie er auf
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einer Bank auf dem Platz stand und zu uns sprach. Wir waren ungebildete Leute und
verstanden nie diese Bolschewiki. Aber er sprach zu uns in unserer Sprache und
seine Rede war einfach. "Brüder", sagte er, "Ich bin gekommen, um euch zu helfen.
Wir haben den Landbesitzer und seine Soldaten verjagt und ihr seid jetzt frei. Teilt
das Land unter euch auf, gerecht und wie Brüder und arbeitet für den Nutzen aller.
Ein guter, ein heiliger Mann”, schloss er ernsthaft. Er ging zu der Ikone, die in einer
Ecke der Hütte hing, verbeugte und bekreuzigte sich…
Erzähler:
Der russisch-amerikanische Anarchist Alexander Berkmann
Wolfsjagd Wyssozki
Doch die Lebensgier siegte, ich querte
Diese Lappen und war endlich frei.
Während freudig ich hinter mir hörte
Noch der Jäger erstauntes Geschrei.
Erzähler
Machnos Kühnheit und sein Einfallsreichtum waren legendär. Die Großstadt
Jekaterinoslaw, das spätere Dnepropetrowsk, nahmen die Machnowzy ein, indem
sich die Kämpfer als Bauern tarnten. Die Maschinengewehre in den Pferdewagen
unter Kohl und Kartoffeln versteckt, konnten sie ungehindert in die Stadt vor das
Hauptquartier der Weißen gelangen. Einmal verkleideten sich die Freischärler als
Hochzeitsgesellschaft, um das deutsche Hauptquartier anzugreifen – Machno
übernahm dabei die Rolle der Braut -, öfter tauchte er auch als ukrainischer Polizist
beim Gegner auf, um im Alleingang die Feinde zu erschießen.
Eine Zeitzeugin, Natalja Suchogorskaja, erinnert sich:
Sprecherin:
Schön waren sie anzusehen, die Reitereinheiten der Machnowzy, als sie nach der
Weißen Armee in unser Dorf einzogen: allesamt junge Leute, stattlich, gut gekleidet
und auf herrlichen Pferden. Zum größten Teil waren diese Pferde auch von
deutschen und jüdischen Kolonien mitgenommen worden. Doch es gab auch viele
reiche Bauern, die auf ihren eigenen Pferden ritten. Die Machnowzy liebten es, sich
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schick zu machen, allen voran das Gefolge Machnos. Machno selbst war
unansehnlich: kleingewachsen, schmale Schultern, hellbraune Haare mit einem
Topfschnitt und ein flaches, etwas affenartiges Gesicht. Er trug eine SoldatenUniform, an der Seite baumelte ein Säbel. Er erinnerte mich an einen einfachen
Landpolizisten.
Eigentlich ein unauffälliger Mann, wenn nicht sein Blick gewesen wäre. Anfangs
dachte ich, dass nur ich mich fürchtete, wenn er mich mit seinen grauen, kalten,
stählernen, irgendwie hypnotisierenden Augen ansah. Doch bald stellte sich heraus,
dass selbst die leidenschaftlichsten Machnowzy, diese Räuber, dem Blick ihres
Anführers nicht standhalten konnten. Er brachte sie zum Zittern.
Erzähler
In den von ihm befreiten oder, je nach Sichtweise, besetzten Gebieten versuchte
Machno eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung mit freigewählten Räten
aufzubauen. Ein schwieriges Unterfangen in einem vom Bürgerkrieg zerrissenen
Land bäuerisch-patriarchalischer Prägung. Dazu fehlte Machno und seinem
Führungsstab jegliche Erfahrung im Aufbau einer Zivilgesellschaft. Zuständig dafür
war die „Abteilung für Kultur und Bildung“.
Sprecher
Die Abteilung für Kultur und Bildung gehörte zum Teil zum zivilen und zum Teil zum
militärischen Apparat. Wollin war der Leiter.
Erzähler:
Viktor Belasch war Machnos Generalstabschef
Sprecher
Die Abteilung hatte verschiedene Sektionen: Presse, mündliche Agitation, Theater,
Schule. Täglich wurden zwei Ausgaben der Zeitung „Der Weg zur Freiheit“ gedruckt,
jeweils in russischer und ukrainischer Sprache. Arschinow war für die Presse
zuständig. Auch der Theater-Zirkel hatte verschiedene Sektionen: Drama, Musik,
Satire. Außerdem gab es eine Blasmusikkapelle und jede Einheit hatte mindestens
eine Ziehharmonika. Für das Schulwesen war Galina Kusmenko verantwortlich, die
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Ehefrau von Nestor Machno. Zu ihren Aufgaben gehörten die Organisation des
Schulwesens und die Beschaffung der finanziellen Mittel.
Sprecherin:
Galina kam ins Dorf und schlug vor, einen Abend für die ärmsten Schüler zu
organisieren, da die Machnowzy gerade viel Geld besaßen – sie kamen von einem
Feldzug zurück.
Erzähler:
Die Zeitzeugin Suchogorskaja ist der Ehefrau Machnos begegnet:
Sprecherin:
„Sie werden die Beute sowieso versaufen oder beim Kartenspiel verlieren, dabei hat
die Schule überhaupt kein Geld und die Lehrer hungern“,
Sprecherin:
... sagte Galina. Sie war eine sehr schöne brünette Frau, stattlich, mit herrlichen
dunklen Augen. Gutaussehend, lächelnd, ähnelte sie eher einer eleganten Dame als
der Frau eines Räubers, die selber an Kampfhandlungen teilnahm und mit
Maschinengewehren herumschoss. Man erzählte über sie, dass sie einige
Machnowzy eigenhändig erschossen hatte, nachdem sie sie bei Plünderungen und
Vergewaltigungen erwischt hatte.
Sprecherin:
Ich war 20. So wie viele junge Menschen damals begeisterte ich mich für die Lehre
der Anarchisten.
Erzähler:
Galina Kusmenko, Machnos Ehefrau, war im Sommer 1917 Grundschullehrerin in
Gulajpole.
Sprecherin:
Ich kam öfters in deren Räumlichkeiten um beim Sortieren der Post und der Bücher
zu helfen; viele waren Analphabeten. Eines Tages kam Nestor mit einigen Genossen
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in den Raum wo ich mich aufhielt. Es war recht eng und ich habe ein Paar Flugblätter
oder Broschüren fallen lassen. Nestor schrie mich an: „Heben Sie es sofort auf!“ Ich
war verärgert, weil er mich anschrie. „Ich hebe es nicht auf!“ „Heb das auf!“, schrie er,
„Das ist mit Blut geschrieben!“ „Ich hebe es nicht auf.“ Er zog seinen Revolver und
richtete ihn auf mich: „Aufheben!“ Ich hätte die Papiere nicht aufgehoben. Doch seine
Kameraden beruhigten ihn. Er entschuldigte sich und verließ das Zimmer. So haben
wir uns kennengelernt.
Musikakzent „Terminator“ Leningrad
Sprecher
Was mir bei Machno besonders auffiel, war eine seltsame Erregung darüber, dass
ihn die Bolschewisten in der ganzen Welt als „antisemitischen Pogromhelden“
verschrien hatten. Dass man ihn als einfachen Räuber, Konterrevolutionär und
Verteidiger der Kulaki angeprangert hatte, schien auf ihn keinen besonderen
Eindruck zu machen; aber dass man ihn für die zahllosen Judenpogrome
verantwortlich zu machen suchte, die in jenen Jahren fast in allen Teilen der Ukraine
von wirklichen Konterrevolutionären verursacht wurden, war ihm unerträglich.
Erzähler:
In Dobrewiltschikow, einem jüdischen Städtchen, bezogen Galina Kusmenko und
Nestor Machno Quartier.
Sprecherin:
Ein Jude kam zu mir – man kannte mich dort – und sagte, dass Machnowzy bei den
Juden plünderten. Ich wandte mich sofort an Nestor und sagte, damit müsse man
aufhören. „Ja“, sagte er, „Sofort aufhören.“ Wir sind gleich losgeritten, Petrenko,
Machno und ich. Tatsächlich, die Kämpfer raubten gerade irgendwelche Bekleidung,
auch Frauenkleider und Marmelade. Ein Soldat löffelte gierig aus dem Glas. Etliche
Kämpfer sind auf der Stelle ausgepeitscht worden. Ich erinnere mich, Petrenko
kanzelt einen Soldaten ab und sagt zu mir: „Was soll ich denn mit ihm machen,
Galina?“ Ich sage: „Erschießen, wenn er nichts versteht.“ Petrenko hat ihn tatsächlich
erschossen. Danach gab es eine Versammlung.
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Musik „Kossack“ RussenSoul
Erzähler
Auch zwischen den wohlhabenden deutschen Kolonisten und den MachnoFreischärlern herrschte ein erbitterter Krieg. Die Kolonisten organisierten mit Hilfe der
deutschen Armee einen bewaffneten Schutz und setzten sich gegen Enteignungen
und hohe Revolutionssteuern zur Wehr.
Sprecher
Die nächste Etappe des Kampfes begann in der Weihnachtszeit 1918, als Machnos
Abteilungen dichten Nebel nutzten und die im Norden gelegene Kolonie Blumental
angriffen. Es gelang den Machno-Abteilungen sich am Rande der Kolonie für einige
Zeit festzusetzen. Doch der Selbstschutz erholte sich rasch von dem Schock des
überraschenden Angriffes und vertrieb die Machno Leute, die hohe Verluste
hinnehmen mussten, aus der Ortschaft. Die Wut des durch den Misserfolg bei
Blumental erbosten Machno war so groß, dass er daraufhin befahl, einen orthodoxen
Geistlichen in der Feuerung einer Dampflokomotive lebendigen Leibes zu
verbrennen.
Musik „Avaol“ Alva Noto & Ryuichi Sakamoto
Sprecher:
Die Station war überfüllt mit Verwundeten. Sie stöhnten hilflos und verbanden sich
gegenseitig mit schmutzigen Stofffetzen die Wunden.
Erzähler:
Viktor Belasch, Machnos Generalstabschef hat die Szene beschrieben:
Sprecher:
Zu der Zeit gab es noch kein medizinisches Personal bei den Truppen. Der Zug
Machnos stand vor dem Bahnsteig und um die Lokomotive herum sammelte sich das
Volk. Machno schrie: „In den Kessel mit ihm, diesem behaarten fetten Teufel!“ Wir
näherten uns und sahen wie Schtschüs, Lutyj und Lenetschenko an der Lokomotive
um einen außergewöhnlich dicken, bärtigen Alten hantierten. Der kniete vor dem
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Kessel der Lokomotive. Schtschüs öffnete die Tür und wandte sich an ihn: „So, du
arbeitest für unsere Feinde? Verbreitest die Angst vor den Höllenqualen im Jenseits?
Dann erlebe sie schon im Diesseits! Kriech rein!“ Alle sind still geworden. Der
Geistliche wehrte sich, aber kräftige Arme bezwangen seinen Widerstand. Zuerst
verschwand der Kopf. Seine Arme flatterten. Dann verschwanden auch die Beine.
Dunkler Rauch stieg aus dem Kamin auf. Dann kam der Brandgeruch dazu. Die
Zuschauer spuckten schweigend aus und bewegten sich ein paar Schritte zur Seite.
Es hatte sich herausgestellt, dass der Pope unter den Aufständischen agierte und sie
dazu aufrief im Namen Gottes und der Menschlichkeit mit dem Krieg gegen die
Deutschen aufzuhören. Die Deutschen seien eine kluge, kultivierte und gebildete
Nation. Uns brächten sie Kultur und Ordnung. Und das sei genau das was uns fehle.
Er schüchterte die Verletzten ein; wenn sie nicht auf ihn hörten, würden sie in der
Hölle schmoren. Machno wurde gemeldet, er sei vermutlich ein Spion, der für die
Deutschen propagiere. Machno gab den Befehl den Geistlichen vor aller Augen in
der Lokomotive zu verbrennen.
Sprecher
Das Paradoxe an Machnos Persönlichkeit war, dass dieser sehr willensstarke
Mensch mit außergewöhnlichem Charakter einigen Schwächen und Verführungen
nicht widerstehen konnte.
Erzähler:
Der russisch-französische Anarchist Wollin war ein Weggefährte Machnos und
kannte ihn gut.
Sprecher:
Unter Alkoholeinfluss wurde er böse, gereizt, ungerecht, unerträglich, grob, er hörte
auf für sein Handeln verantwortlich zu sein, er verlor die Selbstkontrolle. Danach
änderte sich das Verhalten des Armeekommandanten auf seltsame Art und Weise.
Die Willkür, die Unvernunft und die diktatorischen Auswüchse wurden ersetzt durch
Ruhe, Besonnenheit und Voraussicht. Die persönliche Würde kehrte zurück, auch die
Selbstkontrolle und der Respekt vor den Anderen und der gemeinsamen Sache.
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Sprecherin:
War Machno ein Säufer, wie Wollin ihn beschrieben hat? Ich glaube es nicht. In den
drei Jahren meines Aufenthaltes in Paris habe ich ihn nie betrunken gesehen. Und
ich traf ihn oft. Sicher hat er als Heeresführer getrunken, wohl so viel wie jeder
ukrainische Bauer im Alltag trinkt.
Erzähler:
Ida Mett, eine-französische Anarchistin ebenfalls russischer Herkunft
Sprecherin:
War Machno ein aufrichtiger Mensch, der Gutes für das Volk wollte oder ein
zufälliges Element, durch das Schicksalsspiel in das Dickicht der Ereignisse gespült?
Ich denke, sein Streben nach sozialer Gerechtigkeit war aufrichtig und unterliegt
keinem Zweifel. Doch es scheint mir, dass er seiner Rolle als Volksrächer am
meisten entsprach.
Musik Wolfsjagd, W. Wyssozki
Losgerannt und so schnell wir nur konnten,
Aber anders als gestern ging es aus.
Zwar versperrte man mir alle Fronten,
doch man ging ohne Beute nach Haus.
Erzähler:
Im November 1920 ging Machno eine Allianz mit den Bolschewiki ein, um die
Weißen unter General Wrangel auf der Krim anzugreifen. Machno schickte eine
seiner besten Einheiten. Und die kämpfte erfolgreich an vorderster Front. Nach
diesem Sieg war der Ausgang des Bürgerkriegs in Russland entschieden: was von
der Weißen Armee übrig war, floh ins Ausland. Doch die Allianz der Moskauer
Machthaber war nur taktischer Natur gewesen: Unmittelbar nach der Schlacht
lockten Rotarmisten über 2.000 Machnowzy in einen Hinterhalt und erschossen sie.
Musik „Reverso“ Alva Noto & Ryuichi Sakamoto
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Sprecher:
Den roten Machthabern im Kreml war die Machno-Bewegung von Anfang an ein
Dorn im Auge.
Erzähler:
Rudolf Rocker
Sprecher:
Schon deshalb, weil sie schwer verwinden konnten, dass außerhalb der
bolschewistischen Diktatur noch eine große und mächtige Volksbewegung bestand,
die entscheidende militärische Erfolge zu verzeichnen hatte. Solange die
Bolschewisten von der Gegenrevolution selbst noch schwer bedroht waren, konnten
sie es natürlich nicht wagen, gegen Machno und seine Anhänger zu einem großen
Schlag auszuholen.
Erzähler
Nestor Machno und seine Anhänger wurden unter dem Motto „Liquidation des
Partisanentums“ im ganzen Land gejagt und gnadenlos verfolgt. Die Verluste unter
den Machnowzy waren enorm. Zudem legten immer mehr aufständische Bauern die
Waffen nieder und gingen nach Hause: denn die 1921 proklamierte Neue
Ökonomische Politik Lenins gestattete es den Bauern einen Teil ihrer Produkte auch
im freien Handel zu Marktpreisen zu verkaufen. In seiner letzten Rede im August
1921 appellierte Machno eindringlich und beinah prophetisch an seine Mitkämpfer:
Sprecher
Genossen! Gebt die Waffen nicht ab! Vertraut den Bolschewiki nicht. Der
Kommunismus, den wir anstreben, verlangt die Freiheit der Persönlichkeit,
Gleichheit, Selbstbestimmung, Eigeninitiative. Aber die Bolschewiki haben das nicht
zugelassen. Den Kampf der Ideen verwandelten sie in einen Kampf zwischen den
Menschen. Sie haben alle Parteien, alle Konkurrenten vernichtet. Diese
halbmilitärische Sekte der Marx-Soldaten, mit ihrer blinden Disziplin, dem Anspruch
auf Fehlerlosigkeit, duldet keinen Widerspruch und hat einen totalitären Staat zum
Ziel, ohne Freiheiten und Rechte der Bürger, sie erschafft eine Polizei-Gesellschaft,
die elendste, die ungerechteste Gesellschaft, in der jede Freude an der Arbeit, jede
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Schaffenslust, jede Eigeninitiative ausgeschlossen sind. Ihre Herrschaft wird eine
verantwortungslose Generation von Demagogen und Diktatoren ausspucken. Sie
wird alle und alles vernichten, was nicht ihrer Partei oder Ideologie entspricht…
Erzähler
1921 war die Machnobewegung am Ende. Viele ehemalige Kämpfer, die die Waffen
niedergelegt hatten, wurden von den neuen Machthabern erschossen. Die
versprochene Amnestie war nichts wert. Die wenigen Überlebenden kamen
spätestens bei stalinistischen Säuberungen in den dreißiger Jahren um. Unter ihnen
auch Viktor Belasch und Arschinow. Letzterer war 1934 aus dem Exil in Paris in die
Sowjetunion zurückgekehrt. Machno selbst rettete sich im August 1921 mit seiner
Frau und ein paar Dutzend Genossen über die Grenze nach Rumänien und wurde
dort in einem Lager interniert. Die sowjetische Regierung verlangte seine
Auslieferung. Die rumänischen Behörden wollten sich weder von den Sowjets
erpressen lassen, noch es sich mit ihnen verderben. Die salomonisch-rumänische
Lösung: Machno soll fliehen. Er fuhr mit seiner Frau nach Polen, wo sie bald
verhaftet und beschuldigt wurden, einen Aufstand in Ostgalizien vorbereitet zu
haben. Im Gefängnis kam die Tochter Elena zur Welt. Nach dem Freispruch zog
Machno weiter nach Danzig und wurde erneut interniert. Nun von den deutschen
Behörden. Ihm wurden Straftaten gegen deutsche Kolonisten zur Last gelegt. 1924
floh Machno über Berlin nach Paris, wo er bis zu seinem Tod 1934 blieb.
Musik „Reverso“ Ende weiter Musik „Anarchie Pour Le UK“ Sex Pistols
Sprecher
Machnos Aufenthalt in Paris gestaltete sich zu einem langen peinvollen Niedergang.
Die Unkenntnis der Sprache und die neue, fremdartige Umgebung, in die er sich
nicht einzufinden wusste, machten ihm die Lage doppelt schwer. Er war krank und
lebte unter sehr kärglichen Verhältnissen, die ihn auch moralisch schwer bedrückten
und ihm seine letzten Jahre vergällten.
Sprecher
Ich war von seiner Erscheinung geschockt.
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Erzähler:
Alexander Berkmann traf Nestor Machno in Paris
Sprecher
Der Sturm und Stress des jahrelangen Kampfes, physische und psychische Leiden
hatten den starken Anführer der Aufständischen zum Schatten seiner selbst werden
lassen. Sein Gesicht und Körper waren von Wunden übersät, sein zerschmetterter
Fuß ließ ihn lahmen. Das Leben im Exil war nichts für ihn; er fühlte sich seinen
Wurzeln entrissen und sehnte sich nach seiner geliebten Ukraine.
Sprecherin
Ich erinnere mich, wie Machno in meiner Anwesenheit von seinem Traum erzählte.
Das war im Herbst 1927 während eines Spaziergangs im Wald bei Paris. Das gute
Wetter und die ländliche Umgebung müssen ihn wohl in eine poetische Stimmung
versetzt haben.
Sprecher
Ich kehre nach Gulajpole zurück, bestelle das Land. Es ist ein friedliches und
beständiges Leben. Verheiratet bin ich mit einer jungen Frau aus dem Dorf. Mir
gehört ein zuverlässiges Pferd und gutes Sattelzeug. Auf dem Jahrmarkt verkaufen
wir unsere gute Ernte und kehren am Abend nach Hause zurück. In der Stadt
machen wir Halt und kaufen Geschenke.
Sprecherin
Er war von seiner Erzählung so hingerissen, dass er gänzlich vergaß, dass er nicht in
Gulajpole war, sondern in Paris, dass er kein Land, kein Haus, keine junge Frau
hatte. Zu der Zeit war er von seiner Frau Galina bereits getrennt oder schon wieder
getrennt. Sie gingen öfters auseinander, und kamen Gott weiß aus welchen Gründen
wieder zusammen.
Erzähler
Die letzten 4 Monate seines Lebens verbrachte Machno im Krankenhaus. Er litt an
Knochentuberkulose und den Folgen von 14 Kriegsverletzungen.
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Sprecherin
Mein Mann lag mit halb geschlossenen Augen im Bett. Er war sehr blass. Einige
Kameraden waren bei ihm. Ich küsste ihn auf die Wange. Er öffnete die Augen und
wandte sich mit schwacher Stimme an unsere Tochter: „Bleib gesund und glücklich,
mein Töchterchen“. Dann schloss er die Augen und sagte: „Entschuldigt mich,
Freunde, ich bin sehr müde, ich möchte einschlafen.“
Erzähler
In der Nacht zum 25. Juli 1934 starb Machno im Hospital Tenon in Paris.
Er wurde auf dem Friedhof Père Lachaise begraben.
Russische Rockgruppe E.S.T. singt von Machno „Erinnert euch an mich“
Verdammt mich, ihr sollt mich verdammen,
wenn ich auch nur ein Wort gelogen,
erinnert euch an mich, erinnert,
bin für euch in den Krieg gezogen.
Für euch, unterdrückte Bruderschaft,
für freies und würdiges Leben.
Warum nur wendet ihr euch ab,
Mein Leben hab ich euch gegeben.
Mein Lied ist mitnichten ein Vorwurf
dem Volke; das würd ich nicht wagen.
Weshalb fühle ich mich so einsam?
Ich kann’s nicht verstehen noch sagen.
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Absage:
„Erinnert Euch an mich“
Nestor Machno und seine ukrainische anarchistische Volksarmee
Ein Feature von Mark Zak
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017.
Es sprachen: Matthias Haase, Hendrik Stickan, Mark Zak, Philipp Schepmann,
Thomas Balou Martin, Susanne Flury, Anja Bilabel und Kerstin Fischer
Ton und Technik: Gunther Rose und Angelika Brochhaus
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Redaktion: Karin Beindorff
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