"PolitCIGs" zieht Bilanz zur Kulturgeschichte der - Friedrich

URL: http://www.uni-jena.de/Mitteilungen/PM170306_Zigarette_Gries.pdf
Vom "sozialen Vergnügen" zum Sargnagel
Forschungsverbund "PolitCIGs" zieht Bilanz zur Kulturgeschichte der
Zigarette
Die Zeiten, als der "Marlboro Cowboy" noch unbeschwert über die Kinoleinwand ritt und sich
genüsslich eine Zigarette anzündete, sind vorbei. Statt mit Freiheit und Abenteuer würden die
meisten Menschen seine Botschaft heute mit Raucherhusten und Lungenkrebs verbinden. Das
einst so lässig-weltläufige Rauchen hat seine Faszination eingebüßt - Rauchen ist nicht mehr chic.
"In den öffentlichen Debatten wird die Zigarette gerade zu Grabe getragen", sagt Prof. Dr. Rainer
Gries von der Universität Jena. Der Historiker und Kommunikationswissenschaftler leitete den vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten, interdisziplinären Forschungsverbund
"PolitCIGs", in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Jena, des Museums
der Arbeit in Hamburg und der Sigmund Freud Privatuniversität Wien gemeinsam seit Oktober
2013 drei Jahre lang die politischen Dimensionen des Rauchens und der Zigarette erforscht
haben.
"Unsere Kardinalfrage lautete: "Was genau ist das offen Politische und wo finden wir das versteckt
Politische beim Rauchen im 20. und 21. Jahrhundert?", so Rainer Gries.
Geschichts- und Sozialwissenschaftler sowie Psychologen verfolgten gemeinsam den Wandel der
Gestalt und die Dynamik der Bedeutungen dieses flüchtigen Produktes seit dem 19. Jahrhundert.
Während die Zigarette im Kaiserreich als Genussmittel der Moderne galt, war sie den Soldaten in
den Schützengräben der Weltkriege eine unverzichtbare "Kameradin". Die Forscher deckten die
transnationalen Beziehungsgeflechte zwischen Tabakanbaugebieten, industriellen Vertretern und
Konsumenten im 20. Jahrhundert auf, die sich in der Zigarette verdichteten. Sie zeichneten ihren
alltagskulturellen und politischen Stellenwert in der DDR ebenso nach wie den gesundheitspolitisch
induzierten Imagewandel in der Bundesrepublik.
Die Ergebnisse wurden in einer verbundeigenen Buchreihe gebündelt, in der jetzt zwei neue
Bände erschienen sind: "Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines
deutschen Produkts" (Band 2) und "Als die Zigarette giftig wurde. Ein Risiko-Produkt im
Widerstreit" (Band 3).
Dr. Gerulf Hirt, der Hauptautor des dritten Bandes, verweist auf den tiefgreifenden Wandel, den die
Zigarette in relativ kurzer Zeit durchlaufen hat: "Wir spüren nicht nur der gesellschaftlichen,
ökonomischen und politischen Ebene nach, sondern schauen auch, wie tief und facettenreich sich
die gesundheitspolitisch motivierte Kritik insbesondere seit den letzten fünfzig Jahren in die
Produktsprache der Zigarette eingeschrieben hat." Es gehe nicht nur darum, wie die kommerzielle
Werbung immer wieder auf sich ändernde Rahmenbedingungen reagierte, sondern auch um die
Frage, wie sich Verpackungen, Zigarettenpapiere, Filter, Tabakmischungen und deren Inhalts- wie
Zusatzstoffe veränderten und wie diese Modifikationen von Konsumentinnen und Konsumenten
wahrgenommen wurden - so Gerulf Hirt.
Vom "sozialen Vergnügen" zum Sargnagel
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Die "American-Blend-Tabake" lösen die "Orient"-Zigarette ab
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte zunächst der Wandel von der reinen "Orient"-Zigarette hin
zur sogenannten American-Blend zu den radikalsten Revolutionen dieses "Risiko-Produkts". Die
neue Tabakmischung zwang die Raucher, tiefer zu inhalieren, was wiederum eine graduell höhere
Abhängigkeit zur Folge hatte. Außerdem erhöhten sich damit die gesundheitlichen Risiken des
Rauchens. Eine weitere janusköpfige Innovation war der Filter: Er suggerierte vordergründig zwar
einen gewissen Schutz, doch zugleich räumten die Hersteller damit die Giftigkeit ihres Produkts
ein. Überdies ist seit den 1990er Jahren zumindest in medizinischen Fachkreisen bekannt, dass
mikroskopisch winzige Fragmente von Zelluloseacetatfiltern beim Rauchen mitinhaliert werden.
"Diese Fasern sind potenziell krebserregend", sagt Gerulf Hirt.
Dr. Sandra Schürmann, die Hauptautorin des zweiten Bandes, hat die transnationalen
Beziehungen der deutschen Zigarette in den Blick genommen. Diese reichten vor dem Zweiten
Weltkrieg in den Orient und auf den Balkan, aber auch nach Österreich, Frankreich, Russland und
Polen. "Damals gehörte der Orient vollends zum deutschen Selbstverständnis", berichtet Sandra
Schürmann. Neu und erstaunlich sei gewesen, welch hohen Stellenwert in den 1920er-Jahren
Zigaretten nach polnischer und russischer Art, sogenannte Papirossi, auf dem deutschen Markt
hatten. Aber auch orientalische, türkische, griechische, französische oder amerikanische Anklänge
hätten die deutschen Raucher bei "ihren" Zigaretten sehr geschätzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg
habe die Zigarette dann mehr und mehr transatlantische Bezüge aufgerufen - die Tabake und die
Mythen des Orients wurden durch diejenigen der Vereinigten Staaten ersetzt. Diese
selbstverständliche Integration vielfältiger Einflüsse aus anderen Kulturen mache die Geschichte
der deutschen Zigarette gerade aus aktueller Sicht höchst aufschlussreich.
Über die akribische Auswertung einer Vielzahl von Quellen hinaus beschritten die Wissenschaftler
auch neue Wege bei ihren Untersuchungsmethoden: So wurde, wie Prof. Gries erläutert,
beispielsweise das Zeitzeugen-Interview um eine materielle Facette erweitert: "Wir untersuchten
die Bedeutung von Objekten mit Hilfe von Objekten: Wir legten unseren Gesprächspartnern
Zigarettenpackungen aus ihrem Raucherleben vor und verfolgten gespannt, was diese
Konfrontationen bei ihnen auslösten."
Bei aller kritischen Faszination für das "Kulturgut Zigarette" sind die Wissenschaftler skeptisch, was
die Zukunft des "Glimmstängels" angeht. Sandra Schürmann kann sich vorstellen, dass die
Zigarette als Massenprodukt ausgedient hat: "Vielleicht wird es die Zigarette weiter als
Nischenprodukt geben, womöglich handgefertigt und aus Öko-Tabaken."
Bibliographische Angaben:
Sandra Schürmann, Christoph Alten, Gerulf Hirt, Stefan Knopf, Evelyn Möcking, Dirk Schindelbeck,
Merle Strunk: "Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen
Produkts", Jonas Verlag, Kromsdorf/Weimar 2017, 192 Seiten, 76 Abbildungen, 25 Euro, ISBN:
978-3-89445-528-6
Gerulf Hirt, Christoph Alten, Stefan Knopf, Dirk Schindelbeck, Sandra Schürmann: "Als die
Zigarette giftig wurde. Ein Risiko-Produkt im Widerstreit", Jonas Verlag, Kromsdorf/Weimar 2017,
192 Seiten, 75 Abbildungen, 25 Euro, ISBN: 978-3-89445-529-3
Kontakt:
Prof. Dr. Rainer Gries
Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Forschungsverbund "PolitCIGs" zieht Bilanz zur Kulturgeschichte derZigarette
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Fürstengraben 13, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944400
E-Mail: [email protected]
Meldung vom: 06.03.2017 10:28 Uhr
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