Den ganzen Beitrag lesen

Alles schon fair? Mit Recht zu einem inklusiven Arbeitsmarkt!
2.2 Das AGG in der betrieblichen Praxis
Für viele Betriebe in Deutschland ist es schon lange normaler Alltag, mit Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher
Herkünfte zusammenzuarbeiten. Und doch gibt es beim Zugang zu und im Unternehmen auch weiterhin Barrieren,
Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber Arbeitnehmenden aus Einwandererfamilien.
Die folgenden Beiträge beleuchten Ausmaß sowie Wirkungsweisen betrieblicher Diskriminierung und sie erläutern,
welche Gruppen besonders betroffen sind. Gezeigt wird aber auch, wie das AGG vor solchen Diskriminierungen
schützen kann, was in konkreten Diskriminierungsfällen getan werden kann und wo noch Schutzlücken beziehungsweise Verbesserungsbedarfe für eine AGG-Reform bestehen.
Albert Scherr
2.2.1 Diskriminierung beim Zugang zu Ausbildung und Arbeit
Gründe und Mechanismen betrieblicher Diskriminierung von migrantischen Bewerberinnen und Bewerbern
sowie Minderheitenangehörigen
Für eine gelingende Teilhabe und Inklusion von Bürgerinnen
und Bürgern aus Einwandererfamilien ist der Zugang zu Ausbildung und Arbeit von entscheidender Bedeutung. Sie ist
essentielle Voraussetzung für gute Teilhabechancen in vielen
anderen wichtigen Lebensbereichen. Aber weiterhin weisen
zahlreiche Studien und Befragungen auf ein bedeutsames
Maß an Diskriminierung und Rassismus auf dem Arbeitsmarkt und in Betrieben hin.
Dieser einführende Beitrag von Prof. Dr. Albert Scherr beleuchtet Ausmaß, betroffene Gruppen, Wirkungsbereiche
und betriebsinterne Mechanismen und Logiken betrieblicher
Diskriminierung. In einem Ausblick diskutiert er Schlußfolgerungen für erfolgsversprechende Gegenstrategien.
Für die Lebenschancen jedes Einzelnen, für die gesellschaftliche Integration und Partizipation von Migrantinnen und Migranten sowie Minderheiten kommt der
Erwerbsarbeit zweifellos eine zentrale Bedeutung zu.
Denn nach wie vor ist die Gesellschaft eine Arbeitsgesellschaft, in der Erwerbsarbeit nicht nur die zentrale
Einkommensquelle ist. Auch der soziale Status ist entscheidend von der beruflichen Stellung abhängig und
ein großer Teil der Lebenszeit Erwachsener wird mit
einer Arbeit verbracht, die körperlich und psychisch
als mehr oder weniger belastend, als mehr oder weniger sinnvoll erlebt wird. Oskar Negt (2001) akzentuiert, dass menschliche Würde und Arbeit positiv wie
negativ zusammenhängen: Arbeit kann als Beschädigung der Autonomie und der Selbstachtung erlebt
werden, als fremdbestimmter Zwang oder aber als
34 eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung.
Diskriminierung beim Zugang
zu Ausbildung und Arbeit,
aber auch bei der Zuweisung
von Positionen in den Hierarchien der Arbeitswelt, stellt
damit eine nicht rechtfertigbare Ungleichbehandlung mit
weitreichenden Folgen dar
und widerspricht auch dem
gesellschaftlichen Grundsatz
der leistungsgerechten Vergabe sozialer Positionen.
Gleichwohl findet eine Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt statt, in der Nationalität, Ethnizität und auch rassistische Konstrukte wirksam werden. Dies gilt ganz offenkundig zunächst für
diejenigen Formen von legaler Diskriminierung, die in
rechtlich zulässiger Weise an das Merkmal der Staatsangehörigkeit anknüpfen und eine Privilegierung von
Drittstaatenangehörigen gegenüber den Staatsbürgerinnen und -bürgern der EU-Staaten vorschreiben. Die
Vorgaben des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
(AGG), die jede Diskriminierung „aus Gründen der Rasse 1) oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer
Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“
verhindern oder beseitigen sollen, führen faktisch
nicht dazu, dass Benachteiligungen von migrantischen
Bewerberinnen und Bewerbern sowie Minderheiten-
Förderprogramm IQ
angehörigen umfassend überwunden werden. Dies ist
– obwohl die verfügbaren Daten unzureichend sind –
empirisch nachweisbar. Unbestreitbar ist unter anderem, dass Bewerberinnen und Bewerber mit türkischen und arabischen Namen bei Bewerbungen
geringere Chancen haben, dass circa ein Drittel aller
Betriebe in Umfragen angibt, keine kopftuchtragenden
Muslima einzustellen und über zehn Prozent generell
keine Muslime (s. Tabelle).2) Dagegen liegen bislang
keine verlässlichen Daten zu einer rassistischen Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe vor und zum
Beispiel auch nicht zur Diskriminierung von Sinti und
Roma, obwohl für beide Fälle anzunehmen ist, dass
gesellschaftlich verbreitete Vorurteile auch in Betrieben einflussreich sind.3)
Ablehnung der Einstellung kopftuchtragender
Muslima nach Betriebsgröße4)
Betriebsgröße bis 10 Mitarbeitende
48,2 %
11 bis 49 Mitarbeitende
37,3 %
50 bis 499 Mitarbeitende
21,2 %
Über 500 Mitarbeitende
15,2 %
Ablehnung der Einstellung von Jugendlichen, die
den Islam praktizieren, nach Betriebsgröße
Betriebsgröße bis 10 Mitarbeitende
18,0 %
11 bis 49 Mitarbeitende
13,3 %
50 bis 499 Mitarbeitende
6,0 %
Über 500 Mitarbeitende
6,5 %
Im Folgenden wird aufgezeigt, warum dies der Fall ist
und welche Konsequenzen daraus für die Antidiskriminierungspolitik zu ziehen sind.
Gegen wen richtet sich Diskriminierung?
Die entscheidenden Akteure von Diskriminierung auf
dem Arbeitsmarkt sind Betriebe. Als Organisation treffen sie Personalentscheidungen in Abhängigkeit von
betriebswirtschaftlichen Kalkülen. Dies geschieht mit
sehr unterschiedlichen Auswahlverfahren, die – zum
Beispiel in Abhängigkeit von der Betriebsgröße – mehr
oder weniger formalisiert sind. In Hinblick auf betriebliche Diskriminierung sind dabei drei Aspekte zu unterscheiden:
ƒƒ Erstens werden beim Zugang zu Ausbildungs- und
Arbeitsplätzen Benachteiligungen verfestigt, die in
der schulischen Bildung hergestellt wurden. Diejenigen Gruppen, die in der Schule benachteiligt wurden, treten in den Arbeitsmarkt mit schlechteren
Qualifikationen ein und es gilt bekanntlich nicht als
Aufgabe der Betriebe, schulisch bedingte Benachteiligungen auszugleichen. Zahlreiche Studien haben nachgewiesen, dass Schulen diejenigen benachteiligen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft
schlechtere Ausgangsbedingungen haben. Zudem
gibt es Hinweise darauf, dass Nationalität und Ethnizität in Schulen zu Diskriminierung führen. Ein
erheblicher Teil der Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt, die mit der Unterscheidung Einheimische versus Personen mit Migrationshintergrund
erhoben werden, können deshalb nicht ursächlich
der Betrieben angelastet werden, sondern werden
im schulischen Bildungssystem erzeugt und als indirekte Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt
fortgeschrieben.
ƒƒ Zweitens muss es aber als problematisch gelten,
wenn Bewerberinnen und Bewerber um Ausbildungsplätze schon deshalb nicht in Auswahlverfahren einbezogen werden, wenn sie „nur“ über einen
Hauptschulabschluss verfügen, auch dann, wenn der
zu vergebende Ausbildungsplatz formal nur einen
Hauptschulabschluss voraussetzt. Denn dann fungiert die Kategorie „Hauptschüler“ als ein faktisches
Diskriminierungsmerkmal: Bewerberinnen und Bewerbern wird die Möglichkeit verweigert, ihre individuelle Eignung überprüfen zu lassen, sie werden
als Angehörige einer Kategorie betrachtet und als
solche benachteiligt. Insofern handelt es sich um
eine statusbezogene Diskriminierung, die das AGG
zulässt, weil dort weder der soziale Status – der wiederum die Bildungschancen beeinflusst – noch der
BiIdungsstatus selbst als rechtlich relevante Diskriminierungsgründe vorgesehen sind.5)
ƒƒ Drittens liegt eine eigenständige und rechtlich unzulässige direkte betriebliche Diskriminierung dann
vor, wenn Bewerberinnen und Bewerber um Ausbildungs- und Arbeitsplätze aufgrund eines der im AGG
genannten Kriterien benachteiligt werden.
Im vorliegenden Zusammenhang ist diesbezüglich festzustellen, dass im AGG (§ 1) nicht die in der amtlichen
Statistik sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch inzwischen übliche Kategorie Migrationshintergrund genannt wird, sondern drei Kategorien, die damit zusammenhängen können: „Rasse“ 6), ethnische Herkunft,
Religion und Weltanschauung. Diese Kategorien betreffen aber auch einheimische Minderheiten (etwa:
Afrodeutsche, Sinti, deutsche Muslima und Muslime),
während Nationalität nicht als Kriterium genannt ist,
da Unterscheidungen nach Staatsangehörigkeit zulässig und rechtlich vorgesehen sind.
Darauf bezogen kann mit einem Blick auf die verfügbaren empirischen Daten – im Sinne empirischer fundierter Hypothesen, die durch weitere Forschung zu
vertiefen und zu erhärten wären – Folgendes festgestellt werden:
35
Alles schon fair? Mit Recht zu einem inklusiven Arbeitsmarkt!
ƒƒ Für eine Diskriminierung, die generell auf der Unterscheidung Einheimische versus Zugewanderte
basiert, gibt es nur schwache Indizien. Allerdings
deutet sich an, dass ein Teil der Betriebe Bewerberinnen und Bewerber präferiert, die Deutsch als
Muttersprache erlernt haben, was gewöhnlich nur
bei Bewerberinnen und Bewerbern mit Migrationshintergrund nicht der Fall sein dürfte (Scherr/Janz/
Müller 2014).
ƒƒ Deutliche Hinweise finden sich dagegen auf eine
Diskriminierung, die mit ethnisch und religiös gefassten Zuschreibungen operiert. Wirksam werden
zum Beispiel ethno-national gefasste Unterscheidungen, die etwa Spanierinnen und Spanier als unproblematisch einordnen („Europäer wie wir“),
Personen, denen eine „arabische Kultur“ zugeschrieben wird, dagegen als problematische Fremde klassifizieren. Nachweisbar davon betroffen sind, wie
erwähnt, Bewerberinnen und Bewerber, denen ein
türkischer oder arabischer Hintergrund zugeschrieben wird sowie Muslima und Muslime. Die Datenlage gibt Hinweise darauf, dass dies insbesondere in
kleineren und mittleren Betrieben der Fall ist. Zu
berücksichtigen sind aber auch branchenspezifische
Differenzierungen. Betriebe in Branchen wie dem
Hotel- und Gaststättengewerbe können sich eine
diskriminierende Einstellungspraxis in der Regel
schon aufgrund der geringen Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern kaum leisten.
ƒƒ Untersuchungen zu Formen einer rassistischen Diskriminierung, denen biologistische Rassenkonstruktionen zu Grunde liegen, sind nicht verfügbar. Dies
heißt jedoch nicht, dass diese nicht existieren, sondern weist auf ein Forschungsdefizit hin.7)
Warum und wie wird in Betrieben diskriminiert?
Für Betriebe wird angenommen, dass sie Personalentscheidungen rational und ausschließlich unter Leistungsgesichtspunkten treffen. Dies scheint betriebs-
36 wirtschaftlich geboten zu sein, und deshalb wird
gesellschaftlich gerne unterstellt, dass betriebliche
Diskriminierung kein allzu relevantes Phänomen, sondern nur ein irrationales Restphänomen sein kann.
Eine fundierte Analyse betrieblicher Personalentscheidungen kann aber zeigen, dass diese keineswegs vollständig rational erfolgen und auch, dass leistungsfremde Gesichtspunkte eingehen:
Wenn Betriebe Personalentscheidungen vollständig
rational treffen wollten, dann müssten sie umfangreiche Informationen über alle Bewerberinnen und Bewerber erheben, diese nach nachprüfbaren Kriterien
gewichten und auf dieser Grundlage einer Entscheidung ohne Berücksichtigung nicht leistungsrelevanter
Kriterien der Bewerberinnen und Bewerber treffen.
Dies ist aus unterschiedlichen Gründen nachweisbar
nicht der Fall:
ƒƒ Um eine gut begründete und verlässliche Einschätzung der individuellen Leistungsfähigkeit gewinnen
zu können, wären sehr aufwändige Verfahren der
Informationsgewinnung erforderlich. Diese müssten
zudem Prognosen für die Zukunft ermöglichen, was
prinzipiell nicht verlässlich möglich ist. Da jedoch
nur ein begrenzter Aufwand betrieben werden kann,
verlassen sich Betriebe vielfach auf Hilfsindikatoren,
wie zum Beispiel auf Schulnoten, um zu einer Einschätzung zu gelangen oder verwenden indirekte
Kriterien, beispielsweise sportliche Aktivitäten, als
Indizien für die generelle individuelle Leistungsfähigkeit und -bereitschaft. Die Verwendung ethnischer nationaler Stereotype, die mit Annahmen über
vermeintlich typische Eigenschaften einhergehen,
folgt der gleichen Logik: Es gilt dann – wenn man
von der Plausibilität jeweiliger Stereotype überzeugt ist – als wahrscheinlich8), dass Bewerberinnen
und Bewerber ethnisch, religiös, rassistisch oder
national gefasster Gruppen typischerweise bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel unzureichende
Sprachkenntnisse haben oder Erziehungsdefizite
Förderprogramm IQ
aufweisen, sodass im Zweifelsfall Bewerberinnen
und Bewerber vorzuziehen sind, die nicht aus diesen
Gruppen stammen.
ƒƒ Betriebe treffen Personalentscheidungen zudem
nicht nur mit dem Blick auf die Leistungsfähigkeit
potenzieller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch im Hinblick auf soziale Verpflichtungen.
Dies führt dazu, dass bei
der Vergabe von Ausbildungsstellen Mitarbeiterund Kundenkinder informell bevorzugt werden.
Dies geschieht zum Beispiel
dadurch, dass sie auch dann
zu Auswahlverfahren zugelassen sind, wenn ihre
schulischen Leistungen eigentlich unzureichend sind.
Es ist in der betrieblichen
Perspektive durchaus rational, Kinder und Verwandte von bewährten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen, denn dies
stellt einen kostengünstigen Bonus und damit ein
Motivationsanreiz für die Mitarbeitenden dar. Zudem können potenzielle Probleme und Konflikte mit
neuen Mitarbeitenden dann auch informell geklärt
werden, indem die bewährten Mitarbeitenden als
Vermittlerinnen und Vermittler einbezogen werden.
Bei Betrieben mit einer überwiegend einheimischen
Belegschaft führt auch dies zu einer Benachteiligung
migrantischer Mitarbeitender. Insbesondere bei
kleineren und mittleren Betrieben werden auch Verpflichtungen gegenüber dem weiteren sozialen Umfeld wirksam. In einem im Hinblick auf die Herkunft
weitgehend homogenen sozialen Umfeld führt dies
zu einer Bevorzugung einheimischer Bewerberinnen und Bewerber gegenüber Migrantinnen und
Migranten.
ƒƒ Für Betriebe ist nicht nur die individuelle Leistungsfähigkeit potenzieller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Auswahlkriterium, sondern auch ihre
Akzeptanz durch die Mitarbeitenden und Kundschaft. Denn moderne Betriebe verstehen sich als
Leistungsgemeinschaften, in denen die Kooperation
und Kommunikation zwischen den Mitarbeitenden
von zentraler Bedeutung für den Betriebserfolg ist.
Zudem ist ein erheblicher Teil betrieblicher Arbeitsplätze mit Kundenbeziehungen verknüpft. Diskriminierung kann also dann eine betriebswirtschaftlich
rationale Strategie sein, wenn es Gründe gibt anzunehmen, dass potenzielle Mitarbeitende mit bestimmten Merkmalen innerhalb der Belegschaft
und/oder bei der Kundschaft auf Akzeptanzprobleme stoßen. Diesbezüglich entscheiden Betriebe
nicht auf einer fundierten Informationsgrundlage,
sondern aufgrund der oft wenig fundierten Einschätzung der Verantwortlichen, wer bei Mitarbeitenden oder Kundinnen und Kunden auf Akzeptanzprobleme stoßen könnte.
ƒƒ Ein weiteres Auswahlkriterium ist die Passung zur
Betriebskultur. Das heißt: Inhaber und Personalverantwortliche haben Vorstellungen dazu, was ihren
Aus Sicht der Betriebe ist
es unter bestimmten
Bedingungen irrational,
nicht zu diskriminieren
Betrieb im Hinblick auf Kommunikationsstile, informeller Verhaltensnormen usw. kennzeichnet, und
sie präferieren diejenigen Bewerberinnen und Bewerber, bei denen sie eine reibungslose Einpassung
in die Betriebskultur, eine Identifikation mit dem
Betrieb und damit auch die Bereitschaft zu einer
längerfristigen Bindung an den Betrieb annehmen.
Darauf bezogene Entscheidungen sind dann diskriminierungsanfällig, wenn davon ausgegangen wird,
dass der soziale und kulturelle Hintergrund Einfluss
hat auf den Umgang mit den vielfältigen informellen
Normen, die die Betriebskultur kennzeichnen.
Aus der Perspektive der Betriebe betrachtet, ist es vor
diesem Hintergrund durchaus rational, andere Kriterien bei der Personalauswahl zu berücksichtigen, als
die objektiv weniger präzise feststellbare individuelle
Leistungsfähigkeit. Denn Betriebe wissen, dass für die
Kommunikation und Kooperation auch andere Aspekte relevant sind als unmittelbar für die Tätigkeit relevante Fähigkeiten. Deshalb versuchen sie, Bewerberinnen und Bewerber als „ganze Person“ in den Blick zu
nehmen. Diesbezüglich ist es Betrieben bewusst, dass
Einschätzungen komplex sind und letztlich nicht mehr
gänzlich rational getroffen werden. Deshalb wird von
Personalentscheiderinnen und -entscheidern immer
wieder darauf verwiesen, dass das eigene „Bauchgefühl“, die intuitive Einschätzung der Person, mitspielt.
Auch eine solche Intuition ist diskriminierungsanfällig,
da sie ein Einfallstor für interkulturelles Missverstehen
kommunikativer Signale ist.
Deshalb ist es aus der Sicht der Betriebe unter bestimmten Bedingungen irrational, nicht zu diskriminieren. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn davon
ausgegangen wird, dass die Kundinnen und Kunden
von Stereotypen geprägte Erwartungen an die Mitar37
Alles schon fair? Mit Recht zu einem inklusiven Arbeitsmarkt!
beitenden haben, also zum Beispiel von Ressentiments
gegenüber kopftuchtragenden Muslima geprägt sind
und diese Verkäuferinnen nicht akzeptieren würden.
In den von uns geführten Interviews wurde deutlich,
dass betrieblich Verantwortliche zwar durchaus abwägen, welche Bedeutung sie solchen Kalkülen auch dann
zusprechen, wenn sie ihren eigenen politischen und
moralischen Überzeugungen widersprechen. Letztlich
aber gelten die ökonomischen Kalküle als der ausschlaggebende und nicht ignorierbare Faktor.
Im Sinne einer vereinfachenden Zusammensetzung der
verfügbaren Forschungsergebnisse kann folgende Einschätzung formuliert werden: Betriebe sind dann am
ehesten in der Lage, von ethnischen, nationalen und
rassistischen Unterscheidungen abzusehen, wenn sie
in einem heterogenen sozialen Umfeld situiert sind,
über langjährige Erfahrungen mit Mitarbeitenden unterschiedlicher Herkunft verfügen sowie wenn Personalentscheidungen in formalisierten Verfahren nach
nachprüfbaren, sachlich begründeten Kriterien getroffen werden. Dagegen sind solche Betriebe stärker diskriminierungsanfällig, deren Belegschaft weitgehend
homogen aus einheimischen Deutschen zusammengesetzt ist, sich in einem konservativen sozialen Umfeld
vorfindet und bei denen Personalentscheidungen allein auf der Grundlage einer nicht formalisierten Einschätzung von Bewerberinnen und Bewerbern getroffen werden.
Was folgt daraus für Strategien gegen betriebliche Diskriminierung?
Organisationssoziologisch betrachtet stellen die rechtlichen Vorgaben des AGG nur einen unter mehreren
Faktoren dar, die Betriebe bei ihren Personalentscheidungen berücksichtigen, die sie autonom im Hinblick
auf ihre betriebswirtschaftlichen Eigeninteressen treffen. In zugespitzter Weise wird die damit verbundene
Problematik in folgender Aussage einer Betriebsinhaberin deutlich: „Was immer die auch in Berlin beschließen mögen, mein Betrieb ist immer noch mein Betrieb.“ Damit soll keineswegs unterstellt sein, dass
Betriebe typischerweise die rechtlichen Vorschriften
des AGG ignorieren. Deutlich wird hier aber eine auch
im Fall anderer Gesetze nachweisbare soziologische
Einsicht: Tatsächlich wirkungsmächtig werden Gesetze nur dann, wenn sie von den in der sozialen Wirklichkeit handelnden Akteurinnen und Akteuren als
sinnvolle Normen betrachtet werden oder wenn Verstöße gegen die Gesetze mit hoher Wahrscheinlichkeit
aufgedeckt und sanktioniert werden.
Für das AGG lässt sich diesbezüglich feststellen: Die
Chancen der Aufdeckung und der rechtlichen Sanktionierung von Verstößen sind gering, da betriebliche
Auswahlprozesse gegen eine externe Beobachtung
weitgehend abgeschottet sind.9) Entscheidend ist also
38 der Wille von Betrieben, die Normen der Antidiskriminierungsgesetzgebung anzuerkennen und wirksam
umzusetzen. Ist dies der Fall, dann ist dies für größere
Betriebe prinzipiell unproblematisch: Die Umsetzung
des AGG kann in Strategien des Diversity Managements
integriert werden. Konzepte, die auf entsprechende
Trainingsprogramme und Sensibilisierungsmaßnahmen für Personalverantwortliche zielen, können im
Rahmen der betrieblichen Fort- und Weiterbildung
implementiert werden und es besteht die Möglichkeit,
etablierte Auswahlverfahren auf potenziell diskriminierende Faktoren zu überprüfen. Dagegen fehlt es an
Konzepten, die für kleinere Betriebe geeignet sind, die
nicht über ein professionelles Personalmanagement
und keine Ressourcen für eine Überprüfung ihrer Organisationsstrukturen und internen Verfahren investieren können.
Anonymisierte Bewerbungsverfahren, die als ein zentrales Mittel zum Abbau von Diskriminierung vorgeschlagen werden, stoßen bei Betrieben aus nachvollziehbaren Gründen auf Skepsis. Denn wenn es letztlich
darum geht, die Passung der ganzen Person in den
Betrieb zu beurteilen, werden Informationen wichtig,
die nur im direkten Kontakt erhoben werden können.
In der Bewerberinformationen eines industriellen
Großbetriebs wird entsprechend mitgeteilt: „An Ihrem
Interviewtag geht es vorrangig um Ihre Persönlichkeit
und darum, Ihnen die Möglichkeit zu geben, potenzielle Kollegen und [die Firma] als Arbeitgeber kennenzulernen.“ Anonymisierte Verfahren können deshalb
zwar ein größeres Maß an Objektivität in der ersten
Phase von Auswahlverfahren gewährleisten, bleiben
in der zweiten Phase, in der die Person von Bewerberinnen und Bewerbern in den Vordergrund tritt, aber
wirkungslos.
Wie gezeigt reagieren Betriebe auf Erwartungen in
ihrer Umwelt, nicht zuletzt von Kundinnen und Kunden. Betriebliche Personalentscheidungen werden
damit vom gesellschaftlichen Meinungsklima beeinflusst. Insofern sind Maßnahmen, die auf öffentliche
Aufklärung und auf Beeinflussung der politischen
Meinungsbildung zielen, ein wichtiger Beitrag zu Antidiskriminierungsstrategien. Ein Testfall für die Bereitschaft der politisch Verantwortlichen sowie der
Wirtschaftsverbände wäre diesbezüglich die Bereitschaft, eine offensive Kampagne gegen die Diskriminierung von kopftuchtragenden Muslima aufzulegen.
Denn diese sind nachweisbar und unstrittig außerordentlich stark von betrieblicher Diskriminierung betroffen (s. auch Beiträge Gekeler und Shooman in
diesem Dossier).
Versuche des Verfassers, darauf ausgerichtete Kampagnen anzuregen, waren bislang erfolglos. Dies hängt
damit zusammen, dass Politikerinnen und Politiker
sich in ähnlicher Weise an den angenommenen Über-
Förderprogramm IQ
zeugungen ihrer Wählerinnen
und Wähler orientieren, wie
Betriebe an denen ihrer Belegschaften und Kundinnen
und Kunden. Wer jedoch Konflikte mit denjenigen Teilen
der Bevölkerung vermeiden
will, die vorurteilshafte Überzeugungen haben, ist als Akteurin oder Akteur von Antidiskriminierungsstrategien
nur begrenzt geeignet. Verfestigte Vorteile und diskriminierende Praktiken können
aber nur dann wirksam aufgebrochen werden, wenn
alle relevanten Akteurinnen und Akteure Verantwortung dafür übernehmen.
Anmerkungen
1)
Der Gesetzestext lehnt sich an die Formulierungen
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte;
1948 war die kritische Auseinandersetzung mit
dem Kategorie „Rasse“ noch nicht in Gang gekommen, die Existenz von „Rassen“ wurde auch noch in
den Wissenschaften angenommen. In der Kritik
wurde dann seit den 1960er Jahren deutlich, dass
es keine „Rassen“ gibt, die diskriminiert werden,
sondern dass das Denken in Rassenkategorien bereits selbst Bestandteil des Rassismus ist. Darauf,
dass die Formulierung des AGG deshalb unzeitgemäß ist, hat unter anderem das Deutsche Institut
für Menschenrechte hingewiesen (s. auch Beitrag
Sow in diesem Dossier).
2)
Zur Datenlage s. den Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014) sowie die Beiträge in
Scherr (2015).
3)
So stimmen zum Beispiel in Deutschland 30,5 Prozent der Befragten der Aussage zu, „Es gibt eine natürliche Hierarchie zwischen weißen und schwarzen
Völkern“ (Zick 2011: 68).
4)
Datenquelle: Eine 2013 in Zusammenarbeit mit René
Gründer durchgeführte Umfrage des Verfassers: vgl.
Scherr/Janz/Müller 2014.
5)
Eine naheliegende Konsequenz wäre die Forderung,
auf schulische Zeugnisse in Auswahlverfahren zu
verzichten und stattdessen auf eigenständige Überprüfungen der jeweils vorhanden Kenntnisse und
Kompetenzen von Bewerberinnen und Bewerbern
zu setzen. Dies würde jedoch zu einer Entwertung
formaler Bildungsabschlüsse führen sowie zu einer
Steigerung des Aufwands in Auswahlverfahren und
ist deshalb nicht durchsetzbar.
6)
S. dazu Anmerkung 1.
7)
Ob die aktuelle Untersuchung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zur Diskriminierungserfahrungen diesbezüglich aussagekräftig ist, ist aktuell
Prof. Dr. habil. Albert Scherr
geboren 1958, Direktor des Instituts für
Soziologie der Pädagogischen Hochschule
Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Diskriminierungsforschung, Soziologie der Einwanderungsgesellschaft, Bildungsforschung.
Aktuelle Veröffentlichungen u.a.: Handbuch
Diskriminierung, Wiesbaden 2016.
nicht einzuschätzen, da deren Ergebnisse bislang nur
rudimentär veröffentlicht sind.
8)
Die Verwendung solcher Wahrscheinlichkeitsannahmen wird als statistische Diskriminierung bezeichnet.
9)
In unserer Forschung hat sich gezeigt, dass eine teilnehmende Beobachtung an Auswahlverfahren von
Betrieben abgelehnt wird und die Instrumente von
Assessment-Verfahren als Betriebsgeheimnis deklariert werden.
Website von Prof. Dr. Albert Scherr an der FH Freiburg:
www.ph-freiburg.de/en/soziologie/institut/mitglieder/prof-dr-albert-scherr.html
Literatur
ƒƒ Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) 2014
Diskriminierung im Bildungsbereich und im Arbeitsleben. Zweiter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der
Bundesregierung und des Deutschen Bundestages.
Berlin. http://www.antidiskriminierungs¬stelle.de/
SharedDocs/Downloads/DE/publi-kationen/BT_
Bericht/Gemeinsamer_Bericht_zweiter_2013.pdf?__
blob=publicationFile
ƒƒ Negt, O. 2001 Arbeit und menschliche Würde. Göttingen: Steidl Verlag.
ƒƒ Scherr, A. (Hrsg.) 2015 Diskriminierung migrantischer Jugendlicher in der beruflichen Bildung. Stand
der Forschung, Kontroversen, Forschungsbedarf.
Weinheim: Beltz Juventa.
ƒƒ Scherr, A./C. Janz/S. Müller 2014 Diskriminierungsbereitschaft in der beruflichen Bildung Ergebnisse
und Folgerungen aus einer Betriebsbefragung. In:
Soziale Probleme, 24. Jg. H.2, S. 240-266.
ƒƒ Scherr, A./C. Janz/S. Müller 2015 Diskriminierung in
der beruflichen Bildung. Wie migrantische Jugendliche bei der Lehrstellenvergabe benachteiligt werden: Wiesbaden: Springer.
39