Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Die Kälte darf nicht siegen
Gisela Mayer, Mutter eines der Opfer von Winnenden,
über den Umgang mit Gewalt
Das Gespräch führt Almut Engelien
Sendung: Freitag, 10. März 2017, 10.05 Uhr
Redaktion: Petra Mallwitz
Produktion: SWR 2017
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Transkript: „Die Kälte darf nicht siegen“
Almut Engelien:
Gisela Mayer, es ist acht Jahre her, dass Ihre Tochter Nina von dem
siebzehnjährigen Tim Kretschmer erschossen wurde, eine von fünfzehn Ermordeten.
Er kannte sie nicht mal. Sie war Referendarin und vierundzwanzig Jahre alt. Sie
sprechen regelmäßig mit Jugendlichen, die als irgendwie gefährdet oder sogar
gefährlich aufgefallen sind. Wie kommen Sie an diese Jugendlichen?
Gisela Mayer:
Das war eine Maßnahme der Jugendgerichtshilfe, zunächst einmal nur regional, die
auf die Idee kam, dass junge Menschen, die diesen Gedanken, mal mit Amok zu
drohen einfach attraktiv fanden und das dann auch mal gemacht haben, auf
verschiedenen Wegen. Oder aber die unerlaubterweise irgendeine Waffe aus
irgendwelchen Quellen mit sich einmal herumgetragen haben. Die werden dann ganz
deutlich dazu verurteilt, mit mir eine Stunde ein Vieraugengespräch zu führen. Das
führen sie nicht freiwillig und das führen sie auch nicht gerne, das müssen sie tun.
Und dieses Gespräch soll dazu dienen, ihnen ein wenig die Augen zu öffnen, sagen
wir es so.
Almut Engelien:
Was passiert in dieser Stunde?
Gisela Mayer:
Da sitzt ein junger Mensch, dem das im Grunde genommen erst einmal sehr, sehr
unangenehm ist und der fragt, wann er wieder gehen kann.
Almut Engelien:
Wie alt in der Regel?
Gisela Mayer:
Ich habe so den Schwerpunkt, der dürfte etwa bei achtzehn Jahren liegen. Es geht
darum, dass er ein wenig erzählt über seine Motivation. Natürlich müssen wir ihn da
erst einmal lockern im Gespräch, es muss deutlich werden, dass ich nicht die
Anklage bin, dass ich auch nicht der Richter bin und dass ihm aus diesem Gespräch
keine Nachteile entstehen können. Das ist eine gute Basis. Ich erzähle ihm ein wenig
darüber, was passiert ist nach diesem Amoklauf, wie sich das anfühlt. Nicht nur für
Eltern, nicht nur für Angehörige der Opfer, die zu Tode gekommen sind, sondern
auch für die vielen drum herum, die Verletzten, die anderen Schüler. Im Idealfall gibt
es dann Kommentare, die lauten: „Also ich habe es ja schon gewusst, aber das war
immer wie Kino. Jetzt ist das irgendwie wirklich geworden.“ Das sind Dinge, da freue
ich mich, wenn das ein junger Mensch sagt, denn dann weiß ich, hier ist etwas
passiert, hier hat er etwas gesehen. Zum anderen ist der Schwerpunkt natürlich
darauf, dass ich verstehe, was die Motivationslage sein kann. Was sie da reizvoll
finden an diesem Gedanken und ihnen eventuell zu zeigen, dass es andere Wege
geben kann, Frust, Ärger, Aggression abzubauen, dass das ganz bestimmt nicht ein
Weg ist, der zu irgendeiner Lösung führt. Das alles wird in diesem Gespräch
angesprochen, mehr auch nicht.
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Almut Engelien:
Was ist Ihrer Erfahrung nach so der Knackpunkt, damit Sie mit so einem
Jugendlichen wirklich in Kontakt kommen?
Gisela Mayer:
Die Tatsache, dass er hier einem lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut
gegenübersitzt, der fragt, nach seinen Gedanken, nach seinen Motiven.
Almut Engelien:
Worauf achten Sie in so einem Gespräch?
Gisela Mayer:
Ich achte einfach darauf, ob sich sozusagen bei meinem Gegenüber etwas tut. Ob
ich eine Veränderung spüre, ob ich merke, es öffnet sich ein Mensch und es kommt
so etwas wie ein Gespräch zu Stande oder ob ich vor jemandem sitze, der einfach
die Zeit absitzt. Auch solche Menschen habe ich schon bei mir gehabt, die sich vor
wie nach dem Gespräch im Recht fühlen.
Almut Engelien:
Eine Stunde scheint mir unglaublich kurz für so ein Gespräch. Überlegen Sie dann
schon irgendwie mit, wie könnte es hier für diesen Menschen weitergehen oder was
kann man da aufs Gleis bringen?
Gisela Mayer:
Was geschehen kann und was geschehen soll ist ein Anstoß zu geben. Ein Anstoß
für das eigene Nachdenken. Natürlich bekommt die Jugendgerichtshilfe eine
Rückmeldung. Sie können sehen, ob sie gegebenenfalls Kontakt mit der
Schulpsychologie aufnehmen, mit den Beratungslehrern aufnehmen, so dass er dort
weitere Betreuung finden kann.
Almut Engelien:
Die meisten Amokläufe enden damit, dass sich der Amokläufer am Ende selbst
umbringt. Sue Klebold, die Mutter des Columbine-Attentäters Dylan Klebold, spricht
von erweitertem Suizid. Von ihr ist gerade ein Buch erschienen über ihren Sohn und
über diese ganze Katastrophe in den USA vor achtzehn Jahren. Erleben Sie in erster
Linie auch suizidale Jungs und Mädchen?
Gisela Mayer:
Die Jungs und Mädchen, die ich im Gespräch habe, sind nicht suizidal. Das sind ja
auch gar keine Täter in dem Sinn, dass sie ganz kurz vor der Tat stehen. Wobei
natürlich richtig ist, was in diesem Fall Sue Klebold sagt, der Amoklauf ist im Grunde
genommen, so auch der Fachausdruck, ein erweiterter Suizid. Am Ende eines
Amoklaufs steht für den Täter auch die Auslöschung des eigenen Lebens.
Almut Engelien:
Und das machen sich die jungen Leute mit denen Sie sprechen noch gar nicht klar,
dass sie entweder hinter Gittern landen oder in der Psychiatrie oder aber sich selber
umbringen müssen?
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Gisela Mayer:
Nein, das machen diese jungen Menschen sich noch nicht klar. Diesen jungen
Menschen geht es um größtmögliche Aufmerksamkeit, darum wichtig zu sein, darum
wahrgenommen zu werden. Da wird im Allgemeinen an Folgen dieses Handeln
überhaupt nicht gedacht. Und so erklärt sich da auch meine Rolle, ich muss sie aus
ihrer virtuellen Welt, aus der Welt der Gedankenspiele zurückholen in die Realität.
Ihnen deutlich machen, was das eigentlich bedeutet im realen Leben, sowohl für
andere, aber auch was es für sie selbst bedeutet.
Almut Engelien:
Frau Mayer, um solche Gespräche zu führen, müssen Sie ja eigentlich die
Erinnerung an diese grauenhafte Phase in Ihrem Leben, als Sie das alles erfuhren,
als Sie dasaßen und darauf warteten, Ihre Tochter noch anzutreffen, dann wussten,
nein, sie ist tot, dann darum flehten, dass Sie zu ihr können und das wurde Ihnen
verweigert und so weiter. Alle diese Erinnerungen kommen immer wieder hoch. Wie
ist das für Sie, das immer wieder zuzulassen?
Gisela Mayer:
Das ist sicher kein einfacher Weg, sich ständig damit konfrontieren zu müssen, was
damals passiert ist. Aber es ist ja auch nicht bloße Erinnerung. Das ist nicht die
Erinnerung an diesen schrecklichen Tag, sondern das ist das, was ich denke, das ich
weitergeben kann an die Gesellschaft, an die anderen. Diesen Tag kann ich nicht
ungeschehen machen, ich hätte es längst getan, wenn das möglich wäre, aber ich
kann das tun, was ich nicht nur als einen Auftrag an mich sehe, sondern im Grunde
genommen an alle anderen, die in irgendeiner Weise damit in Verbindung stehen.
Das ist eine Aufforderung an uns alle, das, was wir lernen mussten, nicht was wir
freiwillig gelernt haben, weiterzugeben in der Absicht andere zu unterstützen sich
besser vorzubereiten und im idealen Fall natürlich ähnliche Taten zu verhindern.
Almut Engelien:
Sie haben mal gesagt, dass Sie dem Täter der Albertville-Realschule in Winnenden,
dem Tim Kretschmer, dass Sie dem verzeihen konnten. Was heißt das, Sie konnten
ihm verzeihen?
Gisela Mayer:
Verzeihen, von meiner Seite, heißt eher verstehen. Das heißt, worum ich mich
bemüht habe heißt, zu verstehen, wie es geschehen konnte, dass ein Junge
siebzehn Jahre in einem kleinen, ruhigen, schönen, schwäbischen Dorf aufwachsen
konnte, bis er dann, wohlbemerkt er hatte keinen Führerschein, in einem öffentlichen
Bus zu seinem Tatort, zu einer Schule fuhr und begonnen hat seinesgleichen zu
ermorden. Das habe ich getan. Und ich habe erkannt, dass hier viele, viele Dinge
zusammenkommen. Dass er kein Monster, kein monströser Unmensch ist, sondern
dass es eben ein Junge ist und dass sein Leben eine sehr unheilvolle Entwicklung
genommen hat, gleichwohl er aus einem durchaus guten Elternhaus kam, keine
broken home Verhältnisse, er war nicht in Not, er hatte seinen Schulabschluss und
dennoch konnte diese Entwicklung stattfinden. Diese Verstrickung, diesen
Zusammenhang zu verstehen, heißt den ersten Schritt zu gehen, zu verzeihen. Und
auch hier ist es wichtig, dass das Verzeihen nichts ist, was ich selbst intendiert habe,
das heißt, ich habe mich nicht mit dem Täter beschäftigt, um zu verzeihen, um
irgendwie meine Ruhe zu finden, um meinen Frieden mit ihm zu machen, absolut
überhaupt nicht. Es ist nur die Intention gewesen, besser zu verstehen, was hier
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überhaupt geschehen ist und das Verzeihen, das kam sozusagen als Nebeneffekt
mit dem Verstehen. Das heißt nicht, dass für mich die Schuld geringer ist. Das heißt
nicht, dass ich die Rechtfertigung des Täters in irgendeiner Form akzeptieren kann.
Das kann man nicht, für fünfzehnfachen Mord gibt es keine ausreichenden Gründe.
Es ist ein Akzeptieren, dass dieser Mensch in großer Not war, dass auch er versucht
hat, Hilfe zu erlangen, diese aber nicht bekommen hat, wiederrum nicht aus bösem
Willen anderer, sondern eher aus Gleichgültigkeit, aus Unwissenheit.
Almut Engelien:
Können Sie dem irgendwie einen Namen geben, was das Problem von Tim
Kretschmer war, denn der kam ja aus relativ behüteten, sogenannten intakten
Verhältnissen?
Gisela Mayer:
Das ist vollkommen richtig, das ist typisch für Amokläufer. Aber es gibt durchaus
einige Merkmale, die alle Amokläufer vereinen. Es sind alles Menschen mit einer
sehr auffälligen Persönlichkeit, einer psychopathologischen Konstellation, es sind
Narzissten, sie sind sehr, sehr stark auf sich selbst fixiert und es sind Menschen mit
einer extrem hohen Kränkbarkeit.
Almut Engelien:
Also das sind die, die schon mit vier völlig austicken, wenn sie bei Mensch-ärgeredich-nicht verlieren...
Gisela Mayer:
Zum Beispiel.
Almut Engelien:
... und sich über Stunden nicht mehr beruhigen.
Gisela Mayer:
Zum Beispiel. Das sind diese Kinder, die nicht verlieren dürfen, weil sie das einfach
nicht ertragen können. Das sind auch die Schülerinnen und Schüler, die bei einer
ganz schlichten Ermahnung, die da lautet, „du hast mal wieder deine Vokabeln nicht
gelernt, herrje nochmal“, das als eine an ihre Existenz rührende Beleidigung sehen,
die sie auch nie vergessen. Das sind Menschen, die sammeln Beleidigungen,
Kränkungen und das sind oft keine wirklichen Kränkungen, das sind einfach ganz
normale Kritikpunkte, ganz normale Ermahnungen, und die werden gesammelt. So
lange bis der Topf voll ist und dann letzten Endes das Fass eben auch zum
Überlaufen kommt. Es gibt auch die These, die ist mir mancherorts schon begegnet,
dass Amoktäter letzten Endes zuvor Mobbingopfer waren, das ist nicht richtig.
Amoktäter waren aus ihrer subjektiven Sicht allesamt Mobbingopfer, sie fühlten sich
gemobbt. Das heißt nicht, dass, in einem objektiven Zusammenhang, sie tatsächlich
Mobbingopfer waren. Sie waren zweifellos auch nicht die umschwärmten
Cliquenchefs, die tollsten Typen im Klassenverband. Es waren eher die Stillen, die
Zurückgezogenen, nicht ganz Akzeptierten, manchmal etwas Belächelten, es waren
die, die über Jahre hinweg alles, wie man im Volksmund sagt, in sich
hineingefressen haben. Um dann eines Tages mit einem großen Rundumschlag all
diejenigen zu vernichten, denen sie die Schuld dafür geben, dass sie mit dem
eigenen Leben einfach nicht zurechtkommen.
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Almut Engelien:
Wobei ja das Erstaunliche ist, dass sie in der Regel gar nicht die treffen, und auch
gar nicht versuchen zu treffen, die ihnen irgendwie das Leben ihrer Ansicht nach
schwergemacht haben. Also auch Tim Kretschmer hat ja fast ausschließlich
Menschen erschossen, die ihn in diesem Moment zum ersten Mal sahen und er sie.
Gisela Mayer:
Das ist dieses Phänomen des generalisierten Hasses. Das heißt, der Hass auf ganz
bestimmte Personen, die mich piesacken, die mich drangsalieren, das wird
generalisiert auf eine bestimmte Gruppe. Das heißt einmal sind es die Mädchen, weil
ich vielleicht mit irgendwelchen Beziehungen nicht zurechtkomme, einmal sind es
Menschen aus anderen kulturellen Zusammenhängen, Menschen mit
Migrationshintergrund, einmal ist es ein politischer Hintergrund, wie wir das in
Norwegen erleben mussten. Das ist der sogenannte generalisierte Hass. Irgendwann
sind es dann einmal alle und dann ist es ja auch völlig egal, wen ich treffe.
Almut Engelien:
Welche Bedeutung hat es denn für Ihre Gespräche, dass Sie durch diesen Prozess
des Verstehens und dann auch des, in irgendeiner Weise, Verzeihens innerlich
gelaufen sind, das ist ja wahrscheinlich ganz wichtig für diese Gespräche.
Gisela Mayer:
Das ist letzten Endes sogar die Voraussetzung für diese Gespräche, dass ich
versucht habe zu verstehen. Dass ich die Zusammenhänge mir erklären wollte, weil
ich sie einfach nicht hinnehmen konnte. Dieses Verstehen wiederrum ist die
Voraussetzung dafür, dass ich möglicherweise die Motivationslage anderer junger
Menschen, zumindest zu einem Teil, verstehen kann, die mit ähnlichen Gedanken
spielen und dass ich versuchen kann, sie von diesem Weg abzubringen oder ihnen
zumindest die Möglichkeit zu eröffnen, die Dinge auch anders zu sehen.
Almut Engelien:
Wie sehr hat Ihnen das helfen können in diese ganzen Vorgänge mit einem immer
tiefer greifenden Verständnis einzudringen?
Gisela Mayer:
Ich denke, dass das für mich ein hilfreicher und vor allem ein notwendiger Prozess
war. Ich darf jetzt nicht sagen, dass ich diesen Prozess begonnen hätte, damit er mir
helfen sollte. Das heißt, ich habe nicht angefangen nach dem Täter zu fragen, das
habe ich auch sehr spät erst getan, das war längst eineinhalb Jahre nach der Tat, als
Tim Kretschmer zum ersten Mal für mich sozusagen Mensch wurde. Ich hatte diesen
Gedanken lange, lange Zeit völlig ablehnen müssen, um überhaupt ertragen zu
können was geschehen ist. Diesen Prozess habe ich nicht begonnen in der Absicht
irgendetwas zu bewältigen, irgendwie mit meiner Trauer, meinem Kummer, meinem
Trauma besser fertig werden zu können. Dieser Prozess entstand einfach nur aus
einer ganz natürlichen Haltung, meiner natürlichen Haltung, nachzufragen. Wenn ich
Dinge nicht verstehen und nicht akzeptieren kann, versuche ich sie aufzuhellen, um
zu verstehen. Und das war der Ausgangspunkt, mehr nicht.
Almut Engelien:
Haben Sie denn irgendwann mal Kontakt zu den Eltern bekommen von Tim
Kretschmer?
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Gisela Mayer:
Leider hatte ich nie Kontakt zu den Eltern von Tim Kretschmer, so sehr das auch ein
Anliegen von mir war. Ich habe dieses Anliegen über Mittelsmänner auch an die
Eltern herantragen lassen, leider hatte ich nie eine Antwort bekommen. Ich gehe
heute davon aus, dass es den Eltern so schwer fiel mit Eltern sozusagen von der
anderen Seite Kontakt aufzunehmen. Es wäre mir ein Anliegen gewesen.
Almut Engelien:
Ein Problem bei den Columbine-Tätern, vor allem bei dem Dylan Klebold, war, dass
die Mutter und der Vater, eigentlich sehr anteilnehmende, nette, engagierte Eltern,
die Symptome nicht richtig zu deuten gewusst haben. Die haben sehr wohl gesehen,
ihrem Sohn geht es gerade schlecht, aber die Familie war auch in einer schwierigen
Phase, der Vater war sehr krank, viele andere Probleme, sie haben die Dramatik der
Lage nicht entfernt erfasst. Worauf muss man eigentlich achten, gibt es Symptome,
wo man sagen kann, an denen kann man tatsächlich den Ernst einer Gefahr so ein
bisschen erkennen?
Gisela Mayer:
Das war Gegenstand großer, interdisziplinärer Forschungsprojekte von denen das
letzte jetzt gerade im Juni vergangenen Jahres zu Ende ging. Ja, natürlich gibt es
Faktoren. Es ist dieser Rückzug, dieser komplette, immer fortschreitende Rückzug
der jungen Menschen, die die sozialen Kontakte mehr und mehr verweigern. Das
heißt, das sind diejenigen, die sich zurückziehen in ihr Zimmer, die allein sind mit
ihrem PC über Stunden, Stunden, Stunden. Die gegebenenfalls an gemeinsamen
Mahlzeiten nicht mehr teilnehmen, die auch keine Gesprächsthemen mehr haben.
Wir müssen uns vorstellen, die Fantasie verengt sich immer mehr und mehr auf
diesen einen Tag, auf diesen einen Weg, von dem natürlich nicht gesprochen
werden darf. Und auch das ist ein Kennzeichen, dass, wenn man sich so sehr mit
einer Sache beschäftigt, gibt es so etwas ähnliches wie Leaking, das heißt kleine
Sätze, kleine Bemerkungen, die Hinweise sein können. Die kann jeder, die kann die
eigene Familie, die können Lehrer, die können Mitschüler auffangen, wenn sie denn
wissen, um was es sich handelt. Das sind Bemerkungen wie „ich werd’s euch schon
noch zeigen, ich zahl’s euch allen heim, ihr werdet schon noch sehen.“
Almut Engelien:
Das in Zusammenhang mit diesem totalen Rückzug, das ist dann quasi so ein
verdächtiges Bild.
Gisela Mayer:
Das ist so ein Bild mit dem wir uns beschäftigen sollten. Es ist keineswegs schlimm,
wenn junge Menschen mit dem Computer umgehen. Es wird dann auffällig, wenn sie
nichts Anderes mehr tun. Wenn sie andere soziale Kontakte nicht mehr haben
wollen, auch meiden eines Tages. Es ist dann auffällig, wenn jede Bemerkung als
Kränkung empfunden wird, wenn man sozusagen nicht mehr an sie herankommt.
Auch das ist etwas, das einfach geschehen zu lassen und damit zu erklären: „Naja
Pubertät, die ziehen sich zurück.“ Ja, die ziehen sich zurück, aber dennoch darf man
einfach den Gesprächsfaden nicht völlig abreißen lassen. Eltern müssen nicht
Tagebücher kontrollieren, Eltern müssen nicht das Handy kontrollieren, aber sie
müssen im Gespräch bleiben mit ihren Jungen. Und wenn ich an Tim Kretschmer
ganz konkret denke, dann hat dieser Junge doch immerhin seine Eltern deutlich um
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Hilfe gebeten. Er hat gespürt, dass es eine ungute Entwicklung gibt bei ihm selbst, er
hat gebeten um Besuche bei einem Therapeuten. Welcher siebzehnjährige Junge tut
so etwas, ohne wirklich in einer Notsituation zu sein?
Almut Engelien:
Also die Mutter des Columbine-Amokläufers Dylan, Sue Klebold, schreibt einen
Satz, der mir sehr aufgefallen ist in ihrem Buch: „Hätte ich doch mehr zugehört und
weniger gepredigt.“
Gisela Mayer:
Das ist ein sehr guter und sehr wichtiger Satz. Das heißt, sie sagt, sie hat versucht
ihre Welt, ihre Gedanken dem Junge nahezubringen, ohne zu erfassen, was ihn
beschäftigt, was für ihn wichtig ist. Das ist übrigens ein Ratschlag, den ich von
anderen Menschen, Psychologen kenne, die sich sehr viel mit Erziehung
beschäftigen. Die sagen, die täglichen Gespräche mit Kindern und Jugendlichen, die
Nachfrage nach dem, was so in Schule und Freizeit passiert, sollte nicht in eine
Predigt ausarten, sie sollte nicht dazu dienen, das eigene Weltbild dem jungen
Menschen wieder und wieder und wieder vor Augen zu halten, sondern sie sollte
einfach einem wertfreien Zuhören dienen. Die große Kunst ist das Erfassen-Wollen
und die Bereitschaft zu erfassen, was den anderen bewegt.
Almut Engelien:
Ich bin jetzt mit dem Kopf wieder bei diesen Gesprächen. Erinnern Sie ein Gespräch,
was Sie besonders beeindruckt und beschäftigt hat?
Gisela Mayer:
Es sind eher einzelne Momente in mehreren Gesprächen, die mir im Gedächtnis
geblieben sind. Das sind genau diese Augenblicke, in denen mir klar wird, was
diesen jungen Menschen bewegt. In denen ich tatsächlich sagen kann: „Ich verstehe
dich. Ich verstehe deine Wut, ich verstehe deinen Kummer. Ich habe begriffen, was
dich umtreibt. Auch wenn du den falschen Weg wählst, ist es so, dass du Gründe
hast, die bearbeitet werden müssen.“
Almut Engelien:
Was muss denn eine Schule tun, um eine Vorsorge zu treffen, ein besseres Klima zu
haben, eine Aufmerksamkeit zu haben, was ist da nötig?
Gisela Mayer:
Unsere nächstliegende, primäre Aufgabe wäre jetzt das, was man weiß an
Lehrerinnen und Lehrer an Schulen zu bringen, damit diejenigen, die dort arbeiten,
und zwar jeden Tag arbeiten mit den jungen Menschen, wissen auf was sie
überhaupt achten sollten. Es wäre auch ein guter Gedanke, so etwas in eine
Lehrerausbildung zu integrieren, um ihnen das Wissen zu vermitteln rechtzeitig und
gut hinzusehen.
Almut Engelien:
Also eine Art Aufmerksamkeit, die einfach da ist.
Gisela Mayer:
Richtig. Der zweite wichtige Punkt ist, dass wir unseren Umgang miteinander
überdenken. Wir sind inzwischen derart tolerant, wenn es darum geht, dass wir uns
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gegenseitig beleidigen und verletzen. Junge Menschen nehmen Beschimpfungen gar
nicht mehr wirklich wahr als Beleidigungen, zumindest behaupten sie das. Es ist „du
Opfer“, was weiß ich, „du Schlampe“, das sind Dinge, die lassen mir noch die Haare
zu Berge stehen, ich möchte so nicht angesprochen werden, ich würde deutlich
sagen: „Das beleidigt mich, das verletzt mich, das kränkt mich.“ Wenn man junge
Menschen fragt, bekommt man zur Antwort: „Das war doch nur Spaß, das ist doch
normal.“ Weit gefehlt, das ist es nicht. Diese Verletzungen, diese sogenannte
Hasssprache führt dazu, dass wir unseren Umgang derart rau werden lassen und
dass wir denken, wir könnten mit diesen gegenseitigen Verletzungen klarkommen.
Ergebnisse, die uns Neurobiologen wiederum zur Verfügung stellen, allen voran ist
das Professor Bauer aus Freiburg, sagen uns aber, dass die verbalen Verletzungen
von unseren Gehirnen genauso aufgenommen werden wie Schläge ins Gesicht. Wir
alle kennen die alte Redewendung: „Seine Worte trafen ihn wie ein Schlag ins
Gesicht.“ Das sagt nichts anderes als eine klare Wahrheit. Und das prägt auch den
Umgang der jungen Menschen miteinander. Das ist das zweite worauf wir achten
sollten. Das ist täglicher Umgang, tägliches miteinander sprechen. Gut, und der dritte
Schritt, der erforderlich wäre, wäre den Lehrerinnen und Lehrern vor Ort ein
funktionierendes System von Hilfsangeboten zur Verfügung zu stellen, sei es
Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter, Beratungslehrer, wen auch immer. Das hier
ein funktionierendes Netzwerk besteht, auf das Lehrerinnen und Lehrer
zurückgreifen können.
Almut Engelien:
Frau Mayer, unter dem Eindruck des Verbrechens, das Ihre Tochter das Leben
gekostet hat, haben sie ein Buch geschrieben vor vielen Jahren, „Die Kälte darf nicht
siegen“. Dieses Buch, finde ich, zeichnet ein sehr dunkles Bild. Also Schule bedeutet
nur Auslese, Leistungsdruck, es werden keine Werte vermittelt, es gibt keine Wärme,
keinen Raum für die Menschen, die Lehrer werden falsch ausgebildet, die Eltern
ziehen sich raus, alles wird immer kälter und härter. Ist es ein Bild, das Sie heute
auch noch so vor Augen haben?
Gisela Mayer:
Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Ich würde das Buch heute nicht mehr so
schreiben. Es sind Jahre vergangen, auch Jahre, in denen sehr, sehr viel geschehen
ist. In denen an vielen Seiten, an vielen Punkten eine positive Entwicklung
stattgefunden hat. Genau indem man sich auf diese Punkte konzentriert hat und
erkannt hat, wir müssen miteinander besser umgehen, damit wir so etwas verhindern
können. Insofern, heute wäre das ein anderes Buch, wenn ich es jetzt noch einmal
schreiben würde.
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