D I E G R O S S E FR E I H E IT U N D E I N E K LE I N E Ü B E R RAS C H U N G eicht krängend nahm die Josephine Fahrt auf. Mehr Segel wurden gesetzt. Kajen und Lagerhallen, Kontore und Landungsbrücken zogen vorbei und achteraus schmolz das Häuflein Menschen auf der Pier schnell zu einem bunten Getümmel zusammen, in dem beinahe schon niemand mehr zu erkennen war. Barkassen tuteten, und der helle Klang der Schiffsglocken, welche die Glasen schlugen, vermischte sich damit. Der Schein der untergehenden Sonne, die sich gerade in den alten Bäumen der Elbhänge hinter Altona zur Ruhe begab, tauchte die roten Segel noch einmal in ein leuchtendes Kupfer, und die Positionslaternen wurden entzündet. Überglücklich sog Pikko diese wundervollen Bilder in sich auf. Sein erstes Auslaufen. Das würde er nie vergessen! Die allgemeine Aufregung an Bord der Josephine hatte sich gelegt, und mit gleichmäßigem Knarren und langsamer Fahrt hob und senkte sich der Bug elbabwärts und der fernen See entgegen. Fast sah es aus als nickte das Schiff ehrfürchtig einem lange vernachlässigten Freund zu. Das Örtchen Oevelgönne zog vorbei, dessen Namen die Josephine trug. Alle Matrosen standen an Steuerbord L 111 und grüßten und winkten hinüber zu den kleinen, schiefen Häusern und Hütten am Elbstrand und an den Hängen darüber. Hier und da winkten bunte Tücher und erhobene Arme zurück, und die Schiffsglocke läutete hell ihr Lebewohl ans Ufer und zu den blinkenden Lichtern. Alle Segel waren gesetzt, um die günstige Brise nicht ungenutzt zu lassen, die in die Nacht hineinwehte. Schnell kamen im schwindenden Licht der Sonne die Laternen von Teufelsbrück in Sicht, und die Fahrt ging zügiger voran. Der einsetzende Ebbstrom tat ein Übriges, und bald schon würden die Lichter des Örtchens Blankenese aus den dämmrigen Elbhängen auftauchen. Der kleine Klabautermann war inzwischen auf den Großbaum geklettert, wo er mit dem Rücken unsichtbar in die Wölbung der geblähten Leinwand gelehnt saß und mit den Beinen baumelte. Er war immer noch stolz und erleichtert. Gleichzeitig gab es da etwas, das ihm ziemliches Kopfzerbrechen bereitete. Nun hatte er die Prüfung der magischen Knoten bestanden und durfte als richtiger Klabautermann zur See fahren, so wie er es sich immer erträumt hatte. Wellen, Wind und Wetter, ferne Länder und spannende Abenteuer – die große Freiheit war in greifbare Nähe gerückt. Und zugleich konnte er sich noch allzu gut an dieses andere Gefühl erinnern, das er vorhin gehabt hatte, als er glaubte, den Kehrwieder-Knoten nicht geschafft zu 112 haben. Die Vorstellung, wie schön es sein würde, einfach nach Hause zurückzukehren und noch ein Weilchen beim Großvater auf dem heimeligen Dachboden bleiben zu dürfen. Was war ihm wichtiger, die erste große Reise und die Sehnsucht nach der weiten Welt? Oder dieses andere freundliche, irgendwie warm und verlockend glänzende Gefühl der Heimkehr? In diesem Moment wurde Pikko etwas klar: Die Freiheit, die er durch die bestandene Klabauterprüfung gewonnen hatte, war wohl mehr als die Freiheit, zur See zu fahren. Sie war auch die Freiheit, entscheiden zu können. Nur ... wie? In diesem Augenblick hörte Pikko unter sich ein leises Poltern. Er sah hinab an Deck. Dort lag H. C. Eisenbarts salzwasserfestes Klabauterhandbuch. Es musste ihm aus der Hosentasche gefallen sein. Richtig, er hatte es ja eingesteckt, falls er beim Knüpfen des Kehrwieders dessen Rat gebraucht hätte. Zum Glück war das Büchlein so klein, dass die Seeleute es noch nicht bemerkt hatten. Rasch kletterte der unsichtbare Klabautermann von seinem Hochsitz auf dem Großbaum herunter, um es aufzuheben. Als er die Hand danach ausstreckte, griff der Wind in die offenen Seiten und blätterte einige von ihnen um. Die Seite, die nun offen lag, zeigte den Buchstaben T. Dort war zu lesen: 113 Träume – zarte, flüchtige Gebilde, die manchmal im Kopf, meist jedoch im Herzen wohnen. Träume können im Schlaf oder im wachen Zustand zu einem kommen. Letztere sind in der Regel langlebiger und sehr viel kostbarer. Manche Träume schrumpfen oder gehen mit der Zeit verloren. Die großen, wichtigen Träume jedoch bleiben. Die Zeit kann ihnen nichts anhaben, geduldig warten sie, bis sie eines Tages reif genug sind, um doch noch wahr zu werden. Pikkofinte Sturmholz musste gleichzeitig schlucken und lächeln. Nun wusste er, was er zu tun hatte, und er war überrascht, wie einfach ihm diese Entscheidung fiel. »Danke, liebes Klabauterbuch!«, sagte er leise, klappte den Eisenbart zu und steckte ihn zurück in die Tasche. Wenige Augenblicke später wichen die dunkel bewaldeten Hügel zur Seite und gaben den Blick frei auf sein Blankenese, auf die vielen kleinen Gässchen und Treppen, die warmen Lichter der Häuser, auf den Süllberg mit seiner beleuchteten Krone und auf die als helle Tupfen vor dem Strand schaukelnden Boote und Kähne. Dort irgendwo im Gewimmel aus Bäumen, Dächern, Treppen und Gässchen funkelte ihm das erleuchtete Fenster zu, hinter dem wohl gerade der alte Kapitän Lüders in seinem Schaukelstuhl saß. Und darüber glaubte er den dunklen Schatten des Reetdaches zu erblicken, unter dem der Großvater in die- 114 sem Moment ganz sicher auf den Strom und die Positionslichter der Josephine von Oevelgönne hinabblickte. Rasch schlüpfte Pikko in die Segellast hinab und warf seine Siebensachen in den Seesack. Dann blickte er sich noch einmal in seinem Versteck um. Dabei kam ihm eine Idee. Mit einem verschmitzten Klabautergrinsen nahm er seine Mütze mit der roten Bommel vom Kopf und legte sie unter das Regal, wo er seine Koje gehabt hatte. Es war ein kleines Dankeschön für die Gastfreundlichkeit des Schiffes – und ein guter Grund, wieder hierher zurückzukommen. »Nur geliehen, nicht geschenkt «, sagte Pikko. »Bis zur nächsten Reise!« Dann schulterte er den Seesack und lief rasch zurück an Deck. 115
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