Hexenjagd« auf Sessions

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
4./5. März 2017, Nr. 54
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Ein allgewaltiger Regisseur. Der Sturz der
Zarenmonarchie war kein Wunder. Lenin
über die Februarrevolution. Klassiker
Kalte Füße schaden nicht: Wie die US-Stiftung Rand Corporation im Baltikum Stimmung macht. Von Reinhard Lauterbach
Der 70. Geburtstag von junge Welt: Revue
und Konzert im Berliner Kino »International« begeisterten Künstler und Gäste
Über den GART, eine Spaßgesellschaft, die
irgendwann unterging und uns bis heute beschäftigt (Teil 1). Von Valentin Moritz
MICHAELA REHLE/REUTERS
»Gurkentruppe als terroristische
Organisation verkauft«
Gespräch mit Michael Rosenthal
Über die »Oldschool Society«, politisches Strafrecht
und die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten
PRIVAT
D
ie Bundesanwaltschaft wirft ihrem
Mandanten Andreas
Hafemann und drei
Mitangeklagten vor,
eine terroristische Vereinigung
namens »Oldschool Society«, abgekürzt OSS, gegründet zu haben, um
ihre neonazistische Gesinnung unter
anderem mittels Sprengstoffanschlägen gewaltsam durchzusetzen. Sie
forderten vom Oberlandesgericht
München den Freispruch Ihres
Mandanten. Sie glauben nicht, dass
die Truppe gefährlich war?
Einzelne Mitglieder der Truppe mögen
durchaus gefährlich gewesen sein. Aber
der Vorwurf ist ja, dass sie als Organisa­
tion gefährlicher gewesen seien als nor­
male Mittäter einer Straftat. Dafür kann
ich auch nach einem Jahr Verhandlung
nicht einmal Anhaltspunkte entdecken.
Für die Anklagebehörde ist es
gerade der Organisationszusammenhang, der unter den individuell
schon gefährlichen Mitgliedern eine
Dynamik erzeugt, die ihre Gefähr-
Michael Rosenthal
verteidigt den »Präsidenten« der
»Oldschool Society« vor dem Oberlandesgericht in München. 2003
erreichte er einen Freispruch für Abdelghani Mzoudi, einen wegen Beihilfe
angeklagten Freund der Todespiloten
vom 11. September 2001. Vor dem
Bundesverfassungsgericht erwirkte er
eine bessere Entlohnung von Strafgefangenen und kippte das erste deutsche Gesetz zum Europäischen Haftbefehl. Der Karlsruher Rechtsanwalt
gilt als Spezialist für heikle Fälle.
lichkeit vervielfacht. Tatsächlich
dokumentieren die Chatprotokolle
ein gegenseitiges Anstacheln. Muss
man nicht davon ausgehen, dass sich
dieser Effekt auch im realen Leben
hätte zeigen können?
Muss man nicht – aber man sollte, wenn
man nicht will, dass etwas passiert. Die
Chats sprechen schon quantitativ eher für
die Angeklagten: Da ist monatelang prak­
tisch rund um die Uhr im Internet palavert
worden, was man machen müsste, könnte
und sollte. Umgesetzt worden ist in der
ganzen Zeit eine Aktion, bei der jemand
aus dem eigenen Umfeld eingeschüchtert
werden sollte. Die »Tschechen­Böller«
hat der als »Vizepräsident« Angeklagte
zusammen mit seiner Freundin auf eigene
Faust und eigene Kosten besorgt. Da gab
es keinen Plan, aber – da haben Sie recht –
ab da bestand immer die Gefahr, dass das
zweite Treffen entgleisen könnte.
War das nicht der Plan? Nachdem
die unter Umständen lebensgefährlichen »Tschechen-Böller« besorgt
waren, wurde ein Telefongespräch
des »Vize« mit Ihrem Mandanten,
dem »Präsidenten«, abgehört. Die
Behörden beschlossen, die »Oldschool Society« noch vor dem zweiten im Landkreis Leipzig geplanten
Gruppentreffen Anfang Mai 2015
hochzunehmen, weil in dem Telefonat darüber gesprochen worden
war, die mit Nägeln bestückte Pyrotechnik in eine Unterkunft für
Asylsuchende zu werfen. Das klingt
durchaus konkret.
Es war aber nicht konkret. Wenn Sie sich
das Telefonat anhören, dann merken Sie,
dass sich nur der »Vizepräsident« für die
Sache begeistert, der ja auch die Feuer­
werkskörper in Tschechien besorgt hat.
Mein »Präsident« ist erkennbar nicht bei
der Sache, sondern er wirkt abgelenkt.
Er sagt, er hat während dieses Telefonats
ein Angebot für seinen Malerbetrieb ge­
schrieben. Und wir haben einen Chat vom
selben Tag, aus dem sich ergibt, dass er
selbst ganz andere Ideen hat, was man mit
den Feuerwerkskörpern machen könnte,
nämlich Nachbarn erschrecken. Von einer
Foto oben: Michael Rosenthal (vorne links) mit
seinem Mandanten Andreas Hafemann (Mitte)
und Rechtsanwalt David
Herrmann (vorne rechts)
beim Prozessauftakt am
27. April 2016 vor dem
Oberlandesgericht
München
»Gurkentruppe«
Wochenendgespräch über die militante
»Oldschool Society«, politisches Strafrecht und die Rückkehr der Faschisten in
der Maske der Demokraten. Außerdem:
Wie die US-Stiftung Rand Corporation das
Baltikum bedroht. Schwarzer Kanal von
Reinhard Lauterbach
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 4./5. MÄRZ 2017 · NR. 54 · 2,00 EURO (DE), 2,20 EURO (AT), 2,60 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Präzedenzfall
Testfall
Wutanfall
Rückfall
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Merkel in Ägypten: Verstärkte Kooperation bei Abwehr von Migranten.
Siehe Kommentar Seite 8
Soziale Frage außen vor: Martin Laberenz inszeniert Elfriede Jelinek
am Deutschen Theater in Berlin
Reaktionäre US-Verbände bereiten
politischen Durchbruch vor.
Von Jürgen Heiser
Gaggenau trotzt Ankara
Türkische Regierung
beklagt nach
Redeverboten für
Minister Mangel an
Meinungsfreiheit
in Deutschland.
Von Nick Brauns
CHRISTOPH SCHMIDT/DPA-BILDFUNK
W
ährend in Istanbul sämtliche Kundgebungen zum internationalen Frauentag am
8. März verboten worden sind, beklagt
die AKP-Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der
Bundesrepublik. Deutschland wolle
sich einer »starken Türkei in den Weg
stellen«, erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Freitag.
»Wenn Deutschland die Beziehungen
zur Türkei aufrechterhalten will, muss
es lernen, sich zu benehmen.«
Hintergrund der Verstimmung in
Ankara sind verhinderte Auftritte von
türkischen Ministern. Diese wollten
auf speziellen Kundgebungen für die
Zustimmung der Deutschtürken beim
Referendum zur Errichtung einer Präsidialdiktatur werben. So hatte sich die
Kölner Stadtverwaltung geweigert, dem
AKP-Lobbyverband Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD)
einen Saal im Bezirksrathaus KölnPorz für eine Veranstaltung mit dem
türkischen Wirtschaftsminister Nihat
Zeybekci zu überlassen. Der Politiker
will nun am Sonntag ein vom türkischen Fernsehen übertragenes Konzert
in Leverkusen für ein Grußwort nutzen.
Sein eigentlicher Wahlkampfauftritt für
das Referendum sollte dann in einem
auf Hochzeiten spezialisierten Lokal
in Frechen stattfinden. Der Betreiber
sagte aber ebenfalls kurzfristig ab.
Aus »Sicherheitsgründen« hat-
Hier wollte der türkische Justizminister sprechen: Blick in die leere Festhalle in Gaggenau am Donnerstag
te der parteilose Bürgermeister der
30.000-Einwohner-Stadt Gaggenau in
Baden-Württemberg, Michael Pfeiffer,
am Donnerstag eine UETD-Veranstaltung mit dem türkischen Justizminister Bekir Bozdag in einer städtischen
Halle abgesagt. Das sei nicht mit einer höheren politischen Ebene abgesprochen. Pfeiffer, dessen Rathaus am
Freitag wegen einer Bombendrohung
geräumt werden musste, zeigte damit
mehr Mumm als die Bundesregierung, die bei Auftritten ausländischer
Regierungsmitglieder ihr Veto einlegen könnte. Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) verwies am Freitag auf
die Zuständigkeit der Kommunen. Der
CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach sprach von einer »mutigen Entscheidung«, die als Vorbild für
die Absage anderer AKP-Werbeveranstaltungen dienen könne. Deutschland
sei »keine Außenstelle der Türkei«;
diese bliebe aber ein wichtiger NATOPartner, versicherte Bosbach.
Kritik an den Auftrittsverboten
kommt dagegen von Oppositionsparteien aus der Türkei, die sonst strikte Gegner der angestrebten Präsidialherrschaft
sind. Es sei nicht richtig, »die Welt über
Demokratie zu belehren«, aber unliebsamen Ministern einer ausländischen
Partei Redeverbote zu erteilen, erklärte der Vorsitzende der kemalistischen
CHP, Kemal Kilicdaroglu, am Freitag.
Solche Verbote seien nicht nur prinzipiell undemokratisch, sondern auch politisch unklug, warnte der Staatsrechtler
Mithat Sancar, der für die links-kurdische HDP im türkischen Parlament
sitzt, im Deutschlandfunk. So könne
sich die AKP als Opfer ordnungspolitischer Maßnahmen inszenieren.
Das türkische Außenministerium
bestellte den deutschen Botschafter
ein. Justizminister Bozdag sagte ein
Treffen mit seinem deutschen Amtskollegen Heiko Maas (SPD) ab, bei dem
es um den unter Terrorismusvorwürfen
in der Türkei inhaftierten Reporter der
Tageszeitung Die Welt, Deniz Yücel,
gehen sollte. In einem vom Spiegel
zitierten Brief an Bozdag warnte Maas
am Freitag vor einem »Abbau des
Rechtsstaats«. Der Umgang mit Yücel
sei »unverhältnismäßig«, blieb Maas
dem verharmlosenden Sprachgebrauch
der Bundesregierung treu. »Yücel ist
kein verhafteter Journalist, sondern
eine Geisel«, wies dagegen der HDPAbgeordnete Sancar auf die tatsächliche Rolle des Inhaftierten für die
deutsch-türkischen Beziehungen hin.
Die Kovorsitzende der Linkspartei,
Katja Kipping, rief derweil zum Tourismusboykott gegenüber der Türkei auf.
»Hexenjagd« auf Sessions
US-Präsident Trump stellt sich hinter seinen Justizminister
U
S-Präsident Donald Trump
hat sich am Freitag empört
über die »Hexenjagd« auf
seinen Justizminister geäußert. Auf
Twitter erklärte er, Jefferson »Jeff«
Sessions sei »ein ehrlicher Mann«. Er
habe »nichts Falsches gesagt«. Zwar
hätte er »genauer antworten« können,
aber etwaige Versäumnisse seien »offensichtlich keine Absicht« gewesen.
Sessions war unter Druck geraten,
weil er während einer Befragung vor
dem Kongress im Vorfeld seiner Bestätigung für das Ministeramt nicht
erwähnte, dass er sich im vergangenen
Jahr mit dem russischen Botschafter in
Washington, Sergei Kisljak, getroffen
hatte. Auf einer Pressekonferenz am
Donnerstag erklärte er aber, dass er die
ihm gestellte Frage nach seinen Kontakten zu russischen Vertretern »ehrlich und korrekt« sowie nach seinem
damaligen Verständnis beantwortet
habe. Es sei darum gegangen, ob er
an einem angeblichen Austausch von
Informationen zwischen Mitarbeitern
des Trump-Teams und russischen Vertretern während der Wahlkampagne
beteiligt gewesen sei. In seinen Treffen
mit Kisljak sei es jedoch nicht um
den Wahlkampf gegangen. Er kündigte
aber an, sich wegen Befangenheit aus
Ermittlungen zu einem mutmaßlichen
russischen Einmischungsversuch in
die US-Präsidentschaftswahl herauszuhalten. Er könne nicht Teil einer Ermittlung zu einem Wahlkampf sein, an
dem er selbst teilgenommen habe.
Der Justizminister gehört zum
stramm rechten Flügel in Trumps Regierungsmannschaft. Vor 30 Jahren
hatten Abgeordnete beider großer
Parteien im US-Senat seine Nominierung als Bundesrichter abgelehnt,
weil er mit rassistischen Äußerungen
und Parolen gegen Bürgerrechtsgruppen aufgefallen war. Diese hatte er
als »kommunistisch« und »unamerikanisch« attackiert. Das US-Portal
Huffington Post wies zudem im Januar
auf Sessions’ enge Beziehungen zum
Onlineportal Breitbart News hin, das
als Plattform der äußersten Rechten
einen wichtigen Einfluss auf Trumps
Wahlkampf ausübte. (AFP/dpa/jW)
Siehe Seiten 3 und 12/13
Russland und NATO:
Militärs in Kontakt
MAXIM SHIPENKOV/EPA/DPA-BILDFUNK
Kieler Abschiebestopp als Vorbild:
Flüchtlingsräte fordern Bleiberecht für Afghanen
Moskau. Die führenden Militärs der
NATO und Russlands haben erstmals seit der Auseinandersetzung
um die Krim-Halbinsel in Jahr
2014 wieder Kontakt aufgenommen. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte am Freitag
mit, Generalstabschef Waleri Gerassimow (Foto) und der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses,
der tschechische General Petr Pavel, hätten am Vortag miteinander
telefoniert. Dabei sei es um die
Aussichten für eine Wiederaufnahme der Kommunikation zwischen
Militärs beider Seiten gegangen.
Gerassimow und Pavel hätten auch
über die Vermeidung von Zwischenfällen bei Einsätzen gesprochen, meldete die Agentur Interfax.
Das westliche Kriegsbündnis hat
die Zusammenarbeit im NATORussland-Rat im April 2014 nach
dem Beitritt der ehemals ukrainischen Halbinsel Krim zu Russland,
die nach einem Referendum erfolgt
war, ausgesetzt. (dpa/jW)
27.000 Ausländern wurde
Arbeitsaufnahme verwehrt
Düsseldorf. Die Bundesagentur
für Arbeit (BA) hat im vergangenen Jahr die Arbeitsanträge von
27.000 Ausländern abgelehnt. Das
hat die Rheinische Post in ihrer
Freitagausgabe berichtet. Demnach
standen in diesen Fällen für den
angebotenen Job auch Inländer zur
Verfügung. Eine andere Begründung für die Ablehnungen sei, dass
die Stellen unterbezahlt waren.
Den Angaben zufolge wurden 2016
im Zuge der sogenannten Vorrangprüfung mehr als doppelt so viele
Anträge von Flüchtlingen und
Menschen aus Nicht-EU-Staaten
abgelehnt als noch zwei Jahre zuvor. Die Zeitung berief sich auf die
Antwort der Bundesregierung auf
eine Anfrage der Grünen. Die Zahl
der Anträge sei ebenfalls deutlich
gestiegen, ebenso jene der Zustimmungen: 2014 wurden 68.000 Anträge bewilligt, 2016 waren es
215.000 Bewilligungen. (AFP/jW)
wird herausgegeben von
2.022 Genossinnen und
Genossen (Stand 21.2.2017)
n www.jungewelt.de/lpg