Keine Lügen von Trump

Bitteres Ende
MIKE BLAKE/REUTERS
Sicher im Alter? Um der steigenden
Armut nach dem Ende der Berufstätigkeit zu begegnen, muss das Rentenniveau dringend erhöht werden.
Die etablierte Politik versucht, das
Problem systematisch kleinzureden.
Von Matthias W. Birkwald
SEITEN 12/13
GEGRÜNDET 1947 · DONNERSTAG, 2. MÄRZ 2017 · NR. 52 · 1,60 EURO (DE), 1,80 EURO (AT), 2,30 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
Kompromisslos
Schamlos
Skrupellos
Schwerelos
3
5
9
11
Wie entsteht eine politische Philosophie? Heute startet »Der junge
Karl Marx« im Kino
Warnstreik bei Coca-Cola: Konzern will Beim Besuch von Kanzlerin Merkel in
seinen Beschäftigten nur lächerTunesien geht es auch um die
liches Lohnplus zugestehen
»Rücknahme« von Bürgern
Kunstsammlungen Chemnitz haben
Jubiläumsjahr der Oktoberrevolution fulminant eingeläutet
Gabriel verspricht Estland
»Beistand«
Ab in die zweite Klasse
EU-Kommission kokettiert in »Weißbuch« mit einem »Europa der verschiedenen
Geschwindigkeiten«. Arme Länder würden auf der Strecke bleiben. Von Simon Zeise
D
teidigung, innerer Sicherheit oder
Sozialpolitik entstehen, heißt es im
Weißbuch.
Die verschiedenen Zukunftsvisionen seien »weder gegenseitig ausschließend noch erschöpfend«. Bei
einem »Weiter so wie bisher« könne
die Einheit der 27 Mitgliedsstaaten
»bei ernsthaften Meinungsverschiedenheiten erneut auf die Probe gestellt werden«. Die nach dem EUAustritt verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten würden sich auf Reformen,
Jobs, Wachstum und Investitionen
konzentrieren, um greifbare Vorteile für die dann noch 450 Millionen
Bürger der Union zu liefern. Bei der
Währungsunion wären unter den gegebenen Verhältnissen nur »schrittweise Fortschritte« zu erwarten. Die
Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich bliebe begrenzt.
Motiviert klingen solche Töne
jedoch nicht. Zumal die Idee eines
»Europas der verschiedenen Ge-
schwindigkeiten« bereits im Februar
von Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) ins Spiel gebracht worden
war. Berlin würde sich vermutlich
am liebsten »Kostenfaktoren« wie
Griechenland und die osteuropäischen Staaten vom Leib halten. Die
Fixierung auf ein »Kerneuropa« ist
der ursprüngliche Plan des heutigen
Finanzministers Wolfgang Schäuble
(CDU), den er bereits 1994 in einem
gemeinsamen Papier mit seinem Parteifreund Karl Lamers formulierte.
Die in Großbritannien favorisierte
Variante wäre, dass der Binnenmarkt
Hauptziel der EU bleibe, weil die
Mitgliedsstaaten sich nicht auf mehr
politische Integration in anderen Bereichen verständigen können. Doch
auch das scheint keine ernsthafte Option für Juncker zu sein. Der Preis
für die übrigen Mitgliedsstaaten wäre
aus Sicht der Kommission, dass »die
Kapazität gemeinsam zu handeln begrenzt ist«. Dies könne »die Kluft
zwischen Erwartungen und dem Gelieferten auf allen Ebenen vergrößern«.
Auch eine vertiefte Integration wäre theoretisch denkbar. Dann würden
die Mitgliedsstaaten sich mit Brüssel darauf verständigen, »auf allen
Ebenen mehr Macht, Ressourcen und
Entscheidungsfindung zu teilen«.
Zentrales Projekt wäre die Stärkung
der Euro-Zone. Es müsse klar werden, dass, »was für die Länder der
gemeinsamen Währung vorteilhaft
ist, für alle vorteilhaft ist«. Juncker
warnte aber, dass dies »Teile der Gesellschaft verstimmen könnte, die
denkt, dass es der EU an Legitimität
fehlt oder sie den nationalen Regierungen zuviel Macht abgenommen
hat« – so lassen sich Massenstreiks
der griechischen Bevölkerung gegen
die Kürzungsdiktate der EU auch
übersetzen.
Siehe Kommentar Seite 8
Keine Lügen von Trump
US-Präsident besteht bei Rede vor dem Kongress Faktencheck der Medien
U
S-Präsident Donald Trump hat
am Dienstag (Ortszeit) in seiner ersten Rede vor den Abgeordneten beider Parlamentskammern
erneut ein düsteres Bild der Zustände
in den Vereinigten Staaten gezeichnet.
43 Millionen Menschen lebten in Armut und seien auf Lebensmittelmarken
angewiesen, erklärte der Staatschef. Seit
Inkrafttreten des »Nordamerikanischen
Freihandelsabkommens« (NAFTA) sei
mehr als ein Viertel aller Arbeitsplätze
in der Industrie weggefallen. Mit einem
»eine Billion US-Dollar« schweren
Infrastrukturprogramm, das aus staat-
lichen und privaten Mitteln finanziert
werden soll, werde er »Millionen« neue
Arbeitsplätze schaffen. Konkrete Details seines Wirtschaftsprogramms oder
der angekündigten Steuerreform nannte
er nicht.
US-Medien wie das Portal Politifact,
die New York Times oder CNN boten
auf ihren Internetseiten Faktenchecks
an und stellten fest, dass Trump diesmal
offenbar keine dreisten Lügen erzählt
habe, allerdings viele Zahlen aus dem
Kontext gerissen seien. So habe der Präsident nicht erwähnt, dass die Zahl der
armen US-Bürger in den vergangenen
Jahren kontinuierlich zurückgegangen
sei, merkte die der früheren ObamaAdministration nahestehende New York
Times an.
In der traditionellen Erwiderung
der Oppositionspartei warf der frühere
Gouverneur von Kentucky, Steven Beshear, Trump unter anderem vor, Millionen Menschen die Gesundheitsversorgung wegnehmen zu wollen. »Die Rede
des Präsidenten war völlig losgelöst von
der grausamen Realität seines Verhaltens«, sagte die Demokraten-Chefin im
Abgeordnetenhaus, Nancy Pelosi, laut
einer Mitteilung.
In Russland wurde Trumps Rede zurückhaltend kommentiert. »Wir warten,
bis auf die vielen Erklärungen konkrete
Handlungen folgen, aus denen hervorgeht, worauf wir uns in der Perspektive
der russisch-amerikanischen Beziehungen einzustellen haben«, sagte Regierungssprecher Dmitri Peskow am Mittwoch in Moskau. Für Moskau bleibe
der Kampf gegen den Terror das größte
gemeinsame Interesse mit den USA,
zitierte ihn die Agentur Interfax. Auf
anderen Gebieten seien die Interessen
aber sehr gegensätzlich. (dpa/jW)
Siehe Seite 6
REUTERS/FRANCOIS LENOIR
REUTERS/INTS KALNINS
Athen hat die Auflagen Brüssels erfüllt.
Gleichberechtigtes
EU-Mitglied darf
Griechenland aber
nicht sein (JeanClaude Juncker
geleitet Alexis
Tsipras hinaus,
3. Juni 2015)
ie EU soll den stärksten
Staaten dienen. So frei lassen sich die Planspiele Brüssels zur Schaffung eines »Europas
der verschiedenen Geschwindigkeiten« übersetzen. Denn es gebe »eine
einfache Wahrheit«, Europas Bedeutung in der Welt schrumpfe, erklärte
Kommissionspräsident Jean-Claude
Juncker am Mittwoch im EU-Parlament, bei der Vorstellung des »Weißbuch EU«.
Das »Brexit«-Votum Großbritanniens dient Juncker als Anlass, um
ein »neues Kapitel« aufzuschlagen.
Fünf »Szenarien« bis zum Jahr 2025
werden darin beschrieben. Unmittelbar nach der Abstimmung über den
Austritt aus der EU im Juni 2016
in London hatte Brüssel und allen
voran die deutsche Bundesregierung
eine europäische Armee ins Spiel
gebracht. Künftig könnten eine oder
mehrere »Koalitionen der Willigen«
in bestimmten Bereichen wie Ver-
WWW.JUNGEWELT.DE
Tallinn. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) hat Estland den
»Beistand« Deutschlands zugesichert. »Wir stehen ein auch für eine
gemeinsame Sicherheit«, sagte der
Vizekanzler am Mittwoch nach
einem Treffen mit dem estnischen
Außenminister Sven Mikser in der
Hauptstadt Tallinn. Gabriel verwies auf die Mitgliedschaft beider
Staaten in der NATO.
Erneut äußerte sich Gabriel
skeptisch zu dem in der Allianz
vereinbarten Ziel, dass alle Mitgliedsstaaten künftig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts
für Rüstung aufwenden sollten.
Man müsse sich schon überlegen, ob sich der Rest Europas ein
Deutschland wünsche, das mehr
als 60 Milliarden Euro für Militär
ausgebe.
(dpa/jW)
Tarifverdienste steigen
langsamer
Berlin. Die Löhne der etwa 17 Millionen Beschäftigten in Deutschland mit einem Tarifvertrag sind
2016 langsamer gestiegen als in
den vier Jahren zuvor. Die tariflichen Monatsverdienste einschließlich Sonderzahlungen legten um
durchschnittlich zwei Prozent
gegenüber dem Vorjahr zu, wie das
Statistische Bundesamt am Mittwoch mitteilte. 2015 hatte es noch
ein Plus von 2,1 Prozent gegeben,
2014 von 3,2 Prozent, 2013 von 2,4
Prozent und 2012 von 2,7 Prozent.
Überdurchschnittlich erhöht wurde
bei den sonstigen wirtschaftlichen
Serviceanbietern, zu denen etwa
Reisebüros, Zeitarbeitsfirmen
sowie Wach- und Sicherheitsdienste gehören. Hier gab es ein Plus
von drei Prozent. Mit geringeren
Zuschlägen mussten sich die Beschäftigten in den Bereichen Verkehr und Lagerei (plus 1,2 Prozent)
sowie Bergbau (plus 0,7 Prozent)
begnügen.
(Reuters/jW)
wird herausgegeben von
2.022 Genossinnen und
Genossen (Stand 21.2.2017)
n www.jungewelt.de/lpg