Kein Geld für "sterbende Orte"? Bericht: Susanne Kerber Wir

Kein Geld für "sterbende Orte"? | Manuskript
Kein Geld für "sterbende Orte"?
Bericht: Susanne Kerber
Wir sind in Werdau im Landkreis Zwickau. Rund 21.000 Menschen leben hier. Seit der
Studie vom vergangenen Jahr haben sie es schriftlich: Werdau sei eine „ausblutende“ Stadt,
im Gegensatz zum Beispiel zu Zwickau, das als so genannte Wachstumsstadt eingestuft
wird.
Im Berliner Forschungsinstitut „empirica“ treffen wir den Volkswirt Lukas Weiden. Er hat
die Studie mitverfasst. Für ihn lassen die Daten nur eine Schlussfolgerung zu – Fördergelder
sollten gezielter eingesetzt werden.
Lukas Weiden, Volkswirt
Es geht ja nicht darum, Gelder zu reduzieren, sondern Gelder zu konzentrieren. Also nicht
mit der Gießkanne über das komplette Land, da man somit, wenn man das wiederum
verteilt, das Geld, kein attraktives Zentrum schaffen kann oder fördern kann. Und da ist dann
genau Werdau in dem Konflikt, Zwickau ist stärker und sollte noch weiter gestärkt werden.
In Werdau sieht man das naturgemäß anders. Bürgermeister Stefan Czarnecki empfindet
das Fazit der Untersuchung übertrieben.
Stefan Czarnecki, Bürgermeister Werdau
Ganz so dramatisch wie es die Studie darstellt, sehe ich die Lage nicht. Die Studie fordert ja
von uns, dass man über sämtliche Grenzen, die man auch, also dass man über sämtliche
Grenzen hinweg geht und sagt 'Eigentlich kann man alles kurz und klein schlagen, was nicht
mehr erhaltenswert ist, weil die Menschen eh abwandern'. Das ist ja an der Stelle nicht so.
Doch sollte umgesetzt werden, was die Forscher vorschlagen, dürfte es für Werdau
finanziell knapp werden. In unserem Experiment – in Absprache mit dem Bürgermeister wollen wir testen, was es für die Einwohner heißt, wenn öffentliche Gelder ausbleiben.
Schon jetzt werden die Zuschüsse vom Bund von Jahr zu Jahr geringer. Zum Beispiel für die
Infrastruktur: Was würde es bedeuten, wenn eine der 74 Brücken hier einsturzgefährdet
wäre und wegen Geldmangels nicht saniert werden kann? Zwei Schauspieler fordern die
Autofahrer auf, eine Umleitung zu fahren. Wir begleiten die Situation mit Kameras.
Komparsin: Sie können hier leider nicht drüber fahren, die Brücke ist gesperrt.
Frau: Ich muss mein Kind in dem Haus abholen, wie soll ich da hinkommen?
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
1
Kein Geld für "sterbende Orte"? | Manuskript
2
Komparsin: Sie müssen über die Crimmitschauer fahren oder untenrum, über die
Turnhallenstraße.
Frau: Den ganzen Bogen jetzt nochmal?!
Bevor die junge Mutter den Umweg auf sich nehmen muss, klären wir sie über den
Hintergrund unseres Versuchs auf.
Frage: Finden Sie denn Werdau für erhaltenswert, dass man sehr wohl Gelder hier
reinzustecken hat, weil es eine schöne Stadt ist, zum Leben?
Frau: Ja, muss schon, ja! Man kann ja nicht alles verfallen lassen.
Erwartungsgemäß reagieren die Autofahrer auf die angebliche Vollsperrung der Brücke
wenig begeistert. Offenbar treffen wir einen empfindlichen Nerv bei den Umleitungsgeprüften Werdauern.
Frau: Eine elende Schweinerei!
Mann: Nicht schon wieder!
Frau: Nicht schon wieder!
Mann: Die nächste Umleitung. Wir wissen ja gar nicht mehr, wie man hier irgendwo
hinkommen soll.
Doch wie sehen die Autofahrer die Ergebnisse der Studie? Empfinden sie Werdau als eine
„ausblutende Stadt“?
Mann: Ich wohn hier! Und ich würde hier nicht wohnen, wenn ich mich nicht wohlfühlen
würde.
Frau: Werdau ist eine tolle Stadt, ich bin hier aufgewachsen und bin hier geboren und ja,
möchte hier eigentlich nicht weg!
Frage: Leben Sie gerne hier?
Frau: Es ist die Heimatstadt. Es gibt natürlich schönere Städte, aber es ist trotzdem irgendwo
die Heimatstadt.
Wir zeigen die Aussagen Lukas Weiden. Für ihn eine ungewohnte Konfrontation mit der
Realität hinter den Zahlen.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
Kein Geld für "sterbende Orte"? | Manuskript
Lukas Weiden, wissenschaftlicher Mitarbeiter
Ich gucke da ganz rational und distanziert drauf und natürlich ziehe ich dann andere Schlüsse
oder komme zu anderen Ergebnissen als die Menschen vor Ort rein auf subjektiver Ebene
die Empfindungen haben, dass das alles gar nicht stimmt.
Wir spitzen unser Experiment zu und verlegen den Dreh in die Innenstadt von Werdau. Was
wäre, wenn sich angeblich verordnete Sparmaßnahmen bis in den privaten Alltag hinein
auswirken? Unsere Darsteller geben sich als Angestellte des rein fiktiven Amtes für
Stadtplanung aus, die den Bürgern erklären, dass demnächst die Müllabfuhr wegfällt.
Wieder positionieren wir mehrere Kameras, die die Situation einfangen sollen.
Komparse: Wir wollten Sie informieren, dass per 01.02. hier in Werdau die Müllentsorgung
eingestellt wird. Sie müssen sich einen privaten Entsorger suchen und das privat
organisieren, Ihre Müllentsorgung.
Frau: Bissel bekloppt!
Komparse: Aber wir können auch nichts dafür.
Frau: Ehrlich, das wird immer verrückter!
Ähnlich denkt auch die nächste Dame.
Frau: Ich kann es gar nicht fassen!
Komparsin: Dann kriegen Sie auch noch einen Müllbeutel mit nach Hause, das ist dann
sozusagen der symbolische Start in Ihre private Müllentsorgung!
Frau: Na, da kann ich aber stolz sein!
Als wir das Ganze aufklären, hören wir auch nachdenkliche Töne – die These von der
ausblutenden Stadt ist für einige nicht nur Theorie.
Frau: Das ist ein bissel Witz, ehrlich!
Frage: Dass es eben leider, dass es jetzt heißt, die öffentlichen Gelder sollen nicht mehr in
Gemeinden wie nach Werdau kommen?
Frau: Ich bin in Werdau groß geworden, ich weiß, was früher los war und ich weiß, was jetzt
los ist. Wir bluten sowieso langsam aus, wir sterben aus, kann man langsam sagen, können
sie langsam dicht machen, hier alles.
Fakt ist, Werdau hat seit der Wende rund 7.000 Einwohner verloren. Der
Altersdurchschnitt liegt heute bei rund 49 Jahren, 1990 war er noch bei etwa 40.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
3
Kein Geld für "sterbende Orte"? | Manuskript
Frau: Wir sind eine alte Stadt, von der Bevölkerung her, wie soll das gehen?
Frage: Das ist tatsächlich eine reale Studie, die kam jetzt im letzten Jahr raus, da ist Werdau
namentlich genannt worden, als „ausblutende“ Gemeinde.
Frau: Ist ja grausam für die Stadt, das nimmt einem ja den Lebensmut und die
Lebenserwartung und die Lebensqualität. Also, wenn das wirklich offiziell noch, ist das ja
furchtbar.
Natürlich waren die Szenarien in unserem Experiment in Werdau heute frei erfunden weder die Gelder für mögliche Brückensanierungen noch die öffentlich organisierte
Müllentsorgung durch den Landkreis stehen zur Disposition. Doch klar ist – ein Wegfall von
Fördermitteln würde die Kommune empfindlich treffen.
Zuschüsse, auf die Bürgermeister Stefan Czarnecki weiterhin angewiesen ist, um neben der
Infrastruktur auch die Bibliothek, die Stadthalle, Bäder und ein Museum finanzieren zu
können.
Stefan Czarnecki, Bürgermeister Werdau
Also Werdau ist keine ausblutende Kommune, auf keinen Fall! Wir müssen aber kämpfen
dafür. Aber grundsätzlich ist Werdau eine absolut lebens- und liebenswerte Stadt.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
4