8. symphoniekonzert - Staatskapelle Dresden

2., 3. und 4. März 2017
Semperoper
8. SYMPHONIEKONZERT
Donald
RUNNICLES
Geir
DRAUGSVOLL
BRITTEN
GUBAIDULINA
VAUGHAN WILLIAMS
ELGAR
2., 3. und 4. März 2017
Semperoper
8. SYMPHONIEKONZERT
Donald
RUNNICLES
Geir
DRAUGSVOLL
8. SYMPHONIEKONZERT
D O N N ER STAG
2. 3.17
20 UHR
FR EITAG
3. 3.17
20 UHR
S A M STAG
4. 3.17
11 U H R
PROGRAMM
SE M PERO PER
D R E SD EN
Donald Runnicles Dirigent
Benjamin Britten (1913-1976)
Geir Draugsvoll Bajan
»Four Sea Interludes« op. 33a aus der Oper »Peter Grimes«
1. Dämmerung. Lento e tranquillo
2. Sonntagmorgen. Allegro spirituoso
3. Mondschein. Andante comodo e rubato – attacca
4. Sturm. Presto con fuoco
Sofia Gubaidulina (*1931)
»Fachwerk«
für Bajan, Schlagzeug und Streichorchester
PAU S E
Ralph Vaughan Williams (1872-1958)
Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis
für doppeltes Streichorchester
Edward Elgar (1857-1934)
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Pfade der Inspiration
»In the South« (Alassio)
Konzertouvertüre op. 50
Seit einigen Jahren ist Donald Runnicles regelmäßig bei der Staatskapelle Dresden zu Gast. In diesem Jahr präsentiert er mit Britten,
Vaughan Williams und Elgar Komponisten aus seiner britischen Heimat.
Sofia Gubaidulinas Bajankonzert trägt den Titel »Fachwerk«, sein
Wortklang besitzt für sie eine faszinierende Ausstrahlung. Neben dem
Aspekt der handwerklichen Arbeit erinnert der Begriff an Fachwerkhäuser, deren gestalterischer Reiz für die diesjährige Capell-Compositrice inspirierend wirkte.
Aufzeichnung durch MDR Kultur
Sendetermin: 3. März 2017, ab 20.05 Uhr live bei MDR Kultur
Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn
im Opernkeller der Semperoper
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8. SYMPHONIEKONZERT
Donald Runnicles Dirigent
D
onald Runnicles stammt aus Schottland und ist seit
2009 / 2010 Generalmusikdirektor der Deutschen Oper
Berlin. Zugleich ist er Conductor Emeritus des BBC Scottish Symphony Orchestra. Seit 2006 leitet er außerdem das
Grand Teton Music Festival in Jackson, Wyoming, und ist
Principal Guest Conductor des Atlanta Symphony Orchestra. Runnicles
studierte in seiner Heimatstadt Edinburgh sowie in Cambridge und
begann seine musikalische Karriere in Deutschland, wo er u. a. General­
musikdirektor in Freiburg war. Sein USA-Debüt geriet zur Sensation,
als er 1988 kurzfristig eine »Lulu«-Produktion an der Met in New York
übernahm. Zwei Jahre später leitete er den »Ring des Nibelungen«
an der San Francisco Opera, was zu seiner Berufung zum dortigen
Music Director führte. Zwischen 1992 und 2009 dirigierte er dort über
60 Produktionen, u. a. die Uraufführungen von John Adams’ »Doctor
Atomic«, Conrad Susas »The Dangerous Liaisons« und Stewart Wallaces
»Harvey Milk«. Zahlreiche Dirigate führten ihn zu den Festspielen nach
Bayreuth, Glyndebourne und Salzburg, an die Metropolitan Opera
New York, die Opéra National de Paris, die Mailänder Scala, die Staatsoper Berlin, die Kölner Oper, die Bayerische Staatsoper München, die
Hamburgische Staatsoper, die Königliche Oper Kopenhagen, die Oper
Zürich und die Netherlands Opera. Zudem arbeitet er häufig mit dem
BBC Symphony Orchestra, dem NDR Elbphilharmonie Orchester, dem
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Israel Philharmonic Orchestra, dem Orchestre de Paris, den Münchner Philharmonikern, den Wiener Symphonikern, dem Royal Concertgebouw Orchestra
und sowohl den Berliner als auch den Wiener Philharmonikern. Zahlreiche CD-Einspielungen dokumentieren seine Arbeit, darunter Gesamtaufnahmen von Humperdincks »Hänsel und Gretel«, Brittens »Billy
Budd« oder Wagners »Tristan und Isolde«. Neben seinen Aufgaben als
Dirigent ist Donald Runnicles auch ein gefragter Pianist und tritt bei
Kammerkonzerten und als Liedbegleiter auf. 2004 verlieh ihm Queen
Elizabeth II. den »Order of the British Empire«. Mit der Staatskapelle
Dresden nahm er 2008 eine Einspielung mit Auszügen aus dem »Ring«Zyklus auf und leitete hier zuletzt im November 2015 ein Konzert mit
Werken von Rachmaninow, Elgar und Sibelius.
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8. SYMPHONIEKONZERT
Geir Draugsvoll Bajan
G
eir Draugsvoll gilt international als einer der wichtigsten
Musiker auf seinem Instrument, dem Bajan – einer osteuropäischen Variante des Chromatischen Knopfakkordeons.
Während der letzten zehn Jahre sorgte er für Schlagzeilen,
die ihn u. a. eine musikalische Sensation nannten. Mit
einem Repertoire, das von Bach, Mozart, Grieg und Strawinsky bis zu
zeitgenössischen Komponisten wie Sofia Gubaidulina, Luciano Berio
und Astor Piazzolla reicht, trat er in ganz Europa auf und tourte auch
durch China und Japan. Dabei spielte er u. a. in der Mariinsky Hall
(St. Petersburg), dem Großen Saal des Moskauer Konservatoriums, der
Barbican Hall (London), der Alten Oper Frankfurt, dem Lockenhaus
Festival (Österreich), dem Edinburgh Festival, der Philharmonie Luxemburg, dem Rheingau Festival, dem Mittelfest (Italien), dem Konzerthaus
Berlin, der Laeiszhalle Hamburg, dem Bergen International Festival und
an zahlreichen anderen Orten.
Zu den namhaften Orchestern, mit denen er gemeinsam musiziert hat, gehören das London Symphony Orchestra, das Mariinsky
Orchestra, das Russian National Orchestra, das Netherlands Symphony
Orchestra, die Kremerata Baltica, die Moscow Soloists, das Norwegian
Radio Symphony Orchestra und viele andere. Er stand bereits mit Valery
Gergiev, Vasily Petrenko, David Geringas, Yuri Bashmet und Reinbert de
Leeuw auf der Bühne.
Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit zahlreichen lebenden
Komponisten gilt Draugsvoll als Pionier seines aus klassischer Sicht
relativ jungen Instruments und ist für eine Reihe von Uraufführungen
verantwortlich. Eine der maßgeblichsten Uraufführungen spielte er
am 13. November 2009, als Sofia Gubaidulinas »Fachwerk« für Bajan,
Schlagzeug und Streichorchester in Gent unter der Leitung von Reinbert
de Leeuw aus der Taufe gehoben wurde. Das Werk, das heute zur Aufführung kommt, hat die Komponistin Draugsvoll gewidmet.
Geboren wurde der norwegische Musiker 1967. Er lebt in Kopenhagen, wo er eine Professur für Akkordeon an der Königlichen Musikakademie innehat.
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8. SYMPHONIEKONZERT
Sofia Gubaidulina
C A P E L L - C O M P O S I T R I C E 2 0 1 6 / 2 0 17 D E R
S Ä C H S I S C H E N S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N
D
em Dresdner Publikum ist Sofia Gubaidulina spätestens seit
der Spielzeit 2014 / 2015 bekannt, als sie hier schon einmal
den Titel der Capell-Compositrice trug. Die damalige Zusammenarbeit erwies sich als überaus glücklich und führte zu
dem Wunsch der Komponistin, neue Werke für die Staatskapelle zu schreiben. Ihr Anliegen greift die Staatskapelle gern auf und
freut sich auf eine weitere produktive Partnerschaft mit einer der bedeutendsten und meistgespielten Komponistinnen der Gegenwart, die am
24. Oktober 2016 ihren 85. Geburtstag gefeiert hat. Mit »Der Zorn Gottes«
wird sie im 10. Symphoniekonzert ein neues Orchesterwerk vorstellen,
das sie für die Staatskapelle und Chris­t ian Thielemann geschrieben hat.
Ihre Ausnahmestellung ist an den unzähligen Kompositionsaufträgen durch namhafte Institutionen, an den vielen Einspielungen ihrer
Musik durch renommierte Künstler und an der schier endlosen Reihe von
Ehrungen ablesbar – eine beeindruckende Karriere, die sich auch durch
die äußeren Widerstände und Restriktionen in den Anfangsjahren ihres
Schaffens nicht aufhalten ließ. Die sowjetische Kritik begegnete ihr mit
Skepsis, Musikfunktionäre lehnten ihre Musik ab, weil ihr die gesellschaftliche Relevanz fehle. Dies bedeutete nicht nur lange Zeit Ruhm
hinter vorgehaltener Hand, sondern auch Diffamierungen, Ausreise- und
Aufführungsverbote. Offizielle Anerkennung und öffentliches Interesse
blieben der Künstlerin vorerst versagt. Der internationale Durchbruch
gelang 1981 mit der Uraufführung ihres ersten Violinkonzerts »Offertorium« in Wien durch Gidon Kremer – nicht zuletzt dank seines Einsatzes
hielten ihre Werke rasch Einzug in die Konzertprogramme weltweit.
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In ihre Partituren flossen Elemente östlicher Philosophie ein, sie
vertonte altägyptische und persische Dichter, aber auch Lyrik des
zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre tiefe Verbundenheit mit der deutschen
Kultur wirkt sich ebenso auf ihr Schaffen aus wie ihre Religiosität –
das Komponieren ist für sie ein sakraler Akt. Eine besondere Nähe
fühlt sie zur Musik Bachs, was sich in ihrem Sinn für musikalische
Formen und Proportionen, in ihrer Vorliebe für Zahlenspiele und
-symbolik spiegelt. »Den größten Einfluss auf meine Arbeit«, bekennt
die Komponistin allerdings, »hatten Dmitri Schostakowitsch und
Anton Webern. Obwohl dieser Einfluss in meiner Musik scheinbar
keine Spuren hinterlassen hat, ist es doch so, dass mich diese beiden
Komponisten das Wichtigste gelehrt haben: ich selbst zu sein.«
8. SYMPHONIEKONZERT
SPIEGELBILDER DER SEELE
Benjamin Britten
Brittens »Four Sea Interludes«
* 22. November 1913 in Lowestoft
† 4. Dezember 1976 in Aldeburgh
»Four Sea Interludes« op. 33a
aus der Oper »Peter Grimes«
1. Dämmerung. Lento e tranquillo
2. Sonntagmorgen. Allegro spirituoso
3. Mondschein. Andante comodo e rubato – attacca
4. Sturm. Presto con fuoco
E N T S T EH U N G
BESETZUNG
zwischen Januar 1944
und Februar 1945
2 Flöten (beide auch Piccolo),
2 Oboen, 2 Klarinetten
(2. auch Es-Klarinette),
2 Fagotte, Kontrafagott,
4 Hörner, 3 Trompeten,
3 Posaunen, Tuba, Pauken,
Schlagzeug, Harfe, Streicher
U R AU F F Ü H R U N G
am 7. Juni 1945 an der Sadler’s
Wells Opera London
(Dirigent: Reginald Goodall)
DAU ER
ca. 15 Minuten
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B
enjamin Britten hatte in seiner englischen Heimat schon mit
Werken wie der »Simple Symphony« op. 4 oder den »Variations on a Theme of Frank Bridge« op. 10 auf sich aufmerksam
gemacht, als er im Sommer 1939 gemeinsam mit seinem
Freund, dem Tenor Peter Pears, nach Amerika aufbrach. Der
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stand unmittelbar bevor, in der »Neuen
Welt« erhofften sich beide bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Fast drei Jahre blieben Britten und Pears in den USA, hier entstanden
Werke wie die »Sinfonia da Requiem« oder die »Michelangelo-Sonette«.
Und doch spürte Britten schon bald eine große Sehnsucht nach seiner
Heimat – die noch verstärkt wurde, als er im Sommer 1941 in Kalifornien
auf eine Versdichtung des englischen Dichters George Crabbe (17541832) stieß, die in Brittens Heimat Suffolk spielte. Sofort war der Komponist Feuer und Flamme; mit der Geschichte um den tragischen Fischer
Peter Grimes hatte er das Sujet für seine erste Oper gefunden! Über
den Dirigenten Serge Koussevitzky und dessen Musikstiftung erhielt er
einen Kompositionsauftrag, ausgearbeitet hat er das Werk in den Jahren
1944 / 45, nach seiner Rückkehr nach England. Am 7. Juni 1945 ging
»Peter Grimes« in der Londoner Sadler’s Wells Opera mit sensationellem
Erfolg über die Bühne, Pears sang die Titelrolle. Schon bald galt das
Werk als »die« englische Nationaloper des zwanzigsten Jahrhunderts.
Noch vor der Opernuraufführung stellte Britten vier der insgesamt
sechs orchestralen Vor- und Zwischenspiele zu einer Suite zusammen,
um sie unter dem Titel »Four Sea Interludes« (Vier See-Zwischenspiele)
op. 33a auch für den Konzertsaal zugängig zu machen. Die Zwischenspiele boten sich für diese Art der Bearbeitung an, da sie bereits in der
Oper – ganz ähnlich wie die Zwischenmusiken in Debussys »Pelléas et
Mélisande« oder Schostakowitschs »Lady Macbeth von Mzensk« – die
Funktion kleiner »Tondichtungen« übernehmen, in denen die Hand-
8. SYMPHONIEKONZERT
Benjamin Britten in Dresden (April 1955)
lung, das Innen- und Außenleben der Personen, gespiegelt wird. Bei der
Zusammenstellung hielt sich Britten weitgehend an die Reihenfolge der
Oper – mit einer Ausnahme: Die furiose Sturmmusik, das Zwischenspiel
aus dem ersten Akt, stellte er ans Ende der Suite – wohl, um eine stärkere
Schlusswirkung zu erzielen. In dieser Form gibt sich das Werk als eine
»symphonische« Folge von See- bzw. Seelenbildern, zwischen Tag und
Nacht, Ruhe und Sturm.
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Auch wenn man also die Hand»Den größten Teil meines Lebens
lung – die tragische Geschichte
habe ich in enger Berührung
eines unverstandenen Außenmit dem Meer verbracht. In
seiters, der von der Gesellschaft
›Peter Grimes‹ wollte ich mein
letztlich zum Selbstmord getrieben
Wissen um den ewigen Kampf
wird – nicht kennt, kann man die
von Männern und Frauen, deren
Musik der »Four Sea Interludes«
Existenz vom Meer abhängig ist,
nachvollziehen. Die einleitende
zum Ausdruck bringen.«
»Dämmerung« (»Dawn«) zeichnet
Benjamin Britten
mit dem Wechsel zwischen einer
Violin-Kantilene, einer spielerischen Bewegung u. a. der Klarinetten und
dem erwachenden Bläsersatz ein Bild von Luft, Wellen und Weite. In der
Oper verbindet diese Musik das »Vorspiel« mit dem ersten Akt. »Sunday
Morning« (Sonntagmorgen), das Vorspiel zum zweiten Akt, wird durch
den Klang der Hörner eröffnet, die – gemeinsam mit den anderen Instrumenten – das sonntägliche Glockengeläut nachahmen. In klanglichem
Gegensatz dazu beginnt mit einer ruhigen Linie der Streicher der Kirchgang. Einen Ruhepol bildet das Vorspiel zum dritten Akt, »Moonlight«
(Mondschein), das sich in den tiefen Streichern und Bläsern ausdrucksvoll
entfaltet, durchzuckt von Einwürfen in Flöte und Harfe, später im Xylophon. Der Schlusssatz beruht im Wesentlichen auf einem chromatischen
Hauptthema, das mit heftigen Impulsen von Höhepunkt zu Höhepunkt
jagt: ein Bild der aufgepeitschten See. Am Ende scheint in den Streichern
eine expressive Kantilene auf – in der Oper die Vision von einem glücklicheren Leben –, die aber vom Sturm regelrecht hinweggefegt wird.
Nach dem großen Erfolg seines »Opernerstlings« verfolgte Britten
den eingeschlagenen Weg konsequent weiter; fortan komponierte er in
erster Linie Opern und Vokalmusik – meistens mit einer zentralen Partie
für Pears – und festigte mit Werken wie »The Rape of Lucretia«, »The
Turn of the Screw« oder »Death in Venice«, seinem letzten Bühnenwerk,
seinen Ruf als einer der bedeutendsten Opernkomponisten des zwanzigsten Jahrhunderts. Die mit »Peter Grimes« einsetzende künstlerische
Umorientierung ging übrigens mit einer geografischen einher: Ab 1947
ließen sich Britten und Pears in Aldeburgh nieder, jenem Ort in der
Grafschaft Suffolk, der so großen Anteil am Erfolg der Oper hatte und
wo Britten zum Mittelpunkt des seit 1948 alljährlich stattfindenden
Aldeburgh Festivals wurde.
TOBIAS NIEDERSCHL AG
Am 13. April 1951 spielte die Staatskapelle die Dresdner Erstaufführung
der »Four Sea Interludes«, die seither in den Kapellkonzerten 2006 unter
Yannick Nézet-Séguin und 2012 unter Sir Colin Davis erklungen sind.
8. SYMPHONIEKONZERT
Sofia Gubaidulina
* 24. Oktober 1931 in Tschistopol (Tatarische Autonome Sowjetrepublik)
VERSTREBUNGEN
Gubaidulinas »Fachwerk«
»Fachwerk«
für Bajan, Schlagzeug und Streichorchester
S
E N T S T EH U N G
BESETZUNG
2009
Bajan, Schlagzeug
und Streicher
WIDMUNG
Geir Draugsvoll,
Professor für Akkordeon an der
Königlichen Musikakademie
Kopenhagen
U R AU F F Ü H R U N G
13. November 2009 mit
Geir Draugsvoll (Bajan),
Anders Loguin (Schlagzeug)
und der Amsterdam Sinfonietta
unter Reinbert de Leeuw
in Gent (Belgien)
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DAU ER
ca. 36 Minuten
ie gilt als lebende Legende der Neuen Musik und als wichtigste
russische Komponistin der Gegenwart – Sofia Gubaidulina.
Ihre Prägung als Komponistin erfährt sie in den Jahren des
Kommunismus, als ihre Werke von den sowjetischen Funktio­
nären mehrheitlich verschwiegen werden. Unbeirrt geht sie
ihren Weg und wird darin unter anderem von Dmitri Schostakowitsch
bestärkt. Die Musik und ein tief verwurzelter Glaube geben ihr Zuflucht
vor der Realität der Terror- und Kriegsjahre, in die sie hineingeboren
wird: »Ich habe in diesen Jahren oft gebetet«, erinnert sie sich, »zu
Hause, wenn ich allein war, im Wald … Und als ich einmal eine Sternschnuppe fallen sah, wünschte ich mir, Komponistin zu werden … So
betete ich, dass Gott mir aus dieser ausweglosen Situation auf den Weg
helfen solle. Aber wie – das wusste ich auch nicht.« Dabei kommt es zu
einer Konstellation, die für ihr Schaffen beispielhaft wird: Die Verschränkung der Vertikalen, der Sternschnuppe als Symbol für eine göttliche
Himmelserfahrung, mit der Horizontalen, ihrer irdischen Gebundenheit.
Im Augenblick ihres Aufeinandertreffens kreuzen sie sich, symbolhaft
dargestellt im Kreuz Jesu oder in Verstrebungen, die eine bestimmte
Form zum Ausdruck bringen.
Die Konstruktion eines Fachwerks steht stellvertretend für eine
Ordnung, in der ein gegenseitiges Abstützen maßgeblich dazu beiträgt,
dass überhaupt etwas entsteht. Der Titel ihrer Komposition »Fachwerk«,
bemerkt Gubaidulina, könne unmittelbar auf ihre »Begeisterung für die
architektonische Besonderheit von Fachwerkhäusern zurückgeführt
werden. Dies ist ein hoch spezialisierter, einzigartiger Stil, bei dem
die konstruktiven Elemente eines Gebäudes nicht hinter der Fassade
versteckt sind, vielmehr offen gezeigt werden. Diese für die Statik
unverzichtbaren Elemente, also Wandstreben, Fenster- und Türverbindungen und Balkendecken bilden verschiedene geometrische Muster
8. SYMPHONIEKONZERT
und damit ein eigenes ästhetisches Phänomen. Und manchmal scheint
hinter dieser Schönheit ein noch tieferes Phänomen durch, ein wesentliches, systeminternes Phänomen.« Das freigelegte Fachwerk macht den
Bauplan sichtbar, dem es zugrunde liegt. Wesentliche Elemente sind der
sogenannte Wilde Mann – eine Variante des Strebenkreuzes – und das
Andreaskreuz mit zwei diagonal verlaufenden sich kreuzenden Balken.
Der Name verweist auf den Apostel Andreas, der als Märtyrer an einem
solchen Kreuz gestorben ist, nachdem er die Frau des Statthalters in
Patras geheilt, bekehrt und sie zur ehelichen Enthaltsamkeit angehalten
haben soll. Als Apostel Kleinasiens gilt er den Russen noch heute als Nationalheiliger, dessen Bedeutung für die orthodoxe Kirche vergleichbar ist
mit der seines Bruders Petrus für die römisch-katholische Kirche. Auch
hier wird eine Verschränkung von christlicher Symbolik und architektonischem Formsinn deutlich, in deren Fluchten sich Gubaidulina durchaus
heimisch fühlt, wohnt sie doch seit ihrem Weggang aus Russland 1991
bald in Appen in der Nähe von Hamburg, wo Fachwerkbauten vielerorts
das Stadtbild prägen. Man kann sich gut vorstellen, wie die Tragekonstruktion zusammengesetzt ist und das lateinische Verbum componere
seine ureigene Bedeutung für ein solches Zusammenfügen zurückerlangt. Stück für Stück wird ein Formteil erarbeitet. Man wirkt fort,
unterbricht, führt einen anderen aus, kehrt zum ersten zurück, setzt an
und verfüllt nach und nach die Zwischenräume, beim Fachwerk Gefache
genannt, die meist durchsetzt sind mit Holzgeflecht und Lehmbewurf –
alles klassische Arbeiten eines Zimmermanns, dem obendrein eine
besondere Funktion in der christlichen Heilslehre zukommt. Regelrecht
zimmermannsmäßig werden die Holzteile miteinander verbunden, unter
weitestmöglichem Verzicht auf metallische Verbindungsmittel wie Nägel
oder Schrauben. Die Verstrebungen sind gefügt, geflochten. Aus dieser
Bedeutung leitet sich auch die mittelhochdeutsche Bezeichnung »vach«
für ›Flechtwerk‹ ab. Etymologisch ist ›Fach‹ auch mit ›fügen‹, ›Fuge‹
verwandt – ein Fach-Werk also, dass im weitesten Sinne gefügt ist.
Aspekte einer universalen Ordnung
Damit deutet sich an, wie Gubaidulina ihr Werk (oder sollte man besser
sagen Klanggebäude?) für Bajan, Schlagzeug und Streichorchester
konstruiert: »Ich habe mir vorgestellt, dass man auch in der Musik etwas
zeigen könnte, das an diesen Stil erinnert«, erläutert die Komponistin,
»d. h. so zu komponieren, dass die Konstruktion eines bestimmten
Instrumentes sichtbar gemacht und in etwas Ästhetisches umgewandelt
wird.« Die Komponistin denkt dabei an den Bajan, eine in Russland weit
verbreitete Form des Akkordeons mit speziellen Funktionen. In Russ-
16
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Reinheit des Ausdrucks: Sofia Gubaidulina
8. SYMPHONIEKONZERT
land, wo Handzuginstrumente vor allem in den ländlichen Regio­nen
eine lange Tradition haben, wird der Begriff Bajan hauptsächlich für
Akkordeons mit einer fünf- oder sechsreihigen linken Tastatur und
einer drei- oder fünfreihigen rechten Tastatur verwendet. Schnell steigt
das Instrument in der Gunst der zeitgenössischen Komponisten. Man
strebt nicht mehr danach, Orgel oder Klavier nachzuahmen, sondern
erforscht das spezifisch Eigene der Tonfärbung. Das führt zu einer fast
experimentellen Anwendung von Klangballungen, Zittertönen, Biegeund Ziehtönen sowie Schnauf- und Keuchgeräuschen. 1994 bekennt der
Finne Magnus Lindberg: »Das außerordentlich große dynamische und
klangliche Spektrum des Akkordeons, sein von der Beschaffenheit der
Manuale herrührendes ›virtuoses Potential‹, seine harmonischen und
polyphonen Möglichkeiten und die dem Bogen des Streichinstruments
vergleichbaren Charakteristiken der Balgführung machen es für mich
zu einem enorm faszinierenden Instrument.« Mauricio Kagel hebt die
Mischung aus »Bauchorgel, Schoßharmonium und Kniemundharmonika« hervor und verwendet nicht zufällig Begriffe aus dem Bereich
des menschlichen Körpers. Der italienische Komponist Salvatore Sciarrino bewundert die dem Akkordeon innewohnende Kraft zum Atmen.
Adriana Hölszky, die das Akkordeon als Blasinstrument mit Klangfarbenänderungen und Schwebungen gedehnter Töne erkundet, reizt
hingegen »dieses Nervöse, dieser ständig vibrierende flatternde Klang«.
Und Sofia Gubaidulina? Auch sie sorgt maßgeblich für die Verbreitung
des Instruments in der Kunstmusik. In »Fachwerk« verfolgt sie einen
kompositorischen Ansatz, der die Strukturen der Verstrebungstypen auf
den Bajan zu übertragen versucht: »Ein Musikinstrument gibt es in der
Tat, mit dem man diese Idee verwirklichen könnte. Es ist der Bajan, auf
dem man die Tastatur aus dem melodischen in den akkordischen Modus
umschalten kann.« Im Gegensatz zum Akkordeon hat der Bajan auf
beiden Seiten Knöpfe und kann Basstöne auch nicht-akkordisch wiedergeben. »In dieser Struktur gibt es im Prinzip eine Dominante (die melodische Linie oben), eine Subdominante (die melodische Linie unten) und
eine Tonika (Akkorde im Zentrum des Systems) – drei Aspekte, die das
Wesen der universalen Ordnung bestimmen«, erläutert Gubaidulina und
richtet den Blick wiederum auf die Bedeutung von Gliederungen. Ergänzend fügt sie hinzu: »In meiner Komposition für Bajan, Schlagzeug und
Streicher habe ich versucht, diese Eigenschaft des Instruments in den
kadenzierenden Momenten einer Variationsform aufzuzeigen. In einem
der wichtigsten Abschnitte jedoch klingt die Akkordfolge der im Akkordmodus gespielten Klaviatur gleichzeitig mit ihrer melodischen Variante.
Und hier könnte ich ohne Übertreibung sagen: Diesen Abschnitt hat das
Instrument selbst komponiert.«
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»Verweilen der Seele im Geistigen«
Zu Beginn agiert das Soloinstrument tonal, wenngleich akkordisch unverbunden, statisch, um zunächst ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen.
Gubaidulina geht es um ein Austarieren im Sinne eines Vermessens,
bevor die einzelnen Teile miteinander ›verfugt‹ werden. Später, wenn die
Konturen eines Rohbaus sichtbar sind, macht der Bajan Einwürfe, die
wie Verwitterungseinlagerungen ›klingen‹ – Zeugen aus einer anderen,
keineswegs verstummten Zeit. »Das wichtigste Ziel eines Kunstwerkes«,
sagt sie einmal, ist »die Verwandlung der Zeit. Der Mensch trägt diese
andere Zeit – die Zeit des Verweilens der Seele im Geistigen – in sich.
Doch kann sie verdrängt werden durch unser alltägliches Zeiterleben,
in dem es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern lediglich
das Gleiten auf dem schmalen Grat einer sich unablässig bewegenden
Gegenwart gibt. Die Aktivierung der anderen, essentiellen Zeit kann nur
im Kunstwerk stattfinden.« Es ist die Ästhetik eines Erzeugnisses, das
aus einer anderen Zeit stammt und dennoch präsent ist. Sein Anspruch
auf Gegenwart gilt ungemindert, auch wenn es zeitentrückt scheint.
Mitunter entwirft Gubaidulina Visionen eines Dies-irae-Szenarios, in dem
das Gebaute zum Prüfstein des Gefügten wird – ein Wille zu Vernichtung, dem das Vorhandene jedoch stand hält und schließlich in einen
»hoffnungsvollen Glockenklang mündet«, wie es der Musikkritiker Klaus
Ackermann beschreibt. »Fachwerk«, das bereits dreißig Aufführungen
weltweit erlebt hat, steht repräsentativ für Gubaidulinas Œuvre. Ihr
Schaffen kennzeichnet ein fast vollständiges Fehlen von absoluter Musik.
Auf geradezu selbstverständliche Weise reichen ihre Werke meist über
das rein Musikalische hinaus – sei es ein Text, ein Ritual oder eine instrumentale Aktion. Unverändert gilt, was Gidon Kremer über die Welt von
Gubaidulina gesagt hat, indem er auf die Beseeltheit ihrer Werke hinwies:
Ihre Musik »wühlt nie in den uns umgebenden Geräuschen herum. Ihre
Welt ›säubert‹ diese Geräusche und erhebt uns in andere Dimensionen.«
Komponieren versteht Gubaidulina als einen fast schon ›vegetativen‹
Akt: »Es gibt Komponisten, die ihre Werke sehr bewusst bauen, ich zähle
mich dagegen zu denen, die ihre Werke eher ›züchten‹« – und wendet
den Blick schließlich ab von einer rein rationalen Bewältigung von Form
und Materie: »Nicht konstruieren, nein, nicht konstruieren! Komponieren
besteht nicht aus intellektueller Arbeit. Es ist das Hören überhaupt, was
den einen Weg von dem anderen unterscheidet«, lautet ihr Credo. Fernab
der Verstrebungen von Stoff und Zeit vermittelt sich das Geheimnis des
Hörens darin, die gewohnten Verknüpfungen aufzuheben und sich neue
Verbindungen der Intuition zu erschließen.
ANDRÉ PODSCHUN
8. SYMPHONIEKONZERT
Ralph Vaughan Williams
* 12. Oktober 1872 in Down Ampney (Gloucestershire)
† 26. August 1958 in London
NEUES AUS DEM GEISTE DER
RENAISSANCE
Vaughan Williams’ »Tallis-Fantasie«
Fantasie über ein Thema
von Thomas Tallis
für doppeltes Streichorchester
R
E N T S T EH U N G
BESETZUNG
1910 im Auftrag des englischen
»Three Choirs Festival« über
ein Thema von Thomas Tallis;
1913 und 1919 revidiert
mehrfach unterteiltes
Streichorchester
DAU ER
ca. 17 Minuten
U R AU F F Ü H R U N G
am 6. September 1910 in der
Kathedrale von Gloucester
(London Symphony Orches­t ra,
Dirigent: Ralph Vaughan
Williams)
20
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alph Vaughan Williams war ein ausgesprochener »Spätentwickler«: Sein Lehrer Henry Wood glaubte nicht daran, dass
jemals ein Komponist aus ihm werden könnte, die Studienkollegen (ausgenommen sein Freund Gustav Holst) hielten ihn
für hoffnungslos unbegabt, und auch er selbst beklagte noch
Jahre später seine »amateurhafte Technik«. Noch 1908, als 36-Jähriger,
ging er nach Paris, um einige Monate lang bei Maurice Ravel zu lernen.
Dass sich Vaughan Williams während seiner Ausbildung nicht hervortun
konnte, ist wohl aus einer gewissen Ratlosigkeit zu erklären: Seine
Lehrer, neben Wood vor allem Hubert Parry und Charles Villiers Stanford, richteten sich noch stark an der deutschen Romantik aus; der junge
Komponist spürte aber, dass diese ästhetische Orientierung in einer Zeit
des sozialen und kulturellen Umschwungs keine Zukunft haben konnte.
Erst allmählich wurde aus vagem Unbehagen eine künstlerische Vision:
Die englische Musik konnte sich nicht durch Imitation fremder Modelle,
sondern nur aus ihren eigenen Traditionen heraus erneuern. Volks- und
Kunstmusik waren Vaughan Williams dabei gleich wichtig. Wie Kodály
und Bartók einige Jahre später, sammelte auch er Volkslieder (insgesamt
mehr als 800 Lieder und Varianten). Und als promovierter Musikwissenschaftler befasste er sich mit der Edition älterer englischer Musik, etwa
von Henry Purcell.
Diese musikwissenschaftlichen Aktivitäten wirkten sich auch auf
sein kompositorisches Schaffen aus: Vaughan Williams erforschte die
charakteristischen Intervalle, Konturen und Rhythmen der englischen
Musik und schuf daraus einen eigenen Stil, der vom Publikum bald als
persönlich und zugleich »typisch britisch« wahrgenommen wurde. Ein
entscheidender Schritt auf dem Weg dahin gelang ihm 1910. Als das
8. SYMPHONIEKONZERT
»Three Choirs Festival« ihm in diesem Jahr einen Kompositionsauftrag
erteilte, entschied er sich, dem Werk ein Thema des englischen Renaissance-Komponisten Thomas Tallis (um 1505-1585) zugrunde zu legen.
Mit der Melodie hatte er sich bereits 1906 zum ersten Mal befasst; für
seine Neuausgabe des Kirchengesangbuchs »The English Hymnal« hatte
er sie harmonisiert und ihr Joseph Addisons Hymnus »When rising from
the bed of death« unterlegt. Nun bearbeitete er das Thema in Form einer
»Fantasia« – so nannte man im England des sechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts eine Gattung von Instrumentalstücken, die sich aus den
vokalen Motetten und Madrigalen entwickelt hatte. Eine solche Fantasia
(auch »Fancy« genannt) gliederte sich in zahlreiche, deutlich voneinan­der getrennte Abschnitte, in denen eine imitatorische Behandlung der
Themen überwog.
Vaughan Williams gewinnt sein thematisches Material vor allem
dadurch, dass er die Tallis-Melodie in ihre einzelnen Phrasen zerlegt.
Diese verarbeitet er dann auf höchst mannigfaltige, fantasievolle Weise;
die Bandbreite seiner Mittel reicht von blockhaft aneinander gereihten
Akkorden bis hin zu dichtester Polyphonie. Eine wichtige Rolle für
Struktur und Klang des Stücks spielt die Aufteilung des Orchesters. Es
besteht nach der Vorgabe des Komponisten aus drei Gruppen unterschiedlicher Stärke, die getrennt voneinander aufzustellen sind: ein
großes Streicherensemble, ein kleineres und schließlich ein Streichquartett (das von den Stimmführern des großen Ensembles übernommen
wird). Mit dieser Bildung verschiedener »Chöre« greift Vaughan Williams
auf historische Vorbilder zurück und schafft doch eine völlig eigenständige, originelle Komposition.
Ähnliches gelingt ihm auch auf dem Gebiet der Harmonik: Tallis’
Melodie steht in einer der alten Kirchentonarten, nämlich der phrygischen, und Vaughan Williams entwickelte daraus für sein Werk eine
konsequent modale (d. h. dur-moll-geprägte) Harmonik – ein damals
unerhörtes Vorgehen. Nun musste zwar das System der Kirchentonarten
in der Kunstmusik schon um 1600 dem modernen Dur-Moll-System
weichen, doch in der Volksmusik der britischen Inseln ist es bis heute
lebendig. Deshalb klang Vaughan Williams’ Musik in den Ohren seiner
Zeitgenossen modern und vertraut zugleich. Oder, wie es der Musikkritiker Fuller Maitland nach der Uraufführung formulierte: »Von Anfang
bis Ende ist man nie ganz sicher, ob man etwas ganz Altes oder etwas
ganz Neues hört.«
JÜRGEN OSTM ANN
Am 17. / 18. Juni 1976 spielte die Staatskapelle die DDR-Erstaufführung der
»Tallis-Fantasie«, Dirigent war der Amerikaner Lawrence Foster.
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Bedeutender britischer Symphoniker: Ralph Vaughan Williams (um 1920)
8. SYMPHONIEKONZERT
IM SÜDEN
Edward Elgar
* 2. Juni 1857 in Broadheath bei Worcester
† 23. Februar 1934 in Worcester
»In the South« (Alassio)
Konzertouvertüre für Orchester op. 50
E N T S T EH U N G
BESETZUNG
Winter 1903 / 04
3 Flöten (3. mit Piccolo),
2 Oboen, Englischhorn,
2 Klarinetten, Bassklarinette,
2 Fagotte, Kontrafagott,
4 Hörner, 3 Trompeten,
3 Posaunen, Tuba, Pauken,
Schlagzeug, Harfe und
Streicher
WIDMUNG
Leo F. Schuster
Musikliebhaber, Freund und
Unterstützer von Elgar
U R AU F F Ü H R U N G
16. März 1904 im Royal Opera
House, Covent Garden, London
mit dem Hallé Orchestra unter
Leitung des Komponisten
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DAU ER
ca. 22 Minuten
Elgars »In the South«
I
n Alassio, irgendwo an der Riviera di Ponente zwischen Genua und
Nizza, wird Edward Elgar klar, was es heißt, wenn die Sphären
sich berühren. Er befindet sich auf einem Spaziergang, das Wetter
ist schlecht, als die Eingebung jäh dazwischen schlägt: »Wie ein
Lichtblitz kam es über mich – die Bäche, die Blumen, die Hügel;
die entfernten schneebedeckten Berge auf der einen Seite und auf der
anderen das blaue Mittelmeer; das Aufeinandertreffen der Heere vor
sehr langer Zeit an genau diesem Ort, wo ich nun stand; der Kontrast
von Ruinen und Hirten – und dann, ganz plötzlich, war ich wieder in
der Realität. In diesem Moment hatte ich die Ouvertüre komponiert.
Ich musste sie nur noch aufschreiben.« Elgar zeichnet eine Stimmungslandschaft, die sich zu einem Seelengemälde weitet. Die Wechselspiele
der Geschichte führen vor Augen, wie Generationen um Generationen
die malerische Kulisse zu etwas geformt haben, was keineswegs abgeschlossen vorliegt. Der Faden der Erinnerung reicht in die Gegenwart. Er
wird von jenen weiter gesponnen, die ihn bereitwillig aufnehmen. Und
das sind nicht wenige. Ende des neunzehnten Jahrhunderts steigt Alassio
zu einem besonders bei Engländern beliebten touristischen Zentrum auf.
Die Familie Hanbury legt die botanischen Gärten bei Ventimiglia an.
Man frönt der Landschaft und dem Klima. So auch die Elgars. Im Winter
1903 / 04 weilen sie an der ligurischen Küste und beziehen ihr Feriendomizil in einem Nachbarort von Alassio. Über die Anfänge der Ouvertüre fährt der Komponist fort: »Ich habe diese Musik an einem langen
und wunderschönen Tag im Freien im Tal von Andora gewebt. Und sie
versucht nicht, über jene Impression hinauszugehen.« Darin klingt die
Freude über eine neu gewonnene Freiheit an, die schwer erarbeitet ist.
Nach dem großen Erfolg seines Oratoriums »The Apostles« im Herbst
1903 kann sich Elgar einen ersten Urlaub leisten. Und ist dabei produktiv,
Erfolg spornt an. Erste Skizzen zu einer geplanten Symphonie gehen über
in ein Werk, das an die Tradition der Konzertouvertüre von Mendelssohn anknüpft. Es ist jene Anverwandlung in eine Gegend mit ihren
Menschen, die zu einer schöpferischen Spannkraft führt. »Vielleicht
meine eigenen Eindrücke und Gefühle – Romantik, wenn man so will –
in angenehmer Umgebung und geistesverwandter Gesellschaft«, wie
Elgar es nennt. Der Beginn der Ouvertüre entfesselt eine Flutwelle, die
8. SYMPHONIEKONZERT
eine vitale Kraft in das Werk hineinträgt. Doch stammt das eröffnende
Motiv der Hörner, Bratschen und Celli aus Elgars bereits 1898 skizzierten
»Stimmungen von Dan«. Dan ist nichts anderes als die Bulldogge von
G. R. Sinclair, dem Organisten der Hereford Cathedral, in dessen Gästebuch Elgar mehrere Entwürfe von Dans Späßen festgehalten hat. »Dan
triumphiert nach einem Kampf!«, lautet das ursprüngliche Motiv, das
seine Aufnahme schließlich in die Ouvertüre findet. Es verrät eine stilis­
tische Verwandtschaft zu Richard Strauss. Emphatischer Aufschwung,
melodische Eleganz, harmonische Elastizität und dramatische Beweglichkeit – alles Schlagworte, die man gern mit dem bayerischen Komponisten verbindet – sind ebenso in Elgars Ouvertüre bestimmend. Mitunter
scheint es, als ob die Silberklänge aus Strauss’ »Der Rosenkavalier« in
den Violinen (hier ohne Celesta) hervorschimmerten oder die Hörner,
Bratschen und Celli anfangs eine Variation auf das berühmte Eingangsthema des »Rosenkavalier«-Vorspiels anstimmten. In der lebhaften Szene
schafft Elgar Überblendungen. Charakteristische Einwürfe der Hörner in
den von Streichern getragenen melodischen Fluss erinnern neuerlich an
Strauss’ Handschrift. Lyrische Einsprengsel und verbreiterte Auftakte,
besonders in den ersten und zweiten Violinen, bilden eine Atmosphäre,
die kantable Geschmeidigkeit mit überschäumendem Ideenreichtum
koppelt. Italien steckt eben an. 1886 hatte das Land den 22-jährigen
Strauss bereits zu einer umfangreichen symphonischen Fantasie angeregt, die schlicht den Titel »Aus Italien« trägt. Beide Komponisten
verbindet viel, sie begegnen sich mehrmals. Strauss adelt Elgar 1902 gar
zum »ersten Progressiven Englands«. Der zweite Abschnitt der Ouvertüre, bezeichnet mit »Moglio« (eine Ortschaft unweit von Alassio), ist
deutlich ruhiger, gefolgt von zwei Zwischenspielen, deren erstes von
Elgar als »römischer Abschnitt« bezeichnet wird: »Ein Klangbild der
Kämpfe und Kriege, der Trommeln und Tritte späterer Zeiten«, wie der
Komponist erläutert. Wenn später die Solobratsche ihren Auftritt inmitten
der geteilten Streicher und Harfe hat, verweist Elgar auf »Harold en
Italie« von Hector Berlioz – klingendes Psychogramm einer wandernden
Seele in den Bergen des Apennin. Bei Berlioz verkörpert die Bratsche den
einsamen Protagonisten. Bei Elgar wird sie zu einem Hirten, der leise
sein Volkslied singt. Die Melodie dieser berückenden Serenade, auch
bekannt als »Canto Popolare«, verwendet Elgar später für die Vertonung
eines Gedichts von Shelley mit dem Titel »In Moonlight«. Der Komponist
drückt damit eine Wertschätzung für dieses Stück klingender Ruhe aus,
von dem eine friedliche Stimmung ausgeht. Doch endet die Ouvertüre in
einer ausgelassenen Feier, hymnisch bündelnd, was die Flut der Einfälle
dem Komponisten anfänglich beschert hatte.
Führender Komponist des Empire: Edward Elgar
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ANDRÉ PODSCHUN
8. SYMPHONIEKONZERT
8. Symphoniekonzert 2016 | 2017
Orchesterbesetzung
1. Violinen
Roland Straumer / 1. Konzertmeister
Thomas Meining
Jörg Faßmann
Michael Frenzel
Jörg Kettmann
Johanna Mittag
Susanne Branny
Barbara Meining
Martina Groth
Anett Baumann
Roland Knauth
Sae Shimabara
Franz Schubert
Michael Eckoldt
Raffael Novák
Ludovica Nardone
2. Violinen
Reinhard Krauß / Konzertmeister
Holger Grohs / Konzertmeister
Matthias Meißner
Stephan Drechsel
Jens Metzner
Olaf-Torsten Spies
Alexander Ernst
Robert Kusnyer
Elisabeta Schürer
Emanuel Held
Kay Mitzscherling
Martin Fraustadt
Yukiko Inose
Christian Dibbern*
Bratschen
Sebastian Herberg / Solo
Andreas Schreiber
Michael Horwath
Uwe Jahn
Ulrich Milatz
Zsuzsanna Schmidt-Antal
Susanne Neuhaus
Luke Turrell
Yi-Te Yang
Veronika Lauer
Christina Voigt**
Raimund Eckertz*
Violoncelli
Friedwart Christian Dittmann / Solo
Tom Höhnerbach
Uwe Kroggel
Volkmar Weiche*
Johann-Christoph Schulze
Jörg Hassenrück
Anke Heyn
Matthias Wilde
Aleisha Verner
Fernando García-Baró Huarte**
Kontrabässe
Viktor Osokin / Solo
Martin Knauer
Helmut Branny
Christoph Bechstein
Fred Weiche
Thomas Grosche
Johannes Nalepa
You Young Lee
Flöten
Andreas Kißling / Solo
Eszter Simon**
Carla Velasco*
Oboen
Sebastian Römisch / Solo
Andreas Lorenz
Volker Hanemann
Klarinetten
Wolfram Große / Solo
Jan Seifert
Martin Möhler**
Fagotte
Philipp Zeller / Solo
Erik Reike
Andreas Börtitz
Posaunen
Nicolas Naudot / Solo
Frank van Nooy
Jonathan Nuss**
Tuba
Hans-Werner Liemen / Solo
Pauken
Manuel Westermann / Solo
Schlagzeug
Bernhard Schmidt
Jürgen May
Stefan Seidl
Harfe
Isabel Goller**
Hörner
Robert Langbein / Solo
Andreas Langosch
Manfred Riedl
Miho Hibino
Trompeten
Helmut Fuchs / Solo
Gerd Graner
Johannes Häusle**
* als Gast ** als Akademist / in
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8. SYMPHONIEKONZERT
Vorschau
international
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engagement begeistern
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network
gewinnen Staatskapelle
tradition Dresden
junge Menschen fördern
friends
Netzwerk
Gesellschaft
close
hautnah
Außerordentlicher Kammerabend
Porträtkonzert der Capell-Compositrice
Sofia Gubaidulina
S A M S TAG 4 . 3.17 17 U H R
S CH LO S S K A P EL L E D E S
D R E S D N ER R E S I D E N Z S C H LO S S E S
Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden
Geir Draugsvoll Bajan
Andrej Kasik Klavier
Michael Schöch Klavier
Werke von Sofia Gubaidulina, Dmitri Schostakowitsch,
Johann Sebastian Bach, Anton Webern und Viktor Suslin
7. Kammerabend
S O N N TAG 2 6 . 3.17 2 0 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
GESELLSCHAFT DER FREUNDE DER
S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N E . V.
KÖNIGSTRASSE 1
01097 DRESDEN | GERMANY
I N F O @ G F S K D D . D E | W W W. G F S K D D . D E
Wir freuen uns auf Sie!
Come and join us!
Ensemble Bento
Paul Rivinius Klavier
Sabine Kittel Flöte
Anke Heyn Violoncello
Philippe Gaubert
»Pièce romantique« für Flöte, Violoncello und Klavier
Jean Françaix
Trio für Flöte, Violoncello und Klavier
Felix Mendelssohn Bartholdy
Trio c-Moll op. 66 für Klavier, Violine (Flöte) und Violoncello
8. SYMPHONIEKONZERT
IMPRESSUM
Sächsische
Staatskapelle Dresden
Künstlerische Leitung/
Orchesterdirektion
Sächsische Staatskapelle Dresden
Chefdirigent Christian Thielemann
Spielzeit 2016 | 2017
H E R AU S G E B E R
Sächsische Staatstheater –
Semperoper Dresden
© März 2017
R E DA K T I O N
André Podschun
G E S TA LT U N G U N D L AYO U T
schech.net
Strategie. Kommunikation. Design.
DRUCK
Union Druckerei Dresden GmbH
ANZEIGENVERTRIEB
Maria Grätzel
Persönliche Referentin
von Christian Thielemann
Jan Nast
Orchesterdirektor
Tobias Niederschlag
Konzertdramaturg,
Künstlerische Planung
André Podschun
Programmheftredaktion,
Konzerteinführungen
Matthias Claudi
PR und Marketing
Friederike Lochow
Assistentin des Orchesterdirektors
EVENT MODULE DRESDEN GmbH
Telefon: 0351 / 25 00 670
e-Mail: [email protected]
www.kulturwerbung-dresden.de
Elisabeth Roeder von Diersburg
Orchesterdisponentin
T E X T N AC H W E I S E
Steffen Tietz
Golo Leuschke
Wolfgang Preiß
Robert Mühle
Orchesterwarte
Die Einführungstexte von Tobias Niederschlag,
Jürgen Ostmann und André Podschun sind
Originalbeiträge für die Programmhefte der
Sächsischen Staatskapelle Dresden. Das Zitat
von Benjamin Britten auf S. 13: Norbert Abels,
Benjamin Britten, Reinbek bei Hamburg 2008.
B I L D N AC H W E I S E
Matthias Creutziger (S. 5); privat (S. 6); Bruno
Caflisch (S. 9); Archiv der Sächsischen Staatstheater (S. 12 und 23); Priska Ketterer (S. 17);
Jerrold Northrop Moore, Elgar. A Life in Photographs, London 1972 (S. 26)
Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht
werden konnten, werden wegen nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus
urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.
W W W. S TA AT S K A P E L L E - D R E S D E N . D E
32
Christian Thielemann
Chefdirigent
Staatskapelle
li e
Matthias Gries
Orchesterinspizient
Agnes Thiel
Dieter Rettig
Vincent Marbach
Notenbibliothek
W W W.FACEB O O K .CO M / STA AT SK A PELLE.D R E SD EN