Franziska Franz & Norbert J. Rottensteiner Anna und die Liebe in Frankfurt Liebesroman LESEPROBE 2 © 2017 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2017 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Pixabay: frankfurt-am-main-germany-1268886 Printed in Germany Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck ISBN 978-3-8459-2216-4 ISBN 978-3-8459-2217-1 ISBN 978-3-8459-2218-8 ISBN 978-3-8459-2219-5 Mini-Buch ohne ISBN AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. 3 Ein erster Blick Alexander Aus dem hohen Spiegel blickt mir ein schmales, entschlossenes Gesicht entgegen, in dessen Stirne wirre, schwarze Haare hängen. Ich sehe eigentlich noch recht passabel aus für meine vierunddreißig Jahre. Stolz bin ich darauf, dass sich der für diese Lebensperiode bei Männern übliche Bauchansatz noch nicht zeigt. Liegt zum Teil auch daran, dass mich meine Tätigkeit, mein Beruf, der mir nach dem Tode meines Vaters wie zufällig übergestreift wurde, auf Trab hält, so dass ich gar nicht in die Verlegenheit komme müßig und leger zu leben, wie ich das vor nicht einmal zwei Jahren als höchste Lebensphilosophie und Lebenszweck betrachtet habe. Seit Vaters Tod hat sich das allerdings radikal verändert. 4 Ob ich wollte oder nicht, stand gar nicht zur Debatte, ich musste das Geschäft übernehmen. Das Geschäft, dieses verdammte, verflixte, zeitraubende, nerven-raubende, antriebraubende Lebenszeit wie Lebenskraft raubende Antiquitäten-Geschäft. Der mittelgroße Laden, in der besten Lage für Antiquariate, der Braubachstraße, darin eine einzige Mitarbeiterin, die Vater damals eingestellt hatte, Frau Wiegert, ein eisernes Regiment führt und die ich beim besten Willen nicht vor die Türe setzen kann und will, wiewohl ich anfangs schnell mit dem Gedanken gespielt habe, das Erbe, dieses lästige, ausufernde und mit Außenständen, Schulden behaftete Geschäft samt Lagerraum, der sich im nördlichen Industrieviertel der Stadt befindet, an den erstbesten Interessenten zu verscherbeln. Und da gab es einige, die diesen Laden mit Handkuss in Bausch und Bogen übernehmen wollten! Weiß Gott, in den ersten Tagen nach der Beerdigung standen die Käufer Schlange. 5 Ich sehe noch Wiegerts weinerliche Blicke, wenn wieder einmal ein Interessent die hohe Glas-Türe auftat und die helle Klingel ertönte. Sie schrak stets zusammen und verzog sich daraufhin rasch in die hinteren Räume, während ich jeden einzelnen Käufer höflich hinaus komplimentierte und dabei mehr als einmal insgeheim mich dafür verfluchte, denn die Angebote, die Summen also, die man mir ohne viel Feilschens für den Laden bot, waren mehr, als ich mir in meinen kühnsten Träumen erhofft hatte. Dennoch musste ich standhaft bleiben und ärgerte mich verlässlich jeden Tag auf` s Neue darüber. So, also heute den dunklen Anzug ausgewählt. Schließlich muss ich auf der Auktion einen halbwegs passablen Eindruck hinterlassen, denn dort geht es um einiges. Duftwasser, hoppla, nicht zu viel! Rasch die widerspenstigen, störrischen Haare in Ordnung gebracht, jetzt das frische, schneeweiße Hemd. Passt! 6 Ich höre, wie unten die Eingangstüre aufgesperrt wird. Die Wiegert! Pünktlich wie ein Uhrwerk. Ich prüfe mit mehrmaligem Blick meine Garderobe. Passt! Der massige, dunkle Tresor aus dickem Stahl, der schon seit gefühlten Ewigkeiten neben dem Wandverbau aus Nussbaum steht, gibt sich wieder einmal widerspenstig, doch schließlich zeigt sich das alte Teil einsichtig und die schwere Türe lässt sich quietschend und knarrend öffnen. Viel liegt ja nicht in dessen Innerem! Ich erinnere mich, welches Erlebnis das jedes Mal war, wenn mein Vater diese gleichsam rituellen Handgriffe tätigte jahrein, jahraus, tagein, tagaus, und mir stets einschärfte, dass ein gut gewarteter Tresor das Um und Auf eines jeden Geschäftsmannes sei und ließ mich mehr als einmal mit großen Augen in das Innere des geheimnisvollen 7 Schrankes blicken, worin ich mit Samt gefertigte kleinen Beutel entdecken konnte, die kostbares Geschmeide, funkelnde Edelsteine, klingende, blitzende Münzen verbargen. Das Herz schlug mir jedes Mal aufs Neue bis an den Hals, während ich aufgeregt und gebannt jeden Handgriff meines Vaters mit Argusaugen beobachtete. Ich muss gequält lächeln, da ich mich an den Tag erinnere, da ich, ausgestattet mit dem schweren Schlüsselbund, - ganz der stolze, erwartungsfrohe Alleinerbe -, die dicke Türe öffnete und wer weiß was erwartet habe, worin ich aber rasch und fix enttäuscht worden bin. Viel muss sich in den letzten Jahren seines Lebens verändert haben, denn die blauen Samt-Beutel waren samt und sonders verschwunden, auch fand ich lediglich ein kleines Kästchen mit ein paar Goldmünzen, dann zwei Ketten, deren Steine keinesfalls erster Qualität waren und ein bisschen Bargeld, dazu jede Menge Zettel, Mappen, Tabellen. 8 Und schließlich fand sich ein kleines, beinahe schon vergilbtes Bild einer Frau, das, wie mir mein Vater einmal auf meine ungestümen, drängenden Fragen widerwillig erklärt hat, meine Mutter zeigt, von der ich lediglich eine leise, verschwindende Ahnung habe, da sie uns kurz nach meiner Geburt auf NimmerWiedersehen verlassen hatte. Vater hat nie darüber gesprochen und so gab ich es mit der Zeit auf, ihn darauf anzustoßen, zumal ich wirklich keine Nähe zu ihr, keine Erinnerung an jene sonderbar geheimnisvoll blickende Frau in mir finden kann, die aus diesem alten, vergilbten Schwarz-Weiß-Bild blickt. Endlich habe ich es mir mit der Zeit angewöhnt, den alten Tresor in mein Geschäftsgebaren einzugliedern. So also knie ich eben vor dem massiven Safe, wie mein alter Herr es so viele Jahre eben auch zu tun pflegte und krame in dessen Inneren herum. Ich entnehme eine große Menge Fünfhundert-Euro-Scheine und schließe die schwere Türe rasch wieder. 9 Natürlich habe ich meine Wohnung im Zentrum der Stadt aufgeben müssen, nachdem ich einen genauen Blick in die finanziellen Gegebenheiten unseres, jetzt meines alleiniges Geschäft habe werfen können. Und dann sehe ich vor mir den ständig irgendwie seltsam leidenden Gesichtsausdruck der Wiegert, wenn ich vom Verkauf des Ladens, von Aufhören, von Beenden, von Endgültigem sprechen möchte und fügte mich also in mein Schicksal, habe mir das schließlich schulterzuckend alles aufgebürdet, alles, was mein so einfaches Leben mehr als auf den Kopf gestellt hat. Ich blicke mich in der geräumigen Wohnung um, die gefüllt ist mit Vaters alten Möbeln. Ich bringe es nicht übers Herz, mich von den Einrichtungsgegenständen zu trennen, wiewohl ich mich in dieser Umgebung einfach nicht wohlfühle. Im Stillen habe ich mir vorgenommen, in absehbarer Zeit den Großteil des alten, klobigen Mobiliars hinaus zu werfen, 10 doch immer dann, wann ich es endlich angehen will, kommt irgendetwas dazwischen und so herrscht in der düsteren Wohnung, die wenig Licht von der Straßenseite einfängt, permanent ein heilloses Durcheinander, weil ich nicht der ordentlichste Mensch bin und Garderobe, also Hosen, Hemden, Schuhe und vieles andere mehr einfach kreuz und quer im Raum liegen lasse. Ich seufze. Wenn bloß die Wiegert nicht wäre! Wie schnell, wie flott könnte ich diesem Spuk ein Ende bereiten. Mein Herz liegt weiß Gott nicht an dem alten Zeugs, an den alten Möbeln, an dem traditionsbehafteten Laden, dessen hohe Auslagen-Fenster schon seit gefühltem Anbeginn der Zeit in diese Straße blicken. Also habe ich mich vertraut gemacht mit dem Geschäft eines Altwarenhändlers und habe mehr als einmal schmerzlich Lehrgeld zahlen müssen, weil ich ungeduldig und unerfahren, hitzköpfig und leicht zu beeinflussen war in meinen Entscheidungen. Ich muss11 te schnell lernen, rasch mir all das aneignen, wofür mein Vater ein Leben lang Zeit und Muße gehabt hat. Schließlich habe ich die anfänglichen Schwierigkeiten gemeistert. Heute weiß ich natürlich, wo ich mich informieren muss, wie und welche Beschaffenheit Schmuck, Bilder, Nippes, Leuchter, Möbel, antiquarische Bücher und so viele andere Wertgegenstände aufweisen und kann damit umgehen. Was nicht heißen soll, dass man nicht hin und wieder dennoch gehörig auf die Nase fallen kann, da das Geschäft mit Antiquitäten heutzutage einem Haifischbecken gleicht. Immer neue Händlerschichten machen sich breit in dem Gewerbe, hinzu kommt der rasend wachsende Boom der Internet-AuktionsPlattformen, diverse private FlohmarktUnternehmen und schließlich die unzähligen Fernseh-Formate, wo man bald den Eindruck gewinnen kann, dass auf jedem Dachboden des Landes wahre Schätze schlummern, die man bloß bergen müsste. 12 Die Wiegert hat meine Entwicklung mit Argusaugen beobachtet und insgeheim freut es mich, dass sie in letzter Zeit gleichsam ein wenig die Deckung verlässt und mir aufmunternd zunickt, wenn ich für unser ` AltwarenParadies` ein vortreffliches, gutes Geschäft abgeschlossen habe. Ich höre, wie sie unten an der Kaffeemaschine hantiert. Ich muss mich beeilen. Blick an das Handgelenk. Jetzt aber los, Alexander! Die Bank. Die Auktion. Der Außentermin in Eckenheim. Es gibt viel zu tun, und ich trödele hier herum und betrachte mich im alten Spiegel! Die knarrende Holztreppe haste ich abwärts. Frischer Kaffeegeruch empfängt mich. „Guten Morgen, Alexander!“ „Morgen, Frau Wiegert!“ 13 „Du sollst doch Klara zu mir sagen, Alexander!“ Jeden Morgen das gleiche Ritual! „Das kann ich doch nicht, Frau Wiegert!“ „Ein Charmeur wie sein Vater! Komm` , Alexander! Für einen guten Schluck Kaffee muss Zeit sein. Dann wären da noch ein paar Belege...“ „Muss das denn jetzt und gleich sein, Frau Wiegert! Sie wissen ja, was heute so alles auf dem Plan steht!“ „Weiß ich doch, mein Junge, weiß ich doch!“, antwortet sie und steht schon an der Kaffeemaschine. Also setze ich mich gottergeben in den bequemen Ledersessel, während ich meine Blicke durch das Geschäftslokal schweifen lasse. Sieht alles so weit ordentlich aus! Da ist die Wiegert dahinter, da würde ich nicht einmal ein Staubkörnchen entdecken können, klar! 14 Sie stellt die kleine weiße Tasse, darin der köstlich heiße, schwarze Kaffee dampft, vor mich auf den Tisch. Ich nehme ersten, vorsichtigen Schluck. Himmlisch! Sämtliche Lebensgeister erwachen. Wiegert kramt in einem ansehnlichen Papierberg. Ich beobachte sie. Ihre Augen gucken über die Hornbrille hinweg, wie sie dies stets zu tun pflegen, was mich mehr als einmal dazu gebracht hat, sie zu fragen, weshalb sie denn eine Brille trägt, wenn sie ständig neben, unter oder über die blankgeputzten, spiegelnden Gläser guckt. Nach und nach finden kleine Zettel, Belege, Zahlscheine auf den Tisch. Ich räuspere mich und stelle die Tasse ab. 15 Mit leiser Stimme fängt sie an:“ Du weißt ja, Alexander, jetzt müssen wir wohl endlich den Quester bezahlen, ja?“ Ich nicke. Der Quester. Baumeister, hat an der Geschäftsfassade Ausbesserungen vorgenommen. Teile des Verputz und einmal sogar ein handgroßes Verputz-Stück haben sich nach all den Jahren kraftlos, haltlos geworden – von der Fassade gelöst, und nur einem großen Glück ist es zu verdanken, dass kein Passant, keine Passantin in Mitleidenschaft gezogen worden ist, als die Teile mit krachendem Knall auf den Gehsteig purzelten. „Geht klar, Frau Wiegert. Wie viel will er denn?“ Nach und nach reicht sie mir einen um den anderen Beleg. Ich unterzeichne jeweils in den betreffenden Namensfeldern und weise sie an, die Beträge von unserem Geschäftskonto abzubuchen. „Noch etwas, Alexander!“ „Ja, Frau Wiegert?“ 16 „Ich brauche nicht so viel, wie ich dir schon ein paar Hundert Mal gesagt habe, Alexander. Ja, wenn das Geschäft wieder besser läuft, dann gerne, aber bis dahin....“ Auch dieser Einwurf kommt verlässlich einmal per Monat zur Sprache, aber da beißt sie bei mir auf Granit. Das fehlte noch, das fehlte noch! Irgendwie habe ich mich in dieses Ritual verbissen, will es auch nicht mehr missen, denn insgeheim habe ich mir vorgenommen, eben mehr zu laufen, mehr zu verkaufen, auch noch den unnötigsten Außentermin wahrzunehmen, damit eben genau das nicht eintritt, dass ich gezwungen wäre, Frau Wiegert das Gehalt zu kürzen! Denn das wäre für mich erstes und untrügliches Zeichen, dass ich es nicht geschafft hätte, dass ich Vaters Geschäft endgültig runter gewirtschaftet hätte, dass nichts aus mir geworden wäre, dass ich zu nichts taugte, dass mir alles scheißegal wäre und also schüttle ich, wie jedes Mal, 17 wenn Frau Wiegert das Thema aufs Tapet bringt, entschieden meinen Kopf. „So weit kommt es noch. Nix da, Frau Wiegert! So, alles soweit erledigt?“ „Das wäre es erst Mal, Alexander! Ach du meine Güte, das hätte ich jetzt doch glatt vergessen, wirst du ja brauchen!“, ruft sie und reicht mir eine dünne Mappe. „Hoffentlich gibt sich der alte Pfennigfuchser damit zufrieden, Klara. Hab` eh schon Bauchschmerzen genug, wenn ich an den Termin denke.“ „Siehst du, ist ja gar nicht so schwer, Alexander.“ Ich gucke sie verwirrt an. „Klara, nicht Frau Wiegert, Alexander!“ Ich blättere in der schlanken Mappe und hoffe tatsächlich, dass sich Georg Schellhammer, Eigentümer der gleichnamigen Privatbank, deren Kunde wir seit quasi Menschengedenken sind, von den mehr als geschönten Geschäftszahlen des vergangenen Quartals hin18 ters Licht führen lässt. Da ist Überzeugungsarbeit vonnöten. Ich werde um mein Leben reden, um alles kämpfen, was mit dem Laden, was mit Klara, was mit der Zukunft des Geschäfts zu tun hat. Denn eines ist sonnenklar, wenn Schellhamer uns den Kreditrahmen kündigt, dann können wir auf der Stelle den Rollladen endgültig runter lassen. „Du machst das schon, Alexander! Toi, toi, toi!“ Ich stehe auf, blicke auf die Armbanduhr und bekomme den täglichen Schmatz auf meine rechte Wange. „So, nun ab mit dir und viel Erfolg, ja, Alexander? Können wir brauchen!“ „Daumen drücken, Frau Wiegert, äh, Klara, dass das auf der Auktion klappt, Himmel, könnten wir nicht mal Glück haben?“ Klara, die gute, umsichtige, stille, bescheidene, offenherzige Klara kennt mich ja schon, da ich als sechsjähriger Knirps das erste Mal an der Hand meines Vaters in den Laden trat und behandelt mich manchmal immer noch 19 so, als wäre ich dieser Sechsjährige, dabei aber wahrt sie - was das Geschäftliche anbelangt penibel und akkurat die Form, obwohl sie mich schon getröstet hatte, als mir damals Rotz und Wasser übers Gesicht gekullert waren, weil ich mir die Knie aufgeschlagen hatte bei einem Fahrradunfall. „Beide Daumen, Alexander!“, ruft sie mir nach, als ich schon durch die Türe bin. „Hot town, summer in the city back of my neck gettin' dirt and gritty...“ Vaters altersschwacher Mercedes schnurrt wunderbar leise durch den Morgenverkehr. Die fröhliche Stimme aus dem Autoradio unterbricht aufgeregt plappernd das dröhnende Reibeisen-Organ Joe Cockers, um von dem einzigen Thema, das die gesamte Stadt seit zwei Wochen in Atem hält, zu reden: Hitze! Rekordhitze! 20 „Die heißeste und längste Hitzeperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und kein Ende in Sicht!“, verkündet der Moderator eben in meine morgen-müden Überlegungen hinein. „...been down, isn't it a pity? doesn't seem to be a shadow in the city...“ Die hohen Fassaden Frankfurts, die Geschäftszeilen, die Fensterschluchten und dunkle Dächer haben, gleich riesengroßen Akkumulatoren, die Wärme der letzten Tage gespeichert und verteilen die träge, heißströmende, wabernde Luft über die gesamte Stadt. „...all around people looking half-dead...“ Die letzten Ausläufer von Müdigkeit verschwinden, weil der milde Fahrtwind mich halbwegs erfrischt und munter macht. Wieder resümiere ich meine Lage, während der Wa21 gen vorwärts kommt. Seit Vaters Tod hat sich alles geändert! Meine legere, oftmals planlose Lebensführung ist schlagartig einem durchorganisierten, mit Terminen überladenen, gehetzten, arbeitsreichen Tagespensum gewichen, das sich über meinen Leib gelegt hat wie ein fest geschnürtes Korsett, das sich nicht mehr abstreifen lässt, seit ich den Laden übernommen habe, übernehmen habe müssen. Eine langsame, stete Verwandlung hat sich vollzogen. Ich spüre zum ersten Mal in meinem Leben, was es heißt, was es wirklich und wahrhaftig heißt, Verantwortung zu übernehmen. Nicht bloß für mich alleine, damit käme ich ja noch irgendwie zurecht, nein, auch für die schrullige, biedere Wiegert, die eigentlich das kleine Ladengeschäft in Schuss hält mit unermüdlichem Elan, die unzählige Stunden durch den Laden wandert, kontrolliert, prüft, checkt, ausbessert, verbessert, die die unübersichtliche Buchhaltung managt, die kleinste Kleinigkeiten eben nicht vergisst, wie 22 ich das so gerne tue, die Herz und Seele von „Bergers Antiquitäten-Paradies“ ist und ohne die ich auf der Stelle verloren wäre. Dennoch hat sich seit nunmehr knapp zwei Jahren, seit also mein Vater gestorben ist, eine veritable, andauernde Gereiztheit, ständige Unruhe, Nervosität und Stress über meine Gestalt gelegt und bringt mich dazu, in stillen Momenten, die es tatsächlich doch noch gibt, in Selbstmitleid zu baden und mich meiner früheren leichten Tage zu erinnern, da alles so einfach, wunderbar, locker, heiter ausgelassen und fabelhaft easy war. „...walking on the sidewalk, hotter than a matchhead...“ Erst noch zur Bank. Der knausrige, überkorrekte Schellhammer wartet sicher schon! Erneut dem feinen Herren Senior-Bankchef Löcher in den Bauch reden, wieder vom Geschäftsplan quasseln, obwohl ich ihm schon 23 vor Monaten eine akribische Auflistung samt wunderschön anzusehendem GrafikTabellenteil übermittelt habe. Doch, wie das bei Bankbeamten leider üblich ist, besteht Schellhammer auf diese lästigen, allmonatlichen Termine, auf aktuelle Zahlen, will auf den allerneuesten Stand gebracht werden, wobei er es dann ist, der mich dann mit Zahlen piesackt und Zielvorgaben fordert, mahnt, verlangt und stets mehrmals den Kopf schüttelt in seltsamer Anteilnahme oder gespielter Empörung, wenn er das Geschäftskonto aufruft und sich in die Tabellen der Eingänge und Ausgänge verbeißt und ich Rede und Antwort stehen muss. Tatsache ist jedoch: Wir sind ziemlich in den Miesen! Deshalb muss das mit der Auktion ja heute klappen. Muss! Muss klappen! Wider Erwarten finde ich mühelos eine große Parklücke in Steinwurfweite zum Bankhaus Schellhammer. Ich stelle den Motor ab und bli24 cke ein wenig eingeschüchtert die hohe Fassade empor. Noch rasch eine Zigarette rauchen, Alexander! Die Hitze umfängt mich erneut in vollem Ausmaß, da nun der kühlende Fahrtwind ausbleibt. Mist, könnte dieser Termin denn nicht schon vorüber gegangen sein?! Ich sehe den dicken Schellhammer jetzt vor mir, wie er keucht und jovial, kumpelhaft sich geben will und dabei dennoch all diese lästigen, bohrenden Fragen auf mich loslässt. Was hilft das alles, wir brauchen diesen alten, nörgelnden, redseligen Geldmenschen wie einen Bissen Brot! Also werde ich seine Schrullen standhaft ertragen und -wenn es sein muss- auf Knien rutschen, damit das alt-ehrwürdige Geldhaus uns nicht den Hahn zudreht! Ich steige aus dem Wagen, zertrete die bloß halb-gerauchte Zigarette am Bürgersteig, streife mir das Sakko über und spüre, wie au25 genblicklich die gleißende, flimmernde Vormittagshitze sich steigert. Also wieder runter mit dem Sakko! Ich lasse es jetzt lässig in meiner Linken hin und her baumeln. Bei dieser Affenhitze kann ich dieses Teil beim besten Willen nicht überstreifen, no way! Schweiß auf meiner Stirne, unter den Achselhöhlen, am Oberbauch, überall! Mit fahrigen Bewegungen verscheuche ich kleine Schweißperlen von meiner Stirne, klemme die Mappe unter den rechten Arm und setze entschieden erste Schritte Richtung des imposanten Portals, dahinter der rundliche Schellhammer in seinem Luxusbüro schon ungeduldig auf mich wartet. Rasch bin ich durch die sich geräuschlos drehende Glas-Türe gekommen. Im ehrwürdigen Inneren des noblen Hauses empfängt mich wohltuende, kühle Luft, die von einer Klimaanlage auf erfrischender, passabler Temperatur gehalten wird. Es fühlt sich wunderbar an. Ich atme freier, der Druck, die Sorgen, die alle in jener kleinen Mappe stecken, die ich jetzt 26 krampfhaft drücke, scheinen wie weggewischt, wie entflogen. Ich sehe in freundliche Gesichter. Man kennt mich hier. Wie man schon meinen Vater gekannt hat, und allein dieses ist der Grund, weshalb ich eben in gütige, gelassene Gesichter blicken kann. `Privatkunden. Erster Stock` Ich weiß den Weg, nehme also die mit einem dunkelroten Läufer ausgelegte Treppe in Angriff und steige langsam empor in das erste Stockwerk. Die Eröffnung ist natürlich wichtig, die Gesprächseröffnung, nicht zu pessimistisch sein, Alexander! Gleich mit den positiven Vorhaben, den Verkäufen, den sich beständig steigernden Tagesumsätzen des Ladens beginnen, dann wird man weitersehen, Alexander! 27 Ich gehe den langen Flur entlang, an dessen hellen Wänden diverse Werbesujets des Bankhauses Schellhammer angebracht worden sind. Seltsam, wundere ich mich, auf all diesen Bildern sieht man fröhliche, lachende Menschen und nicht gebeugte, geknickte, ratlose, ängstliche, wie ich jetzt leicht geknickt, ratlos, ängstlich den Gang entlang gehe, um alsbald in Schellhammers Riesenbüro einzutreten. Ich klopfe mehrmals. Ich höre eine Stimme, die hinter der schweren Türe auszumachen ist. Scheint wohl ein Telefonat zu sein. Schellhammers Stimme hebt und senkt sich. Ich klopfe erneut. Dieses Mal etwas lauter. „Herein!“ Mit laut pochendem Herzen, schweißnass und zaghaft, betrete ich den großen Saal, dessen Mittelpunkt ein schwerer, schwarzer Eichentisch bildet, darauf vielerlei Aktenstapel ruhen. Im Zentrum dieser Papierberge erkenne ich die wie poliert leuchtende Glatze Schellhammers, der tatsächlich einen Telefon28 hörer in seiner Linken hält, mich entdeckt, mir mit Kopfnicken deutet, ich solle mich doch endlich in den Stuhl setzen und schon weiter redet. „Ganz meine Ansicht, Herr Rebers! Wie?...Ha, ha, das haben jetzt aber Sie gesagt, Herr Rebers, ha, ha, ha!....“ Man scheint sich prächtig zu amüsieren, da will ich nicht weiter auffallen. Ich rutsche in den breiten, bequemen Stuhl und lege vorsichtig die dünne Mappe, darin unsere letzten, leicht frisierten, geschönten Verkaufszahlen schlummern, auf den großen Tisch. Schellhammer scheint keine Eile zu habe. Er amüsiert sich offenbar prächtig mit jenem Herrn Rebers. Na, wenn das so ist, dann kann ich es mir hier ja auch ein wenig bequem machen! Ich atme langsam ein und aus. Allmählich beruhigt sich mein Atem. 29 Weshalb bist du denn gar so fahrig und nervös, Alexander? Ist ja nicht dein erster Termin beim Schellhammer? Na, also! Ich fühle mich besser. Schellhammers Telefonat scheint sich seinem Ende anzunähern. „...Was wir doch hoffen wollen, mein lieber Rebers! Ja, bitte auch in meinem Namen, ja! Gerne doch, so halten wir das, meine auch, ja, Herr Rebers! Also der Vierundzwanzigste, ich notiere. Aber doch im kleinen Rahmen, wie? Na, gut, ja, ausgezeichnet. Empfehle mich, Gruß an die reizende Frau Gemahlin! Wiederhören, Herr Rebers!“ Leise und behutsam, sacht legt der rundliche Bankchef den Hörer auf die Gabel. Noch ist er nicht gewillt, sich mit mir zu befassen, sondern kramt in Aktendeckeln herum, sucht und verwirft Zettel um Zettel, bis er das betreffende Blatt Papier wohl gefunden hat, darauf er mit rascher Hand Zeilen hinzu30 fügt, die er mit einem schwarzen Kugelschreiber ausführt. Er räuspert sich. Ich lehne mich angespannt nach vorne, mime volle Aufmerksamkeit. „Alexander!“ „Guten Tag, Herr Schellhammer!“ „Kaffee?“ „Bitte, gerne!“ Er bemüht die Gegensprechanlage. „Frau Schneider, Kaffee, einmal“, er blickt mich an. „War das nun mit oder ohne Zucker, Alexander?“ „Schwarz, ohne Zucker, Herr Schellhammer!“ „Schneider? Ja, Schwarz, ohne Zucker!“ „Was hast du mir denn mitgebracht, Alexander?“ Es ist hoffnungslos, ich habe es schon längst aufgegeben, mir diese vertraute, gleichsam 31 familiäre Anrede zu verbitten, also Schellhammers joviale Art, mich einfach mit meinem Vornamen anzureden und nicht, wie es im Geschäftsleben Standard und gebräuchlich ist, also, dass Schellhammer, - so viel Zeit müsste doch sein - , mich ordentlich und korrekt als Herr Alexander Berger zu titulieren hätte, doch da kämpfe ich gegen Windmühlen, denn, wie sollte es auch anders sein, auf eben diesem Stuhl saß oft und oft schon mein Vater und ergo betrachtet mich der in Würde gealterte und ergraute Schellhammer Senior keinesfalls als jemanden, den man sozusagen korrekt, geschäftlich korrekt anzusprechen hätte. Nein, nein, ich sitze hier bloß, weil ich der Sohn meines Vaters bin und eigentlich, so kommt mir das meist vor und in den Sinn, verhält sich der alte Bankier akkurat so, als wäre ich mein Vater, als säße mein alter Herr hier und nicht ich. Ach, soll er mich Alexander nennen, so oft und so lange er will, solange er uns den Kre32 dit-Rahmen nicht kappt oder kürzt, sinniere ich. Der Kaffee wird serviert. Frau Schneider, die noble Zurückhaltung in Person, stellt die kleine Porzellantasse auf den Tisch und entschwebt gleichsam lautlos aus dem Raum, in dem ich leider, leider noch immer sitze, sitzen muss und mich auf das vorbereite, was gleich Schellhammers Mund, der von einem akkurat gestutzten Graubart umrahmt ist, verlassen wird. „Die Zahlen hast du mitgebracht, Alexander?“ „Gewiss, Herr Schellhammer!“, stoße ich hervor und schiebe die dünne Mappe über den Tisch. Vorsichtig nippe ich den pechschwarzen, heißen Kaffee. Himmlischer Duft entströmt der kleinen Tasse. Ab und an zwinkert Schellhammer mit den Augen, während er in Windeseile die dünne Mappe prüft. 33 Kein gutes Zeichen, Alexander! „Wie gehen die Geschäfte so, Alexander? Sag` doch mal!“ Mein Stichwort! Jetzt aber los! „Derzeit, Herr Schellhammer, sieht es ganz gut aus, möchte ich behaupten. Wie Sie aus den Zahlen, aus den projektierten Zahlen ersehen können, rechnen wir, also ich, mit einer effektiven Steigerung der Umsatzzahlen, was ich auch belegen kann!“ „Na, das wäre ja mal was ganz Neues, ha, ha, das könntest du belegen, Alexander, also ehrlich, projektierte Zahlen, die sich belegen lassen, also ich muss schon sagen!“ Er amüsiert sich königlich, während ich schwitzend und nach Worten ringend, formulierend, mich hin und her winde. Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine große Katze, die lässig mit einer Maus spielt, 34 exakt so fühle ich mich, in genau dieser Lage bin ich und dennoch scheint Schellhammer die Güte in Person zu sein, scheint keinem Wesen auch nur irgendeinen Schaden zufügen zu können, so gütig und freundlich wie er mich jetzt anlächelt. „Also, die Zahlen in allen Ehren, Alexander! Ernsthaft nun, wo drückt der Schuh?“ Und jetzt spreche ich frei von der Leber weg, verzichte auf die wohl vorbereiteten Sätze und lege einfach los:“ Der kleine Laden läuft wirklich gut, das muss ich so sagen, Herr Schellhammer. Natürlich könnte mehr Frequenz sein, das ist ja keine Frage, aber Akquisition macht sich gerade wirklich wunderbar, ich habe da keine Bange, was das betrifft. Die Umsätze im Tagesgeschäft sind natürlich noch nicht dort, wo sie sein sollten, aber eine kleine, wenn auch noch nicht signifikante Steigerung kann ich hier guten Gewissens schon bekannt geben. Die exakten Zahlen dann ja sowieso in der Bilanz.....“, ich unterbreche und hole erst mal tief Luft. 35 Ein rascher Schluck, dann weiter gesprochen:“Auch erhoffe ich mir von der diesjährigen Auktions-Saison so einiges, Herr Schellhammer! Wir sind da, also unser Haus, mit einigen ausgesuchten Exponaten am Start. Detailliert Bericht erstatten werde ich dann bei Gelegenheit, Herr Schellhammer.“ Der dicke Bankier betrachtet mich eingehend. Ich weiß nicht, ob ich weiter reden oder den Mund halten soll. Also schlürfe ich langsam Kaffee. „Wer macht denn bei dir die Bücher, Alexander? Noch immer die Wiegert gar?“ Ich nicke mit dem Kopf. „Ausgezeichnet, meine Güte, die Wiegert!“ Jedes Mal stellt er mir diese Frage, und jedes Mal wundere ich mich darüber, dass er diesen Umstand von einem zum nächsten Termin offensichtlich vergessen hat, dass also die Wiegert die Geschäftsbücher führt. Vielleicht aber ist das bloß seine verschrobene, undurch36 dringliche Art, die mir zeigen soll, dass er sehr wohl über alles im Bilde ist? „Gut, gut, Alexander!“ Und nun wird doch der Computer befragt und das Bauchgrummeln meldet sich wieder. Jetzt guckt Schellhammer auf die nackten Zahlen. Seine Finger gleiten über Tasten, drücken, halten, tippen. Aus seinem Gesichtsausdruck kann ich nichts ablesen, also verhalte ich mich mucksmäuschenstill und nehme kleine Schlucke vom inzwischen erkalteten Kaffee. „Besondere Aufwendungen in nächster Zeit, Alexander?“ „Keine!“, sage ich wie aus der Pistole geschossen. „Hm...“, macht er, dann guckt er wieder in den flimmernden Bildschirm. Mir ist, als säße ich schon seit Stunden in dem großen Raum. „Na, dann belassen wir das fürs erste mal so.“, murmelt er, dann „ Ein wenig Freiraum, 37 also Spielraum könnte ich euch natürlich noch einräumen, Alexander!“ Träume ich das etwa? Ich schüttle heftig meinen Kopf. „Alles wunderbar, wie es eben ist, Herr Schellhammer! Wir arbeiten intensiv daran, Stück für Stück wieder ausgeglichene Zahlen zu erreichen, natürlich, das ein oder andere unerwartete Investment, also außerordentliche Zahlungen haben uns mehr als einmal gefordert, doch wenn Sie die Zahlen der letzten Monate betrachten, dann kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass Bergers Antiquitäten-Paradies auf dem Weg nach oben ist, ein für alle Mal! Wir schaffen das!“ Das war gut, Alexander, das war gut. Schellhammer nickt, tippt, nickt. „Wie dem auch sei, Alexander! Ist derzeit überall ein wenig angespannte Lage sozusagen, man hält mit Investitionen zurück, will kein Geld in die Hand nehmen. Gestern erst ... 38 Na, das führt jetzt zu weit .....“, bricht Schellhammer den Satz ab, Schließlich blickt er mich direkt an. „Für alle Fälle, Alexander! Aber du stehst mir dafür ein, dass du diese kleine Erhöhung eures Limits mit Bedacht und Hausverstand handhabst, dein Wort darauf, Alexander?“ Habe ich das eben richtig verstanden? Ja doch, ich träume das nicht! „Mein Wort, Herr Schellhammer, mein Wort darauf!“ Er erhebt sich, also springe ich aus dem bequemen Lederstuhl. Er reicht mir die Hand, die ich lange und dankbar, -na was denn!- drücke. „Und viel Glück mit den Gauermann, Alexander! Drücke beide Daumen!“ Ich bin erstaunt, baff, blicke in sein Gesicht. Er grinst von einem Ohr zum anderen. „Woher....?“ „Kunststück, Alexander!“, spricht er und geleitet mich an die Türe. 39 „Ich habe zu danken, Herr Schellhammer und ich darf und kann Ihnen versichern, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, dass der Laden ordentlich brummt, mein Wort darauf!“ Jetzt scheint der alte Herr doch beinahe ein wenig beeindruckt zu sein, denn er drückt meine Hand für lange Zeit. „Und richte der Frau Wiegert meine Grüße aus, ja, Alexander?“ „Gerne, Herr Schellhammer!“ Ich schließe die schwere Türe. Leicht benommen stehe ich draußen am Flur und bin mir noch immer nicht sicher, ob ich das eben tatsächlich erlebt habe, oder aber, ob das lediglich ein Traum war. Nein, alles real! Der alte Herr hat unseren Geschäfts-Dispo angehoben, erweitert, erhöht. Ich blicke auf die Uhr. Nun aber flott, flott, Alexander! 40 Ich lenke den Wagen in Richtung Innenstadt. Hoffentlich wird alles klappen. Ist ja nicht meine erste Auktion, weiß Gott. Aber dieses Mal müssen wir alle unsere Daumen drücken, dass die beiden Lots, die wir bei dem ehrwürdigen und berühmten Auktionshaus Voss&Söhne eingestellt haben, hohe, höchste Preissphären erreichen mögen! Man darf sich eine Auktion nicht so vorstellen, wie man das manchmal in Filmen dargestellt und in Szene gesetzt sieht. Meistens sind solche Versteigerungen todlangweilige Prozeduren, die ab und an Höhepunkte hervorbringen, die man aber erst dann zu Gesicht bekommt, wenn man zuvor stundenlang Ausdauer beweist, weil unansehnliche und unspektakuläre Lots en masse vorüberziehen. Wird heute nicht anders sein! Ich bin aus zweierlei Gründen hier. Ich muss das großformatige Ölgemälde eines Schäfer41 Idylls um 1840, ein farbenprächtiges Werk des wohlbekannten Malers Friedrich Gauermann, die Fach-Expertise hat uns schlanke zweitausendfünfhundert Euro gekostet - , an einen Käufer bringen und ebenfalls den Posten Londoner Tafelsilber von 1878, der aus über einhundert-zwanzig Einzelteilen zusammengestellt ist und den schon mein Vater jahrelang vergeblich zu veräußern versucht hat. Vielleicht klappt es ja heute, sinniere ich, während der Mercedes die Tiefgarage ansteuert. Der große Saal ist schon gut gefüllt. Ich entdecke viele bekannte Gesichter. Man nickt sich zu und hofft insgeheim, sich bei den Geboten nicht in die Quere zu kommen. In der zweiten Sitzreihe nehme ich Platz. Der Geräuschpegel sinkt allmählich. Es geht auf 11 Uhr vormittags zu. Ich betrachte die Szenerie rings um mich. Auch hier, in diesen ehrwürdigen Hallen des traditionsreichen Auktionshauses Voss&Söhne, hat das Internetzeitalter Einzug gehalten. An einem seitlichen Tisch 42 sitzen drei Angestellte des Hauses und hantieren mit Kabeln und Computertastaturen, stellen ihre Headsets ein und starren bald darauf in die flimmernden Bildschirme vor ihren Augen. Ich weiß, dass diese Auktion zeitgleich um beinahe den gesamten Globus verfolgt werden kann, da ein Live-Stream angeboten wird. Ebenfalls kommuniziert man in Echtzeit via Skype mit Interessenten, die in letzter Zeit vorwiegend aus der russischen Republik kommen. Lange waren spleenige Amerikaner, dann wiederum wohlhabende Europäer die tonangebende Bieter-Schicht. Das hat sich radikal geändert, seit im Osten gleichsam stündlich neue Millionäre auftauchen, wo man sich allerdings die Frage stellen darf, wie und auf welche Weise diese Neureichen all ihre Millionen erwirtschaftet haben. Auch erscheinen verstärkt chinesische Interessenten auf dem Auktions-Markt. Voss&Söhne legt offensichtlich wenig Wert auf die Provenienz der Gelder, Hauptsache, es wird korrekt und pünktlichst bezahlt, scheint die vorherr43 schende Geschäftsphilosophie des alten Voss zu sein. Eben klettert ein Lichtkegel eines Beamers die vordere Stirnwand entlang und wird schließlich rechts des Auktionator-Pults positioniert. Ah, es geht also gleich los! Das Saal-Licht wird gedämpft, die hinteren großen Flügeltüren sanft geschlossen und der Auktionator, begleitet von einer Frau in grauem Kostüm, tritt hinter das schmale Pult. Er räuspert sich, nestelt noch rasch an dem kleinen Mikrofon, das auf seine linke Wange fixiert ist, und beginnt schließlich mit getragener, sonorer Stimme zu sprechen: „Sehr geehrte Damen und Herren! Ich darf Sie auf das Herzlichste zur diesjährigen FrühjahrsAuktion von Voss&Söhne begrüßen. Gestatten Sie mir, vorab einige für das nun folgende 44 Prozedere hilfreiche technische Anmerkungen anzuführen und zu erläutern...“ Mist, keinen Katalog ergattert! Ich gucke mich um. Natürlich, ganz klar! Jeder, wirklich jeder hat frischen, druckfrischen, glänzenden, hochglänzenden, bunten Auktionskatalog in Händen, bloß Herr Alexander Berger, Wichtigtuer und AushilfsGeschäftsmann, ist an dem Tisch, darauf viele Stapel des Druckwerks positioniert waren, einfach vorbei gerauscht. Bravo, Alexander! 45 Fast alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind in den Formaten Taschenbuch und Taschenbuch mit extra großer Schrift sowie als eBook erhältlich. Bestellen Sie bequem und deutschlandweit versandkostenfrei über unsere Website: www.aavaa.de Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren Sie gern über unser ständig wachsendes Sortiment. 46 www.aavaa-verlag.com 47
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