SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Der Mann, der plötzlich verschwunden war Anton, unser Nachbar Von Regina Burbach Sendung: Freitag, 24. Februar 2017, 10.05 Uhr Redaktion: Nadja Odeh Regie: Regina Burbach Produktion: SWR 2015 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Geräusche: Binnenschiff tuckert – leitet den Klang der Straße am Fluss ein O-Ton Mann aus Haus-Nr. 42 Also wir gucken ja..., die ganzen Häuser hier in der Reihe, das sind... –Moment mal, ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs Häuser–, wir gucken ja alle auf den Fluss, von oben von den Fenstern. Das sind hier alles Zweifamilienhäuser. Also vom Haus bis zum Wasser, das sind fünfzig Meter, und dazwischen ist der Park. So, und in dem Park, da ging der Alte, dieser Anton, halt immer spazieren. Musik: Anouar Brahem, „For no apparent reason”, aus Erzählerin Anton und seine Frau waren zehn Jahre lang auch meine Nachbarn. Unsere Häuser teilten sich eine Seitenwand. Als ich da noch wohnte, standen im Sommer in all den Häusern den ganzen Tag im oberen Stock die Fenster weit auf. Es ist relativ gute Luft, viel Grün. Kein Durchgangsverkehr, wenig Abgase, nur tuckernde Binnenschiffe und Vogelgezwitscher. Und: es gab einen, der regelmäßig diese Idylle störte, und 2 das war A n t o n, wenn er seinen Hund ausführte. Er ging am Tag vier, fünf Mal mit dem Hund raus. O-Ton Bewohner Haus-Nr. 47 Auch wenn ich ihn nicht gesehen habe, ich wusste immer, wenn er draußen war, weil, er hat den Hund immer gerufen, ein Pudel war es, glaub’ ich. O-Ton Bewohner Haus-Nr. 42 (Eckhaus) Er hat den Hund immer frei laufen lassen. Ich selbst hab keinen Hund, aber ist ja, glaub ich, nicht erlaubt, dass man den frei laufen lässt, ne, aber das kratzte Anton überhaupt nicht. Und der Hund war dann jedes Mal sofort über alle Berge, und Anton dann immer „Flockiiii, Flockiii“ (lacht) hat er geschrien. O-Ton Bewohner Haus-Nr. 47 Es war häufig auch anstrengend, oh, schon wieder. O-Ton Bewohnerin Haus-Nr.47 Weil der Hund hat auch überhaupt nicht auf ihn gehört. Der konnte schreien so viel er wollte, der Hund hat gemacht, was er will. O-Ton Bewohner Haus-Nr. 47 Der hat aber richtig auch mit dem Hund geschimpft. Er hat den Hund richtig zusammengeschissen, als würde er mit einem Menschen sprechen. O-Ton Bewohnerin Haus-Nr.47 (lacht). „Flocki“. O-Ton Bewohner Haus-Nr. 47 „Kannst du mit mir nicht machen, komm endlich her.“ O-Ton Bewohnerin Haus-Nr.47 Genau. Aber der Hund hat überhaupt nicht gehört, und deswegen hat er permanent nach seinem Hund gebrüllt. Ich hatte fast manchmal ein bisschen Angst vor ihm, oder Respekt, weil ich ihn einmal erlebt hab, dass er ziemlich mürrisch war, weil ein Vater, der hier auf dem Spielplatz war, ihn gebeten hat seinen Hund anzuleinen, woraufhin Anton dann gesagt hat, „Pass mal auf, dass ich dich nicht gleich anleine. Also er war schon manchmal ziemlich garstig. O-Ton Bewohner Haus-Nr.43 Flocki war sein Kind. Und Flocki musste erzogen werden, und das war permanent, weil man ja Kinder auch immer erziehen muss, weil die immer alles falsch machen. Und von daher war Flocki im ganzen Umgang einer, mit dem man immer ernsthaft reden musste, und ernsthaft zurechtweisen. Und im Prinzip konnte der kleine Bursche es seinem Herrchen eigentlich nie recht machen, obwohl die sich innig geliebt haben. Musik: „For no apparent reason” von Anouar Brahem 3 Geräusche: Binnenschiff / Fenster wird zugemacht / Jemand hantiert in der Wohnung O-Ton Bewohnerin Haus-Nr. 46 Irgendwann wurden die Rufe weniger. O-Ton Bewohnerin Haus-Nr. 42 Ab wann kamen keine Rufe mehr kamen, das kann ich nicht so genau sagen. Ich glaub, vorigen Sommer. Mir ist das dann aber schon aufgefallen, irgendwie, dass da auf einmal keiner mehr rumgebrüllt hat. O-Ton Bewohnerin Haus-Nr. 47 Ich hab das gar nicht wahrgenommen Wenn ich später drüber nachdenke, ja, aber zu der konkreten Zeit nicht. Geräusche: Straße / Gartenpforte Erzählerin Zu der Zeit, als draußen im Park zuerst Antons Rufe nach seinem Hund immer seltener wurden und dann verstummten, und in Antons Haus sich ein Drama anbahnte, waren wir schon weggezogen. – O-TON Frau klingelt Warten Sie mal, wenn Sie n Moment Zeit haben Musik: „For no apparent reason”, Anouar Brahem Erzählerin Mit den meisten meiner Nachbarn habe ich in den zehn Jahren, die ich hier lebte, eigentlich nie oder nur ganz wenig gesprochen. O-TON Frau klingelt Meinen wir wirklich denselben? Ich weiß es auch nicht. O-TON Frauen Hallo, hallo. O-TON Bewohner Haus 47 Er war mürrisch. Am Anfang, wenn ich mal Kontakt suche, war er immer sehr ablehnend. Und hat sich in keiner Weise bereit erklärt, überhaupt ein Gespräch zu führen. 4 Erzählerin Von dem Haus, wo ich gewohnt hab, bis zur Straßenecke sind es sechs Häuser. Anton und seine Frau haben direkt neben mir gewohnt. O-TON Bewohner + Bewohnerin aus Haus 47 Mann: Es war nicht mal seine Frau. Frau: Es war seine Lebensgefährtin. Erzählerin Anton – wie auch ich – ist an diesen Nachbarhäusern also tausendmal vorbeigegangen, bevor er um die Ecke bog, zum Einkaufen und wieder zurück, zum Bus und wieder zurück, oder aus dem Park kommen mit Flocki. Die Bewohner müssen ihn fast täglich gesehen oder gehört haben. Geräusche: Schritte auf der Straße an Vorgärten vorbei. O-TON Bewohner Haus Nr. 43 Ich hab ja später rausgefunden, dass er wohl Dachdecker war, und das lässt sich erklären, dass er eben sehr präsent war, wenn ein Dach gedeckt wurde, weil er mit seinem extremen Fachwissen dann unbedingt helfen wollte, und eigentlich alles besser wusste. So, und alle anderen machten es eh überhaupt nicht professionell, nur er, mit seinen Kommentaren, machte es so. Und da er eher etwas grobschlächtig war, ging das immer schimpfender Weise vor sich. Geräusche: Moped Erzählerin Ein Eigenbrötler. Ein Kauz. Ein Pflanzen– und Tierfreund, ein Griesgram, ein freundlicher Mensch, mit Humor, ja auch das, mitunter, alles in einer Person. Wir sprachen mit einander, wenn ich aus dem Haus ging und Anton im Vorgarten mal wieder gegen die Blattläuse kämpfte. Wir nahmen für uns wechselseitig DHLPäckchen an. Geräusche: Windspiele O-Ton Bewohnerin Haus Nr.43 Antons Garten..., also er war nicht jetzt..., nicht gezirkelt. Also das ging über, von der Terrasse in die Grasfläche und dann in die Büsche an der Seite. Da waren jetzt keine Abgrenzungen oder so was. Das war quasi wie n Naturgarten, ne, so was. Also sie hat da nix dran gemacht. Das hat er gemacht, dass der Garten soweit begehbar war. Aber hatte immer noch diese Rasenfläche und so Windspiele, Glaskugeln und was weiß ich. Und das kam mit Sicherheit durch sie. Was sie ja gerne betrieb, hat sie mir mal erzählt, dass sie von diesen, em, Teleshopping-Kanälen so fasziniert war und 5 hat da ständig was bestellt. Und dann wahrscheinlich auch so Windspiele und was weiß ich. Geräusche: Windspiele Erzählerin Im achten Jahr unserer Nachbarschaft starb seine Frau. Ein paar Monate lag sie schwerkrank zu Haus, und der Pflegedienst kam. Und ich hörte frühmorgens Anton unten die Tür aufmachen und die Pfleger herein lassen. O-Ton Bewohnerin, Haus Nr.47 Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das so war. Also das einzige, was ich weiß, dass die relativ kurzfristig ins Krankenhaus gekommen ist, und auch da verstorben ist. Der war ja kaum in der Lage, sich selber zu versorgen, wie soll er dann noch ne kranke Frau versorgen. Musik: aus Soundtrack „The Code“ wie oben O-Ton Bewohnerin, Haus Nr.53 Ob ich die Richtige bin, hier was zu sagen... Ich sag jedenfalls nichts Gutes. Ich hatte Angst vor ihm, aber richtig. Er stand bei mir in der Tür, und ich dachte, jetzt gleich klebt er mir eine, so wütend wie der aussah. Er war ganz rot im Gesicht, und ich hatte doch den kleinen Leon auf dem Arm, der hat auch Angst gehabt, und hat geschrien wie sonst was, als Anton da stand. – Mein Gott, es war ja nicht mal was passiert. Ein Kinderplanschbecken! So ein aufblasbares. Leons Planschbecken, er war dreieinhalb damals. Das Planschbecken stand im Garten, und ich hatte es nicht reingeholt, und es war kein Wasser drin, und plötzlich kam Gewitter und Sturm, und das Plantschbecken flog in Antons Garten. Wir hätten seine Rabatten zerstört, hat er gesagt, und er hat so wild geguckt, dass ich dachte, er haut zu. Geräusche: Binnenschiff Erzählerin Ich sehe Anton noch genau vor mir, in dem Sommer vor anderthalb Jahren, beim Geldautomaten im Vorraum von der Commerzbank, wo wir uns zufällig begegneten. Da lebte seine Frau schon nicht mehr. Ich kam rein und sah, wie er zum Gehen ansetzte, sich dann aber am Geldautomaten festhielt. Er sah traurig aus, müde und einsam. Nein, er war nicht betrunken. Ich sagte Hallo, kann ich was tun, und Anton sagte, dass er eine Woche im Krankenhaus gewesen und gerade entlassen worden war. Ich fragte, wo denn Flocki sei. Im Tierheim, sagte er, und er werde ihn gegen Nachmittag nach Haus holen. Das Tierheim lag am anderen Ende der Stadt. Wir können Sie hinfahren, wenn mein Freund mit dem Auto zurück ist, schlug ich vor. Anton war einverstanden. 6 Geräusche: Ein Auto fährt ab Erzählerin Als Anton bei uns ins Auto stieg, hatte er sich zurechtgemacht. Er trug ein frisches Hemd, sein Haar war nass, und er duftete sehr, sehr nach Aftershave. Was für eine Freude, als sich Anton und Flocki dann wiederhatten. Am frühen Abend stand Anton mit einem großen Korb frischer Erdbeeren bei uns in der Tür, als Dank, selbst gepflückt auf seiner Parzelle. Er gab uns das Gefühl, ihn glücklich gemacht zu haben. Er hatte Flocki wieder bei sich zu Haus, und alles war gut, und Anton schenkte uns einen zweiten Korb Erdbeeren am nächsten Tag. Und der Hund wich nicht mehr von seiner Seite. Geräusche: Regen Erzählerin In den Jahren seit seine Frau gestorben war, saß Anton von Mai bis Oktober fast jeden Tag in seinem Vorgarten in so einer Art Laube, mit Flocki zu seinen Füßen. Auch bei Regen blieb Anton draußen sitzen, und Flocki durfte mit in die Laube. Anton verfolgte das Geschehen in der Straße. Wer zur Arbeit ging, wer den Müll raus brachte oder wer ein Päckchen von DHL geliefert bekam. Immer öfter kam der Mann vorbei, den sie alle „Mücke“ nannten vorbei. Er parkte das Rad am Gartenzaun und setzte sich zu Anton in die Laube. Er kam bald mit einer Regelmäßigkeit, als wäre die Laube sein Arbeitsplatz. O-TON Bewohner Haus 43 Das Ankommen war immer deutlich erkennbar, weil – also er saß ja den ganzen Tag da, Anton –, aber Mücke kam dann immer rein, laut klappernd, das heißt, da war immer irgendwas in der Türe, so Flaschen-mäßig. Das war dann quasi der Beginn ihrer Wachstunde, und wenn sie dann aufhörten, wenn’s abends war, dann waren diese Flaschen auch leer und die beiden Herren auch etwas voller. Erzählerin Und da palaverten sie dann lauthals über Gott und die Welt und leerten die Bierflaschen. Am frühen Abend fuhr Walli wieder los und Anton sammelte die Flaschen ein. Geräusche: Möbel ausräumen Noch vor dem Winter zogen wir weg. Wir wollten schon lange wieder in die Innenstadt zurück. Am Tag unseres Auszugs sah ich Anton nicht, um mich zu verabschieden. Als alles verladen war und ich die Tür zuzog, sah ich ihn immer noch nirgends, und weil der Umzugswagen wartete, hatte ich keine Zeit, bei ihm zu klingeln und abzuwarten bis er aufmachte. Vielleicht schlief er ja auch. 7 Geräusche: Bei Karstadt Erzählerin Anderthalb Jahre waren seit unserem Auszug vergangen, da traf ich zufällig bei Karstadt in der Haushaltswarenabteilung meine früheren Nachbarn von der Straße am Fluss, die Bewohner von Haus Nummer 42, Karin und Patrick. Plötzlich standen sie da am Regal direkt vor mir. Wir waren jahrelang Nachbarn gewesen und hatten uns nie irgendwo per Zufall getroffen. Und jetzt, zwischen den Thermoskannen, Kaffeemaschinen und Wasserkochern quatschten wir uns fest. Irgendwann fragte ich, wie geht’s denn Anton, und Karin druckst herum. Der Anton, flüsterte sie, der ist ja elend krepiert, da in seinem Haus. Die Leiche hat da wohl länger gelegen. Beim Nachbarn kamen dicke Fliegen durchs Fenster. Furchtbar so was. Geräusche: Aus dem Haus, auf die Straße, in den Bus O-TON Bewohner Haus 44 Er sagte immer „Stoßlüften, Kinder, Ihr müsst Stoßlüften gegen den Schimmel“, weil die alten Häuser am Flussufer alle Problem haben mit Feuchtigkeit. Erzählerin Woran man sich auf einmal so erinnert... „Zehn Minuten alle Luken aufreißen und ordentlich den Wind durchpfeifen lassen, und dann wieder zu alles“. Geräusche: In der Wohnung. Fenster wird zugemacht. Erzählerin Gerücht oder Wahrheit - Die Sache mit Anton ging mir nicht aus dem Kopf. Geräusche: Eine Haustür schlägt zu. Jemand geht hinaus auf eine mehrspurige Straße Geräusche: Im Bus Erzählerin Niemand, aber auch wirklich niemand, sollte so ein Ende nehmen. – Und jetzt bin ich hier, viele Monate später, und klingle, bei meinen früheren Nachbarn, um zu hören, was sie noch wissen von– Geräusche: Gartenpforte 8 O-TON Bewohnerin aus Haus 42 Wie hieß er noch gleich? O-TON Autorin Anton. O-TON Bewohnerin aus Haus 42 Anton. O-Ton Bewohnerin Haus Nr. 47 Ich weiß, dass Anton im Krankenhaus war, ihm wurde ein Teil vom Fuß amputiert. Und dann ist er nach Hause gekommen, und da sollte ein Pflegedienst kommen. Irgendwann sah ich dann, dass der Briefkasten überquillt und hab dann einen Pfleger angesprochen, der morgens vor der Haustür stand und nicht rein kam. Und den hab ich dann gefragt, und der sagte dann: „Ja, der macht halt nicht auf“, und wollte unverrichteter Dinge wieder fahren. Und dann hab ich gefragt, wann war denn zuletzt ein Pfleger da, der Mann ist amputiert worden, der braucht mindestens 3 x am Tag einen Verbandswechsel. (Einschub: Die Nachbarin hat selbst in der Pflege gearbeitet) „Ja, aber wenn er doch nicht aufmacht“. Ja, ich sag, Sie können das dann doch nicht einfach so lassen. Da muss sich doch jemand kümmern. Ich sag, gut, dann ruf ich bei der Feuerwehr an, dass sich jemand Zugang verschafft, damit die mal gucken, wie es ihm geht, auch wenn er nicht aufmacht. Und daraufhin sagte der... Mann: vielleicht kann er auch gar nicht aufmachen. ... sagte der Pfleger dann, „nee, nee, brauchen Sie nicht, ich kümmer’ mich. Ja, und am nächsten Tag war der Briefkasten leer, und Anton war auch nicht mehr da. Also das muss dann die Zeit gewesen sein, wo er wieder ins Krankenhaus kam und auch da verstorben ist. Mann: Weißt du das? Frau: Ja. Mann: Moment, ich habe gedacht, er ist da oben gestorben. Frau: Nein. Es wurde gesagt. Erst hieß es hier in der Nachbarschaft, er ist in seiner Wohnung gestorben, aber das stimmt nicht. 9 Geräusche: Passant brüllt Erzählerin An manchen Leuten kommt man als Nachbarn nicht vorbei. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sie zu bemerken. Und dann gibt es Leute, da wird man vielleicht nie erfahren, dass sie ganz in der Nähe leben, in Rufnähe sozusagen. Und das passiert nicht nur in Hochhaussiedlungen. O-TON Bewohnerin Haus 47 Ach so, ja... O-TON Bewohner Haus 47 Im gelben Haus. Es schien unbewohnt zu sein, wir haben da nie Leben drin gesehen. O-TON Bewohnerin Haus 47 Also ich wohn jetzt schon zwanzig Jahre hier und habe diese alte Frau noch nie gesehn. Ich geh’ eines Morgens zum Einkaufen und seh’ nur, wie eine gebeugte alte Frau versucht, diese Essens-Boxen.. O-TON Bewohner Haus 47 Essen-auf-Rädern. O-TON Bewohnerin Haus 47 ... Menüservice, versucht hat, das vom Boden hochzuheben, und ich nur die Taschen fallen ließ und hinrannte, weil ich gedacht’ hab, die fällt gleich vornüber, und ihr ihr Essen in die Handgedrückt hab beziehungsweise rein gebracht hab. Ich kannte diese alte Dame nicht. Die ist nie vor die Tür gegangen. O-TON Bewohner Haus 47 Tja. O -TON Bewohnerin Haus 47 Nie ganz Liebe, nie ganz Nette, aber ich hab sie nie gesehen. O-TON Bewohner Haus 47 Es war Zufall. O -TON Bewohnerin Haus 47 Ja. Geräusche: Gartenpforte Erzählerin Aber egal, ob Nachbarn sich auffällig und laut oder leise in der Nachbarschaft bewegen, oder ob sie mehr oder weniger wahrgenommen werden – wenn sie alt sind 10 und schwach und allein, dann kann es sehr schnell geschehen, dass sie einfach verschwinden. MUSIK: Eigenkomposition Ambient Regina Burbach Erzählerin Und Anton - Auch wenn er nicht in seinem Haus verstorben ist, so hat er doch aber nach seiner Amputation noch dort gelebt, allein, und ist nur durch den Zufall, dass eine Nachbarin stutzig wurde, warum sie ihn draußen nicht mehr sah und warum sein Briefkasten überquoll, überhaupt gefunden worden. O-TON Bewohnerin aus Haus 47 Der war ja sowieso allein und konnt’ sich kaum noch selber helfen. O-TON Bewohner Haus 47 Die letzten Tage hat der Mann mit dem Hund allein in dem Haus gelebt. Der Hund hat da alles voll geschissen. Ich war ja drin in dem Haus. Dazwischen hat er gelebt. Das sah aus wie..., ja wie im Horrorfilm. MUSIK: Binnenschiff O-TON Bewohner Haus 47 Auf jeden Fall war er mit dem Tier alleine. Alles ist an tausend Ecken angeknabbert, und überall ist Hundekot, im ganzen Haus. Das Tier muss ja mindestens genauso gelitten haben wie der Mann. O-TON Bewohnerin aus Haus 47 Ja. O-TON Bewohner Haus 47 Und auch, dass er nicht soviel Geist hatte, wie er das merkte, wie es ihm geht, noch um Hilfe zu bitten, das ist für mich am schwersten vorstellbar. Oder ob es,.... ob es keinen gibt, den er hätte bitten können, weiß ich ja nicht, auch das ist ja nicht auszuschließen... O-TON Bewohnerin aus Haus 47 Anton wollte auch keine Hilfe, er hat das verweigert, er wollte das gar nicht. Nein. Der hat einfach versucht, einzukaufen, hier um die Ecke. Er ist aber nur bis zur Straßenlaterne gekommen, hat sich dann festgehalten und ist wieder umgedreht. Also der hat das nicht geschafft. Er hatte einen Spezialschuh, also das hab ich noch mitgekriegt, dass der Orthopädietechniker da war. Danach hab ich ihn nicht mehr gesehen. Musik: ”Conspiracy Theme”, Walzer, Soundtrack „The Code“, 18 sec 11 Geräusche: Straßen- u Flussgeräusche, Möwen Erzählerin Als Antons Frau gestorben war, sah Antons Vorgarten zunehmend abgewirtschaftet aus – der hintere sowieso schon. Wo früher vorm Haus Kaskaden bunter Blüten alle Blicke auf sich zogen, saßen nun Anton und Mücke in der Laube, und um sie herum stand kniehoch das Unkraut. O-TON Bewohner Haus 43 Manchmal waren sie dann fähig, dass man auch in Gespräche kam, die vor allem Mücke, sehr fachkundig, meistens über Rockmusik und Ähnliches, mit mir auch gemacht hat und... Wie alt ist Eric Clapton denn jetzt eigentlich, und wo hat der gespielt, und all so n Kram, das konnte er dann auch beantworten. Anton hatte da keine große Ahnung von. Er hat sich eher drüber lustig gemacht, dass wir beide darüber geredet haben, und dass der Mücke die Ahnung hatte, und das hat er immer bezweifelt, aber das stimmt nicht, Mücke hatte sie. Geräusche: Binnenschiff Erzählerin „Aha, Ihr seid also hier die Neuen“, hatte Anton zu Stefan und mir gesagt, als wir vor zehn Jahren in das Haus am Fluss einzogen. Wir sprachen von Vorgarten zu Vorgarten. Anton klang freundlich, seine Frau auch, und wir stellten uns einander vor. Sie hatten einen Hund, Flocki. Geräusche: Hahn kräht Erzählerin An unserem ersten Morgen im Haus Nr. 44 wurden wir von einem Hahnenschrei geweckt. Der Hahn hörte nicht auf zu krähen. Geräusche: Hahn kräht, Hund bellt. O-TON Bewohner Haus 43 Das fand ich sehr anheimelnd. Und Anton hatte halt eine Hühnergarde da drüben, die er pflegte, und zumindest eine Zeit lang, einen Hahn. Er hat sich auch lange Jahre da richtig intensiv drum gekümmert. Da war so ne Sandecke gebaut für sie, das hat er ganz liebevoll gemacht. Geräusche: Fenster, Windspiele 12 Erzählerin An jenem Morgen guckten wir zum ersten Mal in Ruhe aus den rückwärtigen Fenstern auf die Gärten des Häuser-Carrés. Mitten in dem Carré lag eine Wiese, mit Gänseblümchen und Kornblumen. Sie war eingerahmt von den Gartenzäunen der Häuser ringsum. Nur der Garten von unserm neuen Nachbarn rechts hatte keinen Zaun zur Wiese. Der Garten rechts war ein wild wucherndes Paradies. Wie für Kinder und Träumer gemacht. Windräder drehten sich und Glaskugeln in leuchtenden Farben glitzerten. Und unser Nachbar zupfte Unkraut. – Das war vor zehn Jahren. Ich bekam immer sofort gute Laune, wenn ich aus dem Fenster in Antons Garten sah. Und Anton war darin immer mit irgendwas beschäftigt. Brachte ein neues Windrad an, reparierte ein altes. O-TON Bewohner Haus 43 Dass jemand sich erlaubt, in der Stadt noch Hühner zu halten, das war das Tolle. Erzählerin Stand da nicht..., stand da nicht eines Tages ein fast lebensgroßer Gartenzwerg da unten? O-TON Bewohner Haus 41 Ja, ja, hab ich auch gesehen. Aber ich glaub, den hat er dann ausgetauscht gegen eine Vogelscheuche. An dem Garten konnte man sehen, dass der Mann Humor hatte. Geräusche: Bagger O-TON Bewohner Haus 43 Also irgendwann fingen sie dann an, diese Wiese scheinbar für Bauaktivitäten vorzubereiten, indem Sachen da runter gefahren wurden und Sand draufgefahren wurde. Und dann wurde irgendwann angefangen, da so Reihenhäuser draufzubauen, und das war dann das Ende der ganzen Idylle, weil dann, nachdem die Häuser standen, musste der Hahn weg, weil wohl die Nachbarn sich beschwert hatten, dass der Hahn zu laut sei, was ich vollkommen absurd fand, aber dann war die ganze Idylle weg da hinten. Geräusche: Schiff Musik: „For no apparent reason”, Anouar Brahem, 10 sec Erzählerin Vielleicht fing Antons Glück damals schon an, ihn zu verlassen, als die Bagger seine Wiese platt machten, und ihm der Neubau vor die Nase gesetzt wurde. Aber das ist Spekulation. Er schien jedenfalls immer mehr abzubauen, während die Straße vor seinem Haus sich immer mehr herausputzte. Es wurde das Kanalsystem erneuert, 13 der Straßenbelag und die Bürgersteige. Und dann legten sie den Park an. Was Anton scheinbar gefiel und ihn wieder ein wenig aufleben ließ. Nicht nur, weil er mit Flocki da immer unterwegs sein konnte. Er saß auch oft auf der Bank am Flussufer, die Straße in seinem Rücken, stundenlang, und sah den Schiffen zu. Geräusche: Sommerstimmung am Fluss mit Motorflugzeug O-TON Bewohner Haus 43 Ja die Frage ist, was ist passiert, als Anton gestorben ist, und was haben sie mit dem Hund gemacht, der war ja dann auch alleine. Wo ist Flocki jetzt? Erzählerin Im Tierheim. Es geht ihm gut, soweit. Geräusche: Das sich entfernende Flugzeug bildet den Ausklang 14
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