14.02.2017, Flüchtlingselend in der Türkei - Der Deal und die

Manuskript
Beitrag: Flüchtlingselend in der Türkei –
Der Deal und die Folgen
Sendung vom 14. Februar 2017
von Reinhard Laska
Anmoderation:
Kürzlich war die Kanzlerin wieder mal in der Türkei, wieder mal
zum Tauziehen beim Thema Flüchtlinge. Denn Erdogan droht,
wieder mal, den Deal mit der EU platzen zu lassen, wenn Türken
nicht endlich von der Visumspflicht im Schengenraum befreit
werden. Und Merkel verspricht, wieder mal, die ausstehenden
Gelder der EU würden bald kommen. Sie weiß, wackelt das
Abkommen, dann wackelt ihre Wiederwahl erst recht. Und
deshalb, weiß auch Erdogan, ist sie anfällig für Drohungen. So
geht es hin und her. Die Menschen bleiben dabei auf der Strecke.
Millionen Syrer, politisch abgeschoben ins Elend und im Stich
gelassen. Unser Reporter Reinhard Laska zeigt Schicksale im
Schatten des Flüchtlingsdeals.
Text:
Spenden für syrische Kriegsflüchtlinge in der Türkei. Soeben hat
die Kleiderkammer geöffnet. Jeder versucht etwas zu ergattern:
Schuhe, einen Pullover, irgendetwas. Die Not ist groß. Aus
eigener Kraft können sich die Menschen kaum versorgen.
O-Ton Flüchtling:
Wir haben nicht mal mehr was zum Anziehen. Hier schauen
Sie, meine Kinder. Ich brauche etwas zu essen, ich brauche
Milch und Windeln.
Wir sind im Südosten der Türkei. In der türkisch- syrischen
Grenzregion leben die meisten syrischen Kriegsflüchtlinge, wie
hier in Kilis. Wir treffen Mahmoud Dahi. Der Exil-Syrer hat eine
Hilfsorganisation gegründet. Vierzig Jahre lebte und arbeitete er
in München. Seit vier Jahren, erzählt er uns, sammelt er in
Deutschland für seine Landsleute.
O-Ton Mahmoud Dahi, Spendahilfe:
Das ist der Tropfen auf den heißen Stein, das kann man ja
sagen. Es muss einfach noch etwas mehr getan werden,
damit hier die Leute auch ohne Sorgen leben können und
auch, dass sie nicht versuchen, irgendwie noch zu flüchten in den Westen. Das ist sehr wichtig.
Jeden Morgen verteilen Dahi und seine Helfer Fladenbrot. 400
Familien werden so versorgt. Ohne Dahi müsste mancher
hungern - und das, obwohl die Europäische Union im
Flüchtlingsabkommen Milliardenhilfe versprochen hat.
Wir lernen Lula und Samiha kennen, zwei Kriegswitwen aus
Aleppo, die sich mit ihren Kindern durchschlagen. Sie führen uns
zu ihrer Wohnung, wollen erzählen, wie es ihnen ergeht. Vor
ihnen ein Berg von Schokoladenriegeln. Die sind nicht für sie. Sie
müssen sie für andere verpacken - von morgens bis abends. Alle
müssen helfen, auch die Kleinsten.
O-Ton Samiha:
Wir sitzen hier und arbeiten bis zwei Uhr in der Nacht,
während die Kinder um uns herum schon schlafen. Wenn wir
nicht arbeiten würden, dann könnten wir nicht überleben. Wir
haben keine Zeit zu kochen, wir machen Brote. Und
manchmal sind wir selbst dafür zu müde. Dann müssen die
Kinder hungrig ins Bett.
Am Nachmittag holt der Großvater seinen Enkel ab. Der
zehnjährige Ahmed muss in einer Textilfabrik arbeiten. Zehn
Stunden am Tag - Arbeit statt Schule.
O-Ton Ahmed:
Ich habe die Schule über alles geliebt. Dennoch hat mich
meine Familie runtergenommen, weil das Geld nicht reicht.
Ich muss arbeiten gehen. Wenn irgendwas nicht klappt, wenn
wir Kinder einen Fehler machen, dann drohen sie uns
rauszuschmeißen. Sie sagen uns das ständig. Und wirklich,
einige unserer Freunde haben sie schon rausgeschmissen.
Sie schlagen uns, wenn wir Pause machen. Wir weinen, weil
sie uns wehtun.
Lula und Samiha schämen sich, aber ohne Ahmeds Arbeit würde
es einfach nicht reichen.
Wir wollen weiter, doch plötzlich taucht Polizei auf. Den
Uniformierten reicht unsere Drehgenehmigung nicht. Angeblich
brauchen wir eine zusätzliche. Weitere Polizisten kommen dazu.
Am Ende sind es acht Beamte. Sie nehmen unsere Personalien
auf, fragen uns aus. Schließlich heißt es: „Fahrt bloß nicht
direkt an die Grenze! Keine Soldaten fotografieren.“
Wir dürfen weiter, machen uns auf den Weg von Kilis nach Suruç,
einer kleinen Grenzstadt. Die türkische Hilfsorganisation AFFAD
hat uns eingeladen. Entlang der Grenze betreibt sie sechs große
Flüchtlingslager - gemeinsam mit dem Flüchtlingswerk der
Vereinten Nationen. Die Camps werden mit Millionen Euro von
Deutschland und der EU unterstützt. Kommt das Geld auch an,
wollen wir wissen.
Wieder gibt es Schwierigkeiten, diesmal mit den Militärs. Die
wollen uns gar nicht erst hineinlassen. Nach zwei Stunden
Diskussion lenken sie ein. Bedingung: keine Interviews mit
Flüchtlingen. So machen wir den Rundgang mit einer ganzen
Schar von Aufpassern.
Knapp die Hälfte der 35.000 Flüchtlinge sind Kinder im
schulpflichtigen Alter. Sie gingen hier regelmäßig zur Schule,
versichert man uns. Doch bevor wir nachfragen können, werden
wir weitergeschoben. Schließlich präsentiert man uns eine
Vorzeigefamilie.
O-Ton Ali Hussein:
Es geht uns sehr gut, wir danken dieser Regierung. Ob ich
nach Europa will? Nein, niemals, ich will hier bleiben, ich
schwöre bei Allah.
Er ist vor Kurzem Vater geworden, seine kleine Tochter wurde im
Camp geboren.
O-Ton Fatma Hussein:
Meinem Kind wünsche ich eine gute Zukunft und uns, dass
wir wieder zurück in die Heimat können.
Der Leiter des Camps drängt zum Aufbruch. Dann können wir
doch noch einen Geflüchteten fragen:
O-Ton Frontal 21:
Wenn ihr die Möglichkeit hättet, nach Europa, nach
Deutschland zu gehen?
O-Ton Flüchtling:
Ja, wenn wir die Möglichkeit haben, dann gehen wir nach
Europa.
Nur weg von hier. Mittlerweile leben gerade mal fünf Prozent aller
Flüchtlinge in den Camps, alle anderen ziehen weiter oder
suchen Zuflucht in den Städten.
Zehn Kilometer von hier liegt die syrisch-türkische Grenze. Näher
heran dürfen wir nicht. Doch inzwischen gibt es Fotos der
Grenzanlagen: ein kilometerlanger Betonwall. Schutz vor
Terroristen, heißt es. Doch auch die Flüchtlinge kommen so kaum
noch in die Türkei.
Wir besuchen Mohammed und seine Familie. Sie sind aus Aleppo
in die Südosttürkei geflohen - unter Lebensgefahr. Sie haben
Angst vor der türkischen Polizei, wollen nicht erkannt werden.
O-Ton Mohammed:
Es ist schwer, über die Grenze zu kommen. Wirklich. Die
Einreise ist verboten. Wer illegal kommt, geht ein hohes
Risiko ein. Die Polizei kann Dich verhaften und verprügeln.
O-Ton Frontal 21:
Stimmt es, dass die Militärs auf Flüchtlinge schießen?
O-Ton Mohammed:
Ja, es ist wahr. Diese Schüsse hat es gegeben.
Schüsse auf Flüchtlinge, darüber will kaum jemand offen reden.
Spitzel sind überall - auch hier. Dieser Mann hat uns beobachtet,
jetzt ruft er die Polizei.
O-Ton:
Ihr müsst die kontrollieren. Die sind schon die ganze Zeit
hier.
Und wieder heißt es: Wer seid ihr, was macht ihr hier, ihr dürft
hier nicht drehen. Schließlich lassen sie uns ziehen.
Weiter geht es nach Gaziantep, der Provinzhauptstadt - zwei
Millionen Einwohner plus 600.000 Flüchtlinge. Die Stadt ist mit
der Versorgung der Neuankömmlinge völlig überfordert. Das
räumt auch Fatma Sahin ein, die Bürgermeisterin und ehemalige
Familienministerin unter Erdogan.
O-Ton Fatma Sahin, Bürgermeisterin Gaziantep:
Die Führer der EU müssen sich mit unserem
Ministerpräsidenten und dem Staatspräsidenten so schnell
wie möglich zusammensetzen, um Lösungen für das
Flüchtlingsproblem zu finden. Die Zeit drängt. Wir befürchten
eine verlorene Generation.
Wir besuchen eines der städtischen Projekte, das von der EU
unterstützt wird. Der Direktor ist stolz auf den Unterricht für die
syrischen Kinder. Auch er will keine verlorene Generation. Doch
das Angebot reicht bei Weitem nicht aus. Hundertausende Kinder
in der Region müssten noch eingeschult werden.
Am nächsten Morgen geht es von Gaziantep nach Istanbul. Für
Flüchtlinge aus der Südosttürkei ist dieser Weg versperrt, ohne
Genehmigung dürfen sie die Grenzregion nicht verlassen.
Dennoch haben sich viele bis vor die Tore Europas
durchgeschlagen. Mittlerweile leben rund 400.000 syrische
Flüchtlinge in der Metropole am Bosporus - so wie Affaf und ihre
drei Kinder. Die Familie floh aus Damaskus, ihr Mann hat es bis
nach Deutschland geschafft, will Frau und Kinder nachholen. Affaf
erinnert sich noch genau an die lebensgefährliche Flucht über die
Grenze.
O-Ton Affaf:
Wir blieben ungefähr zwei Monate in der Nähe der Grenze,
sind von einem Schleuser zum anderen gegangen. Ich war in
großer Sorge um meine Kinder. Manchmal mussten wir
mitten in der Nacht raus. Die Touren mit den Schleusern
waren schlimm. Wir gerieten an der Grenze unter Beschuss.
Die Grenzer machen den Leuten Angst, damit sie abhauen.
Meine Kinder haben sich so gefürchtet.
Jetzt wartet sie in ihrer bescheidenen Unterkunft auf die
Genehmigung nach Deutschland zu kommen. Doch die lässt auf
sich warten. Seit vergangenem Jahr dürfen die meisten Syrer
selbst engste Angehörige erst nach zwei Jahren holen.
O-Ton Affaf:
Ohne die Unterstützung der Menschen, bei denen ich hier
untergekommen bin, hätte ich weder eine Wohnung noch
irgendetwas was anderes. Mein Mann schickt ein bisschen
Geld, ja. Wir kommen kaum über die Runden. Ich kann meine
Kinder nicht mal zur Schule schicken. Dafür reicht es nicht.
.
Affaf fürchtet, dass ihre Kinder in der Türkei zu Analphabeten
werden, ohne Zukunft. Von den Millionen EU-Geldern, die in
Schulausbildung fließen, spüre sie nichts. Sie will nach
Deutschland.
Auch in Istanbul bekommen die Flüchtlinge wenig oder gar keine
Unterstützung, schlagen sich mit Billigjobs durch - so wie
Mohammed. Wegen des Bürgerkrieges konnte der 19-Jährige
weder die Schule abschließen, noch eine Ausbildung absolvieren.
Er führt uns zu seinem Arbeitsplatz - eine Textilwerkstatt, wie es
sie in Istanbul zu Tausenden gibt. Dort schuftet Mohammed mit
anderen Flüchtlingen zwölf Stunden am Tag.
O-Ton Mohammed:
Nein, mein Gehalt reicht nicht aus. Alles ist so teuer hier,
auch die Miete für mein Zimmer.
Als Hilfsarbeiter in Istanbul will der 19-Jährige nicht enden. Er
träumt von Europa.
O-Ton Mohammed:
Selbst wenn Europa mir nichts anbietet, habe ich doch die
Chance auf eine Zukunft: die Schule abschließen, eine
Familie gründen. Hier zu bleiben, bedeutet, dass ich das alles
aufgeben muss.
Das denken viele Flüchtlinge, die wir getroffen haben. Die Türkei
ist für sie vor allem ein Land, das man so schnell wie möglich
verlassen möchte - wenn man kann.
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