CHAGAS DER KRANKHEIT EIN GESICHT GEBEN EINE REISE NACH ARGENTINIEN EINE REPORTAGE VON MATIAS BOEM • BOEMEDIA DR. JAIME ALTCHEH Leiter Parasitologie und Chagas-Krankheit Ricardo Gutiérrez-Kinderkrankenhaus, Buenos Aires – ANYONE CAN CHANGE EVERYTHING – WIR GLAUBEN, CHAGAS IST EINE KINDERKRANKHEIT „Wir glauben, Chagas ist eine Kinderkrankheit“, formuliert Dr. Jaime Altcheh eine fast schon radikale These über eine der größten Geisseln Lateinamerikas. Der Kinderarzt und Chef der Abteilung für Parasitologie und Chagas sitzt in seinem Büro des Kinderkrankenhauses Ricardo Gutierrez in Buenos Aires. Im Grunde ist es nur ein winziger, gläserner Verschlag, vollgestopft mit Patientenakten, Fachliteratur, natürlich einem Computer und darüber einem Wahlspruch: Anyone can change everything. Leichtfertig würde Dr. Altcheh solch einen umstürzlerischen Gedanken niemals äußern, schließlich hat der Mittfünfziger fast sein ganzes Berufsleben mit der Erforschung der Chagas-Krankheit verbracht, die WHO-Schätzungen zufolge weltweit etwa sechs bis sieben Millionen infizierte Menschen mit dem Tod bedroht. Doch vor genau diesem Hintergrund lautet seine klare Erkenntnis: „Ein infizierter Erwachsener ist ein nicht behandeltes Kind! Denn die meisten Infektionen werden in der Kindheit verursacht.“ Dr. Ledesma Patiño, der seit 2005 das regionale Chagas-Zentrum in Santiago del Estero, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz leitet, stützt die These seines Kollegen Altcheh. Der weit im Norden Argentiniens liegende Landstrich zählt zu den sechs Provinzen mit dem höchsten Übertragungsrisiko der Krankheit. 2 „Kinder sind die am stärksten gefährdete Gruppe unserer Bevölkerung“, fasst er seine Erfahrungen zusammen. „Unser Zentrum hat bis heute 27.000 Patientenakten angesammelt. 3500 davon betreffen akute Chagas-Fälle, von denen wiederum 83 % Kinder unter 9 Jahren sind.“ Grundsätzlich gilt Chagas zunächst als klassische vektorübertragene Krankheit. Vektoren sind lebende Organismen, die Krankheitserreger von einem infizierten Lebewesen auf ein anderes übertragen. Im Falle der ChagasKrankheit tun dies ausschließlich in Lateinamerika beheimatete, nachtaktive blutsaugende Wanzen, die man in Argentinien „Vinchuca“ nennt. CHAGAS GILT ALS KLASSISCHE VEKTORÜBERTRAGENE KRANKHEIT „Die Lebensumstände der Menschen sind ein wichtiger Faktor, weil sich die Vinchucas in den primitiven Häusern der armen Landbevölkerung leichter einnisten können“, erklärt Dr. Altcheh. „Außerdem leben die Wanzen in den Tiergehegen, die in der Regel in unmittelbarer Nähe der Behausungen liegen. In den Städten, wo die Gebäude besser sind und es keine frei herumlaufenden Tiere gibt, ist das Infektionsrisiko viel geringer.“ DR. OSCAR LEDESMA-PATIÑO Direktor Kontrollprogramm Vektorübertragene Krankheiten Regionales Chagas-Zentrum Santiago del Estero DIE „VINCHUCA“ SANTIAGO DEL ESTERO EINE DER SECHS PROVINZEN MIT DEM HÖCHSTEN ÜBERTRAGUNGSRISIKO DER KRANKHEIT 3 CHAGAS IST EIN ERNSTZUNEHMENDES EPIDEMIOLOGISCHES PROBLEM Auch hier wartet Dr. Patiño in seinem Archiv, in dem sich tausende Patientenakten in unscheinbaren braunen Papierumschlägen auf einfachen Metallregalen stapeln, mit den passenden Zahlen auf: „Als gemeinsamer Nenner der von uns untersuchten Erkrankungen muss der Wohnraum betrachtet werden, insbesondere die alten Bauernhöfe, von denen es unseren Erhebungen zufolge in Santiago del Estero ungefähr 70.000 gibt. Laut einer Untersuchung, die wir von 2005 bis 2006 durchgeführt haben, waren 52 Prozent dieser Rancheros von Vinchucas befallen.“ Die Vinchucas stechen Menschen, Säugetiere, Reptilien und Vögel. Sie tun dies meist unbemerkt in Körperregionen mit dünnerer Haut. Anschließend saugen sie Blut und setzen dabei Kot ab. , 52 PROZENT DER RANCHEROS SIND VON VINCHUCAS BEFALLEN CARLOS CHAGAS Zum ersten Mal wurde dieser Mechanismus 1909 von dem brasilianischen Arzt und Infektiologen Carlos Chagas erkannt, nach dem man die Krankheit später benannte. Es gelang ihm, den kompletten Mechanismus der Krankheit zu beschreiben: das auslösende Pathogen, den Vektor, den Wirt, die klinische Manifestation und die Epidemiologie. Allerdings hielt er fälschlicherweise den Stich für die Hauptinfektionsquelle. Der französische Parasitologe Émile Brumpt war hingegen der richtigen Ansicht, die Übertragung vollziehe sich durch Einreiben des mit den Erregern Trypanosoma cruzi verseuchten Kots in die Wunde oder in unverletzte Schleimhaut. 1969 beschrieb schließlich der britische Parasitologe Ralph Lainson die Krankheit als erster vollständig korrekt. Erst in dieser Zeit wurde auch erkannt, dass Chagas ein ernstzunehmendes epidemiologisches Problem ist. EMILE BRUMPT RALPH LAINSON 4 DR. SERGIO SOSA-ESTANI Leiter Abteilung Vektorübertragene Krankheiten Argentinisches Gesundheitsmministerium Buenos Aires ESTER CONTRERAS Hausfrau und Chagas-Patientin Buenos Aires „Historisch gesehen konzentrierten sich die vorrangig betroffenen Bevölkerungsgruppen in den ersten Jahrzehnten in den ländlichen Gemeinden, wo es den Vektor gab“, berichtet Dr. Sergio Sosa-Estani, Epidemiologe, Leiter des Nationalen Instituts für Parasitologie und Leiter der Abteilung für vektorübertragene Krankheiten des argentinischen Gesundheitsministeriums in seinem holzgetäfelten Büro. „Das ist ein sehr ausgedehntes Gebiet. Es reicht vom Süden der USA bis zum Süden Argentiniens und Chiles, quer durch ganz Lateinamerika. Über die Jahrzehnte führte die Migration in die Großstädte dazu, dass viele Menschen in Gebieten ohne das Risiko einer vektoriellen Übertragung leben, aber aufgrund ihrer bereits vorher erfolgten Infektion behandelt werden müssen.“ Das Institut erstreckt sich hinter unscheinbaren Fassaden über eine ganze Häuserzeile der Avenida Paseo Colón in Buenos Aires. In seinen Fluren stauben Zementsäcke, seine Fahrstühle transportieren überwiegend Bauarbeiter, seine Grundfesten werden von Baulärm erschüttert, doch die Arbeit geht unermüdlich weiter. Es wird geforscht, ausgebildet und diagnostiziert, medizinische Netzwerke werden aufgebaut sowie wissenschaftliche Materialien erstellt und: Es werden hier Tag für Tag, wie von Sosa-Estani erläutert, Patienten behandelt, die bereits krank in die Stadt gekommen sind. DIE VORRANGIG BETROFFENEN BEVÖLKERUNGSGRUPPEN KONZENTRIEREN SICH IN DEN LÄNDLICHEN GEMEINDEN „Ich lebte in einer ländlichen Gegend, von der ich wusste, dass es dort Vinchucas gab“, erzählt Ester Contreras. „Ich glaubte, dass alle Vinchucas den Parasiten in sich tragen. Allerdings wusste ich nicht, was ein Parasit ist“, bekennt die 41-jährige Hausfrau freimütig. Dann wandelt sich ihr Tonfall. Fast unmerklich huschen Angst und Fatalismus über ihr Gesicht, während sie betont beiläufig weiterspricht: „Nachdem ich erfahren hatte, dass ich Chagas habe, begann ich, im Internet zu recherchieren. Dann bekam ich die Symptome wie Herzjagen. Jetzt will ich lieber nicht mehr so viel darüber wissen ….“ JETZT WILL ICH NICHT MEHR SO VIEL DARÜBER WISSEN 5 CHAGAS IST PER DEFINITIONEM EINE UNBEMERKTE KRANKHEIT Das ist verständlich, vergegenwärtigt man sich den weiteren Verlauf der Krankheit: Nach dem Stich der Vinchuca tritt meist eine entzündliche Schwellung um die vom Insekt erzeugte Wunde auf. Etwa die Hälfte der Neuinfizierten, meist Kinder oder Personen mit Abwehrschwäche, durchläuft eine bis zu achtwöchige akute Phase mit Fieber, Luftnot, Ödemen, Durch-fall, Bauchschmerzen und Lymphknotenschwellungen, die oft fälschlich als grippaler Infekt diagnostiziert wird. Danach klingen die Symptome ab und die Sie gehen nicht ins Krankenhaus, um die Krankheit diagnostizieren zu lassen, weil sie gar nicht wissen, dass sie krank sind. Im Allgemeinen ist Chagas per Definitionem eine unbemerkte Krankheit.“ Patienten betrachten sich als geheilt. Chagas-Kranken ohne Symptome, die ich kenne, nehmen ihre Krankheit sehr gelassen hin. Meine Cousine hat Chagas ohne Symptome. Ich habe sie gefragt: Warum lässt du dich nicht behandeln? Du kannst geheilt werden. Aber nein, sie will nicht. Es interessiert sie nicht, solange es ihr gut geht.“ Dr. Faustino Torrico, spezialisiert auf Tropenmedizin und Infektionskrankheiten, Professor an der Universität Mayor de San Simón in Cochabamba in Bolivien, wo ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung mit Chagas infiziert sind, beschreibt die spezielle Tücke der Krankheit: „Die Menschen spüren keine Symptome und sind nicht beunruhigt. Ester Contreras, die Patientin des Nationalen Instituts für Parasitologie, untermauert dies durch Er fahrungen aus ihrem ganz persönlichen Umfeld. Sie zeigen, wie sehr die Krankheit aufgrund dieser Eigenschaft schlicht verdrängt wird: „Die meisten Doch diese Ruhe ist trügerisch: Nach einer teilweise Jahrzehnte währenden Latenzphase offenbart UNTERSUCHUNG VON BLUTPROBEN IM LABOR CHAGAS-PATIENTEN IM KRANKENHAUS 6 sich bei circa 30 Prozent der Patienten die Bösartigkeit der in der Zwischenzeit chronisch gewordenen Krankheit: Symptome wie Herzvergrößerung mit Herzrasen, Leistungsschwäche und Luftnot, erweiterte Speiseröhre mit Schluckstörungen, gleichzeitige Schwellung von Leber und Milz, Erweiterung des Dickdarms, Darmdurchbruch oder -Verschluss, fortschreitende Lähmung des Magen-Darm-Trakts mit Gewichtsverlust und chronischer Verstopfung sowie Blutarmut und Erkrankungen des Nervensystems führen letztlich bei rund einem Drittel der betroffenen Personen zum Tod. DIE SYMPTOME FÜHREN BEI RUND EINEM DRITTEL DER BETROFFENEN ZUM TOD Umso dramatischer, dass neben dem Kontakt mit der Vinchuca und selteneren Fällen durch Bluttransfusionen, Organtransplantationen sowie den Genuss verseuchter Nahrungsmittel ein Infektionsweg über die Jahre immer wichtiger geworden ist: die Übertragung der Krankheit von der Mutter auf ihr ungeborenes Kind. „Wir alle können die Chagas-Krankheit bekommen“, stellt Dr. Claudia Domínguez, Spezialistin für perinatale Infektionen, nüchtern fest. Die lebhafte, engagierte Ärztin arbeitet in einer öffentlichen Klinik, dem Luis-Lagomaggiore-Krankenhaus in Mendoza, am Fuße der schneebedeckten Anden. Die gleichnamige Provinz im zentralen Westen Argentiniens zählt wie Santiago del Estero zu den sechs am stärksten durch die Chagas-Krankheit betroffenen Gebieten des Landes. „Die Menschen in den Endemiegebieten haben ein höheres Risiko als andere, über den Stich einer Vinchuca mit Chagas infiziert zu werden“, erklärt Dr. Domínguez. „Aber“, ergänzt sie dann nachdrücklich, „die meisten Kinder unter 15 Jahren haben die Krankheit während der Schwangerschaft von ihrer Mutter bekommen.“ Dr. Adelina Riarte, Kollegin von Dr. Sosa-Estani am Nationalen Institut für Parasitologie in Buenos Aires und Leiterin der dortigen klinischen Abteilung Pathologie und Behandlung, bestätigt diese Erfahrung: „Die Übertragung von der Mutter aufs Kind ist heute die zweitwichtigste Form der Übertragung der Chagas-Krankheit“, sagt sie WIR ALLE KÖNNEN DIE CHAGAS-KRANKHEIT BEKOMMEN DR. CLAUDIA DOMÍNGUEZ Spezialistin für perinatale Infektionen Luis Lagomaggiore-Krankenhaus Mendoza MENDOZA EINE DER SECHS AM STÄRKSTEN DURCH DIE CHAGAS-KRANKHEIT BETROFFENEN PROVINZEN DES LANDES 7 DIE ÜBERTRAGUNG VON DER MUTTER AUFS KIND IST DIE ZWEITWICHTIGSTE FORM DER INFEKTION NEUGEBORENENSTATION UND WARTESAAL DES LAGOMAGGIORE-KRANKENHAUSES MENDOZA und geht dann sogar noch einen Schritt weiter: „Man nimmt an, dass Chagas in den kommenden 50 Jahren auf genau diese Weise fortbestehen wird.“ Ihre Patientin Sabrina Lojam, betont Dr. Domínguez auf dem Weg zu einem Hausbesuch, lebe in einem städtischen Gebiet mitten in Mendoza. Bunt gestrichene Einfamilienhäuser mit winzigen Gärten reihen sich hier Straße um Straße aneinander. Alle sind sie mit starken Gittern, Vorhängeschlössern und hohen Zäunen gegen die stets drohende Gefahr eines Einbruchs gesichert. Durch Argentiniens anhaltend schlechte wirtschaftliche Lage boomt landesweit die Kriminalität. Das Lagomaggiore-Krankenhaus, in dem Dr. Dominguez arbeitet, bietet, wie alle öffentlichen Krankenhäuser Argentiniens, kostenlose Behandlung – nicht nur unabhängig vom Wohnort, sondern auch von der Staatszugehörigkeit. So reisen seine Patienten oft über mehrere Tage aus dem ländlichen Umland und sogar dem benachbarten Ausland an. Viele von ihnen übernachten im Gewusel der überfüllten Warteräume. Hier kommen in der zweitgrößten Entbindungsstation Argentiniens jedes Jahr 6000 bis 6500 Babys zur Welt. Den Vorschriften des Nationalen argentinischen Chagas-Programms entsprechend, an dessen Umsetzung und Weiterentwicklung Dr. Sosa-Estani mit seinem Team arbeitet, sollen landesweit alle Schwangeren, genau wie alle Blutspender, vorsorglich auf die Chagas-Krankheit untersucht werden. Praktisch gelingt dies im Lagomaggiore-Krankenhaus bei 90 bis 95 Prozent. Circa fünf Prozent der untersuchten Frauen sind Chagas-positiv und werden gemeinsam mit ihren Kindern von Dr. Domínguez beraten und behandelt. Da Vinchucas in dieser Gegend in der Regel nicht vorkommen und sie zudem beschwerdefrei war, traf Sabrina die Chagas-Diagnose gänzlich unvorbereitet. Nach landestypischer Sitte begrüßt sie Claudia Domínguez herzlich mit Küsschen auf die rechte und linke Wange. Dann führt sie die Ärztin ins mit Plüschtieren, Porzellanfiguren und Familienfotos geschmückte Wohnzimmer. Während ihre Mutter noch stolz die elektrische Strickmaschine und ihre Erzeugnisse vorführt, setzt sich Sabrina mit ihrem Sohn auf einen schweren gedrechselten Stuhl vor die überbordende Schrankwand. „Ich wusste nicht, wie ich mich infiziert hatte“, erzählt die 29-jährige Hausfrau immer noch fassungslos. „Bei meiner ersten Tochter war mir auch nicht klar, dass ich sie anstecken konnte. Das erfuhr ich erst bei meinem Sohn, denn er ist krank. Frau Doktor 8 Domínguez rief mich an, um mir zu sagen, dass mein Chagas-Test positiv war. Also mussten wir eine Untersuchung beim Baby durchführen. Erst da habe ich herausgefunden, dass ich die Krankheit während der Schwangerschaft weitergeben kann.“ So geht es fast allen Frauen mit chagas-kranken Kindern. Trotz Aufklärungskampagnen des Nationalen argentinischen Chagas-Programms mit Postern, Flyern, TV- und Radio-Spots, wird die Krankheit von der Bevölkerung überwiegend ignoriert beziehungsweise verdrängt. Die fatale Weitergabe ihrer Erreger von Müttern an ihre ungeborenen Kinder kann man als weitgehend unbekannt bezeichnen. GROßE TEILE DER BEVÖLKERUNG IGNORIEREN DIE KRANKHEIT Sabrinas Sohn wird nun seit seiner Geburt gegen Chagas behandelt. Auch sie selbst bekommt die Medikamente, denn trotz des hohen Risikos wollte und hat sie noch ein drittes Kind bekommen – und dieses ist gesund. Dr. Altcheh kennt einen möglichen Grund: „Wir konnten nachweisen“, erzählt er von seinen Erfahrungen, „dass die therapierten Mütter die Infektion seltener übertragen, als die nicht therapierten. Deswegen ist es nun Routine, die Kinder und gleichzeitig ihre Mütter zu behandeln.“ Grundsätzlich stehen zwei Medikamente für diese Behandlung zur Verfügung. Zum einen Benznidazol, ursprünglich in den frühen Siebzigern von Hoffmann-LaRoche entwickelt und heute von der argentinischen Firma ELEA hergestellt. Zum anderen der Wirkstoff Nifurtimox von Bayer, der bereits 1967 unter dem Handelsnamen Lampit HEUTE BEHANDELT MAN MUTTER UND KIND GLEICHZEITIG 9 BAYER SPENDET DER WHO JÄHRLICH EINE MILLION LAMPIT-TABLETTEN die Zulassung für die Behandlung der Chagas-Krankheit erhielt. Nachdem die Produktion 1997 wegen mangelnder Nachfrage eingestellt wurde, nahm Bayer sie im Jahr 2000 in Absprache mit der WHO wieder auf. Dr. Maria-Luisa Rodriguez, globale Leiterin des Entwicklungsprojektes Nifurtimox bei Kindern mit Chagas, erläutert diese Entscheidung: „Pharmafirmen werden sehr oft dafür kritisiert, dass sie sich nur den in entwickelten Ländern vorkommenden Krankheiten zuwenden. Doch das Bewusstsein, dass man sich auch auf Gebieten engagieren muss, die nicht unbedingt zum Hauptgeschäft gehören, hat in den letzten Jahren zugenommen.“ So unterstützt Bayer die WHO seit dem Jahr 2000 mit Medikamentenspenden, die seit 2012 jährlich eine Million Lampit-Tabletten umfassen. Die Medizinerin Dr. Carole Sampson-Landers, im Nifurtimox-Projektteam verantwortlich für die Planung, Durchführung und Fertigstellung klinischer Studien, beschreibt den normalen Verlauf einer Behandlung mit dem Wirkstoff: „Man geht in eine Klinik, wird vom Arzt körperlich untersucht, es wird der Bluttest vorgenommen und sollte DR. Maria-Luisa Rodriguez Leiterin Entwicklungsprojekt Nifurtimox Bayer CHEMISCHE FORMEL VON LAMPIT APOTHEKER MIT LAMPIT 10 DR. Carol Sampson-Landers Leiterin Planung und Durchführung klinischer Studien Nifurtimox-Projektteam Bayer POSITIVE CHAGAS-PROBE er positiv sein, bekommt man dort gleich zum ersten Mal seine Medizin. Die typische Behandlungsdauer beträgt je nach Medikament zwischen 60 und 120 Tage. Normalerweise wird man zu bestimmten Zeitpunkten während der Behandlung zu weiteren Untersuchungen gebeten, um Nebenwirkungen oder andere Probleme zu kontrollieren. Sobald die Behandlung abgeschlossen ist, kehrt man noch einmal für einen letzten Besuch zurück, bei dem alle Tests wiederholt werden, um herauszufinden, ob man tatsächlich geheilt ist.“ Das klingt in der Theorie recht einfach, erweist sich in der Praxis jedoch oft als schwierig. Viele der medizinischen Einrichtungen, die Tests durchführen, befinden sich in oder in der Nähe von Städten. Ein Großteil der Kranken lebt jedoch weit entfernt auf dem Land. Sie müssen arbeiten, ihre Kinder gehen im besten Fall zur Schule. So können sie nicht ohne weiteres eine Reise in die Stadt antreten, um sich auf eine Krankheit testen zu lassen, von der sie eventuell nicht einmal wissen, dass sie an ihr leiden. Dr. Claudia Domínguez versteht oft nicht, warum ihre Patientinnen den lebenswichtigen Untersuchungen häufig fernbleiben. Erst ein Besuch bei der chagas-kranken Alejandra verdeutlicht ihr die Ursachen des Problems. In Alejandras Familie lässt sich perfekt nachvollziehen, wie Chagas in der Schwangerschaft von den Müttern auf ihre Kinder übertragen wird. Hier sind sie alle krank: von der Urgroßmutter bis zur Urenkelin. Doch nur letztere erscheint regelmäßig bei Dr. Domínguez im Krankenhaus. Das achtjährige Mädchen mit dickem, dunklem Zopf und breitem Zahnlückenlächeln lebt mit seiner Familie weit außerhalb Mendozas auf dem Land, wo Chagas endemisch ist. Die gesamte Provinz besteht überwiegend aus Steppe. Durch künstliche Bewässerung wurde sie zum größten Weinanbaugebiet Argentiniens. Doch trotz des weltweiten Erfolgs argentinischer Weine ist die normale Landbevölkerung in der Regel bitterarm – und schämt sich dafür. DIE BEHANDLUNG IST IN DER PRAXIS RECHT SCHWIERIG DIE NORMALE LANDBEVÖLKERUNG IST BITTERARM – UND SCHÄMT SICH DAFÜR 11 SIE LEBEN MIT DEM GEDANKEN, DASS SIE STERBEN WERDEN MERCEDES, CHAGAS-KRANKE HAUSFRAU, MIT IHRER FAMILIE „Um einen Termin zu bekommen, muss ich in die Stadt reisen“, erklärt Alejandras Großmutter Mercedes fast schuldbewusst. „Um den Termin wahrzunehmen, muss ich am Vorabend wieder in die Stadt reisen und im Krankenhaus übernachten, damit ich am nächsten Tag untersucht werden kann. Weil ich Diabetes und Hypertonie habe, muss ich oft mehrmals im Monat ins Krankenhaus. Und wenn man sich wegen einer Krankheit untersuchen lässt, kann man sich nicht zugleich wegen einer anderen untersuchen lassen. Das macht es schwierig.“ … und erklärt das zeitliche Problem, doch den wahren Grund offenbart die fünfundvierzigjährige Hausfrau erst nach mehrmaligem Nachfragen: „Für die Fahrt allein, nur für eine Person, geben wir 60 Pesos aus. Wenn wir am Vorabend dort sein müssen, trinken wir etwas oder essen zu Abend. Am nächsten Tag frühstücken wir. Dafür geben wir bis zu 250 Pesos aus. Aber mein Mann ist zur Zeit arbeitslos und ich habe nur eine monatliche Rente von 3000 Pesos, die für vier Personen reichen muss …“ Mercedes erlaubt sich vor Fremden keine offene Klage über ihre Situation. Doch Gesichtsausdruck und Körperhaltung zeigen besonders in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet glaubt, wie niedergeschlagen sie ist. Dr. Alejandro Palacios arbeitet im bolivianischen Tarija, wo 40 Prozent der rund 250.000 Einwohner mit Chagas infiziert sind. Er beobachtet das verständliche Phänomen immer wieder und fügt ihm eine erschreckende Facette hinzu: „Die Menschen, die an der Chagas-Krankheit leiden, haben eine Tendenz zu Depressionen. Sie leben mit dem Gedanken, dass sie sterben werden. Es ist also eine Krankheit, die nicht nur den Körper beeinträchtigt, sondern auch die Seele. Außerdem glauben die Chagas-Patienten, sie seien stigmatisiert. Manchmal werden sie von der Gesellschaft diskriminiert und bekommen zum Beispiel aufgrund der Krankheit keine Arbeit.“ 12 Diese Form der Diskriminierung war in Argentinien lange Zeit sogar in ein Gesetz gegossen. Es hinderte an Chagas erkrankte Personen tatsächlich nur aufgrund ihrer Diagnose, eine Arbeit anzunehmen. Gemeinsam mit Dr. Lugones, dem Gründer des Chagas-Zentrums in Santiago del Estero, und anderen Kollegen führte Dr. Ledesma Patiño einen langen, aber auch erfolgreichen Kampf gegen dieses Gesetz, denn: „Ein einfacher Infizierter kann jede Art von Tätigkeit ausführen ohne eine Gefahr für das Leben anderer Menschen oder sein eigenes darzustellen.“ Allerdings braucht es für einen guten Job auch eine gute Ausbildung – und die haben die meisten Menschen auf dem Land immer noch nicht. Obwohl das Nationale Chagas-Programm über die zitierten klassischen Aufklärungsprogramme hinaus sogar versucht, die Bevölkerung mit Trickfilmen im immer und überall laufenden Fernsehen zu erreichen, kämpft Claudia Domínguez beständig mit dem Bildungsmangel ihrer Patientinnen: „Es gibt immer noch Analphabeten, die das Ziel der Behandlung nicht verstehen. Also versuchen wir, ganz auf diese Leute aufzupassen. Oder wir suchen ein Familienmitglied oder einen Nachbarn, der ihnen erklären kann, wann und wie die Medikamente genommen werden müssen.“ Auch um die siebzehnjährige Daiana Ruiz macht sich Claudia Sorgen. Das kindlich-schüchterne Mädchen hat während seiner Schwangerschaft die Schule abgebrochen und keinerlei Pläne, den Besuch wieder aufzunehmen. Auf der langen, eintönigen Fahrt zu Daiana, kreuzt die Ärztin über endlose Schotterpisten. Mehrfach fragt sie nach dem Weg, um nicht die Orientierung zu verlieren. Dann entdeckt sie Daiana und ihre jüngere Schwester an der Schleuse eines Bewässerungsgrabens. Ein kalter Wind treibt graue Wolken über den Himmel, während Daiana Dr. Domínguez über einen langen Sandweg zum Haus ihrer Schwiegereltern führt. Nach europäischen Maßstäben wirkt das flache, von einem Zaun aus ungleichen, in den Boden gerammten Stöcken umgebene Gebäude eher wie ein ärmlicher Schuppen. Trotzdem ist sein Zustand weit besser, als der vieler alter, strohgedeckter Adobe-Häuser mit offenen Fenstern und rissigen Mauern, die Vinchucas freien Zugang und perfekte Verstecke bieten. Seine erdbebensicheren Wände wurden von außen vollständig verputzt, sein Dach ist zumindest teilweise mit Pfannen gedeckt und seine Fenster sind verglast. Auch drinnen ist alles zwar denkbar einfach ausgestattet, aber sauber, aufgeräumt und liebevoll mit Häkeldeckchen, Fotos und Heiligenbildern dekoriert. DR. DOMÍNGUEZ UND DAIANA AUF DEM WEG ZUM HAUS IHRER SCHWIEGERELTERN ANALPHABETEN VERSTEHEN DAS ZIEL DER BEHANDLUNG OFT NICHT 13 JE JÜNGER DER PATIENT, DESTO GRÖßER SEINE HEILUNGSCHANCEN Hier fühlte sich Daianas Familie sicher vor Vinchucas und damit auch vor der Chagas-Krankheit. Sie selbst wusste weder, dass sie chagas-positiv war, noch, dass die Erkrankung ihrem Baby gefährlich werden könnte. „Meine Familie war zunächst sehr besorgt“, erzählt sie mit den Tränen ringend, während sie ihre erst zwei Wochen alte, in ein Tuch gewickelte Tochter Paz auf dem Schoß wiegt. „Doch dann habe ich ihnen erzählt, dass ich Medizin für uns beide bekomme. Jetzt sind alle wieder beruhigt.“ Claudia Domínguez, die sich einfühlsam um Daiana kümmert, betont später mit dem ihr eigenen, lebhaften Ernst: „Es ist sehr wichtig, die richtige Diagnose zu stellen, denn je jünger der Patient ist, desto größer sind seine Heilungschancen und desto besser verträgt er die Medikamente. Darum müssen alle Kinder von chagaskranken Müttern gleich nach der Geburt untersucht und bis zum ersten Geburtstag regelmäßig kontrolliert werden.“ Bei älteren, bereits vor längerer Zeit infizierten Patienten hat sich der Parasit bereits einen Weg in Organe wie den Magen, den Darm oder die Leber gesucht. In dieser Phase muss der Nachweis durch einen aufwändigen DIE „VINCHUCA“ DIANA MIT IHRER SCHWIEGERMUTTER, IHRER SCHWESTER UND IHREM BAYBY 14 Antikörpertest erfolgen. Bei Kindern hingegen kann die Diagnose verhältnismäßig leicht gestellt werden. Der Parasit befindet sich direkt nach der Infektion noch für einige Zeit im Blutkreislauf und kann ohne Probleme unter dem Mikroskop entdeckt werden. Außerdem werden durch sofortige Behandlung hervorragende therapeutische Ergebnisse erzielt. Allerdings, schränkt Claudia Domínguez bedauernd ein, gebe es nach wie vor keine angemessene pädiatrische Formulierung von Nifurtimox für Kinder. Warum diese so wichtig ist, erläutert Ihre Kollegin Dr. María Serjan vom Kinderkrankenhaus Fernandez in Buenos Aires: „Für Kinder, vom Neugeborenen bis zu solchen mit circa 40 Kilogramm Körpergewicht, wird die Dosis des Medikaments pro Kilogramm berechnet. Mit einer Tablette für Erwachsene ist es sehr schwierig, die Dosis adäquat ans Gewicht anzupassen. Vor allem bei Neugeborenen, die in der Regel nur ungefähr drei Kilogramm wiegen.“ Aus diesem Grund entwickelt Bayer zur Zeit eine neue, auf Kinder zugeschnittene Formulierung von Nifurtimox. „Für Babys ist die übliche Dosis von 120 mg des Wirkstoffs zu hoch“, bestätigt Dr. Carole Sampson-Landers, „man kann ihnen nicht die ganze Tablette geben, man muss sie zerbrechen, möglicherweise in vier Teile. Oft bricht sie jedoch ungleich und die Dosen sind nicht akkurat. Es ist aber sehr wichtig, die korrekte Dosis zu verabreichen, denn das verringert die Nebenwirkungen und Probleme der Patienten.“ EINE NEUE FORMULIERUNG VON NIFURTIMOX SPEZIELL FÜR KINDER DIE NEBENWIRKUNGEN UND PROBLEME DER PATIENTEN VERRINGERN Deshalb wird die pädiatrische Formulierung nur 30 Milligramm Nifurtimox enthalten und die neue Tablette eine Bruchkerbe bekommen, die es ermöglicht, sie exakt zu halbieren. So kann die Dosis bei Bedarf auf nur 15 Milligramm reduziert werden. Eine Menge des Wirkstoffes, die auch Babys, insbesondere Neugeborenen verabreicht werden kann. SIMULATION DER VERDAUUNG DER NIFURTIMOX-WIRKSTOFFE QUALITÄTSKONTROLLE IN DEN BAYER-LABORS NIFURTIMOX INVESTIGATORS MEETING IN BUENOS AIRES, ARGENTINIEN 15 DR. JAIME ALTCHEH MIT KOLLEGEN IM RICARDO GUTIÉRREZ-KINDERKRANKENHAUS WENN WIR DIE KINDER BEHANDELN, WERDEN WIR KEINE ERWACHSENEN MIT FOLGEERSCHEINUNGEN MEHR HABEN „Die von uns entwickelte Formulierung ist eine Tablette, die schnell in etwas Wasser zerfällt“, ergänzt Dr. MariaLuisa Rodriguez. „So kann man sie auch Säuglingen verabreichen. Feste Formulierungen können nur von Kindern genommen werden, die bereits in der Lage sind, Tabletten zu schlucken.“ Im Kinderkrankenhaus Ricardo Gutierrez in Buenos Aires gibt es eine Wand voll bunter Abdrücke von Kinderhänden. Darunter steht: „Por la esperanza de los chicos“, „Für die Hoffnung der Kinder“. Nach Ansicht aller an den Studien zur neuen Kinderformulierung von Nifurtimox beteiligten Spezialisten wird diese maßgeblich dazu beitragen, die Hoffnung zu vergrößern. Auch Dr. Altcheh, der sich gerade darüber freut, eine Mutter mit vier chagas-infizierten Kindern als geheilt entlassen zu können, zeichnet ein äußerst hoffnungsvolles Bild der Zukunft: „Wenn wir die Kinder behandeln, werden wir keine Erwachsenen mit Folgeerscheinungen mehr haben!“ Tatsächlich wird die neue Kinderformulierung bereits dringend erwartet, denn allein in Argentinien kommen jedes Jahr 1000 bis 1500 Kinder mit der Chagas-Krankheit zur Welt. Durch Migration der Landbevölkerung, insbesondere bereits infizierter Mütter, ist die angeborene Form der Erkrankung in den argentinischen Großstädten inzwischen die Hauptursache für das Vorkommen von Chagas. 16 UM DEN CHAGAS-VEKTOR ZU KONTROLLIEREN, BRAUCHT MAN KONTINUITÄT UND KONTIGUITÄT JORGE NASIR Leiter Vektorkontrollprogramm Santiago del Estero Auf dem Land allerdings kämpft man, wie seit Jahrzehnten, noch immer gegen den Vektor, die Vinchuca. „Um den Chagas-Vektor unter Kontrolle zu bringen, braucht man Kontinuität und Kontiguität!“ trägt Jorge Nasir, der Chef des ChagasProgramms in der argentinischen Provinz Santiago del Estero, sein Credo vor: Die Bekämpfung der Krankheitsüberträger muss also ohne Unterbrechung und mit ineinander greifenden Aktionen betrieben werden. Da die Vinchucas direkt in den Häusern der gefährdeten Menschen leben und sich von Haus zu Haus verbreiten, nutze es nichts, betont Nasir in seinem feuerrot gestrichenen Büro, heute diesen und morgen einen anderen Ort in 100 km Entfernung auszuräuchern. „Ich muss linear vorgehen! Ich muss an allen Orten in gleicher Weise sicherstellen, dass nirgendwo auch nur ein Haus ohne Behandlung bleibt. Denn ein einziges unbehandeltes Haus ist ein schwerwiegendes gesundheitliches Problem!“ Diesen Gedanken verfolgt das Nationale Chagas-Programm Argentiniens seit 1961 mit wechselndem Erfolg. In den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens wuchs es auf über 2000 Techniker an. Mit einem Gesamtbudget von rund 100 Millionen Dollars bekämpften diese in 19 Provinzen des Landes die Vinchucas. Anfang der Neunzigerjahre wurden zudem mehr als 15.000 Angestellte des Gesundheitswesens und städtische Beamte geschult, die Techniker zu unterstützen. So wurden bis zum Jahr 2000 in einer Million Häusern Insektizide versprüht. Tatsächlich verringerte sich der Befall der Häuser durch Triatoma infestans, so der wissenschaftliche Name der Vinchucas, von 6,1 Prozent im Jahr 1992 auf 1,2 Prozent im Jahr 1999. Die Zahl der klinisch nachweisbaren akuten Fälle der ChagasKrankheit betrug im selben Jahr schließlich nur noch sensationelle zwei. Allerdings, so wird auf der offiziellen Internetseite des Programms eingeräumt, machten Budgetkürzungen aufgrund der Finanzkrise des Jahres 2001 sowie unzureichendes Management den Erfolg bald wieder zunichte. Statt jährlich 140.000 Häuser, wie zum Beispiel 1994, wurden zwischen 1998 und 2008 nur noch weniger als 65.000 Häuser mit Insektiziden behandelt. Nur noch 40 Prozent der Haushalte in Endemiegebieten unterlagen einer zuverlässigen Überwachung auf das Vorkommen von Vinchucas. Prompt stieg die Zahl der infizierten Menschen seit dem Jahr 2000 kontinuierlich wieder an. „Doch 2009“, so Dr. Adelina Riarte vom Nationalen Institut für Parasitologie in Buenos Aires „fiel die politische Entscheidung, die Vinchucas so stark zu bekämpfen, dass in ungefähr drei oder vier Jahren alle Provinzen unseres Landes die Übertragung tatsächlich unterbrechen und die Erreichung dieses Ziels bestätigen können.“ 17 Jorge Nasirs Chagas-Programm in Santiago del Estero wirkt in diesem Zusammenhang wie die Blaupause für durchdachte und konsequent durchgeführte Vektorkontrolle. 300 Mitarbeiter stehen ihm zur Verfügung, 36 Lieferwagen, 40 Motorräder und alle Mittel, die nötig sind, sie zu unterhalten. Ein seltenes Privileg, das unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass der Gouverneur der Provinz die Wichtigkeit des Themas durch Überzeugungsarbeit von Dr. Ledesma Patiño verstanden hat und das Chagas-Programm entsprechend unterstützt. DER GOUVERNEUR DER PROVINZ HAT DIE WICHTIGKEIT DES THEMAS VERSTANDEN An 28 Tagen im Monat schwärmen Jorges Teams von seinem Hauptquartier in der Provinzhauptstadt Santiago aus. Ihre weißen Pickups schieben sich durch die verstopften Straßen der bereits 1553 gegründeten „Madre de Ciudades“, der Mutter aller Städte. Santiago ist Argentiniens älteste ununterbrochen bewohnte Siedlung. Zunächst noch über gut asphaltierte Straßen, später dann über staubige Sandpisten, kreuzen die Teams durch Argentiniens Armenhaus. Die wirtschaftliche Pro-Kopf-Leistung Santiago del Esteros ist die niedrigste des ganzen Landes und liegt 60 Prozent unter dem Durchschnitt. Vereinzelt stehende Bäume, mannshohe Kakteen und harte Dornbüsche säumen die schnurgeraden Pisten durch die kilometerweite Steppe. Nach einem festgelegten Plan durchkämmen die Männer das Land. Sie fahren von Dorf zu Dorf, von Farm zu Farm und bestimmen die genaue Position jedes Hauses per GPS. Die Daten füttern sie in ihre mobilen Computer, die mit einer von der Statistikerin Isabel Escosa gepflegten Datenbank im Hauptquartier verbunden sind. Diese enthält alle 52.000 Bauernhöfe und 18.000 prekären Behausungen der Provinz, unterteilt nach Departamento und Ort. „Die vielleicht relevantesten Informationen, die wir aus DIE WEITE LANDSCHAFT VON SANTIAGO DEL ESTERO 18 TRYPANOSOMA CRUZI, DER PARASIT, DER DIE CHAGASKRANKHEIT VERURSACHT dieser Datenbank bekommen“, erläutert Isabel, „sind die entomologischen Lageberichte jedes Hauses, also die Status des Insektenbefalls.“ Sebastián Werner, zuständig für die Referenzierung der Daten, visualisiert den stets aktuellen Status aller Häuser in der gesamten Provinz auf einer computergenerierten Karte: „Ich klassifiziere die Gebäude mit Farben: Grün bedeutet, es wurden keine Vinchucas nachgewiesen. Gelb heißt, es gibt Vinchucas im Umfeld des Hauses. In orangenen Häusern haben wir Vinchucas innerhalb des Gebäudes entdeckt. Und rote Symbole bedeuten, es treten Vinchucas sowohl im Umfeld als auch im Haus selbst auf.“ Die mobilen Teams liefern alle in den durchsuchten Häusern und in ihrer Umgebung entdeckten Vinchucas zur Bestimmung und Untersuchung im entomologischen Labor des Programms ab. Sebastiáns Kollegin Carmen ordnet die Funde mithilfe von Isabels Listen. Diese enthalten alle Häuser mit fortlaufenden Nummern, die Namen und Nachnamen ihrer Besitzer, persönliche Daten wie Alter und Familienverhältnisse, ob es Minderjährige gibt und wenn ja, wie viele. „Außerdem müssen die Teams für jede Probe spezifizieren, ob sie innerhalb oder außerhalb eines Hauses gefunden wurde“, erklärt Carmen. „Uns interessieren besonders die innerhäuslichen Funde, weil diese bei einem Chagas-Fall entomologisch analysiert werden.“ In Santiago del Estero trifft man in den Häusern hauptsächlich Triatoma Infestans an. Doch finden die Teams auch Vertreter anderer Spezies wie zum Beispiel Triatoma Guasayana. Die Arten unterscheiden sich durch Größe und Farbe sowie morphologische Eigenschaften. Nach der Bestimmung des gefundenen Typs werden die Wanzen auf Befall mit Trypanosoma cruzi untersucht, dem Erreger der Chagas-Krankheit. Zu diesem Zweck wird jedes Tier mit der Pinzette fixiert und durch Druck auf seinen Hinterleib Kot aus ihm gepresst. Unter dem Mikroskop lassen sich die Erreger in den Proben anhand ihrer Form und schnellen Bewegungen leicht entdecken. Sind die Vinchucas mit dem Parasiten infiziert, kann Jorge anhand der aufgenommenen GeoReferenzen sofort feststellen, in welchem Haus sie gefunden wurden und ein mobiles Team alarmieren, denn: „Bei jedem akuten Chagas-Fall durch den Biss einer Vinchuca wissen wir, dass es vier oder fünf versteckte Fälle ohne Krankheitserscheinungen gibt. Deshalb müssen wir diese Häuser besonders engmaschig kontrollieren, um weitere Übertragungen zu verhindern.“ KORREKTE DATEN SIND DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG SORTIERUNG, KLASSIFIZIERUNG UND ANALYSE DER VINCHUCAS Der alte Bauer Alejandro zum Beispiel ist völlig überwältigt vom Aufwand, der um seiner Gesundheit willen betrieben wird. Zunächst klären die Mitglieder des Vektor- 19 ALTE HÄUSER WIE DAS VON ALEJANDRO SIND BESONDERS GEFÄHRDET DIE INSEKTIZID-MISCHUNG ÜBERPRÜFUNG DER WOHNRÄUME AUF VINCHUCAS kontrollteams den hageren, auf einen Stock gestützten Mann in viel zu weiter, zerschlissener Kleidung über ihr Vorgehen auf. Dann durchkämmen sie, bewehrt mit Schutzanzügen, Helm, Atemmaske und Handschuhen, die finsteren Räume seines armseligen Hauses nach Vinchucas. Im Licht ihrer Taschenlampen inspizieren sie verkohlte Holzreste und Schutt, wischen das undurchdringliche Gewirr dicker, verstaubter Spinnweben beiseite, durchwühlen kaputte Schränke und Kommoden. Anschließend räumen sie Betten, Tische, Stühle und Kleidung aus dem Haus. Ein ums andere Mal wundert sich Alejandro mit fassungslosem Ausdruck im wettergegerbten Gesicht: „Alles nur meinetwegen!“ und bedankt sich überschwänglich. Auf dem Hof setzt ein Techniker inzwischen die Insektizid-Mischung an und versprüht sie anschließend in allen Räumen, insbesondere an den rissigen, schimmeligen Wänden, auf den losen Bodenziegeln und unter dem löchrigen Strohdach. „In Argentinien benutzen wir chemische Substanzen auf Grundlage von Pyrethroiden“, erklärt Jorge. Pyrethroide sind synthetische Insektizide. Sie ähneln den Hauptwirkstoffen des pflanzlichen Insektenvernichtungsmittels Pyrethrum, das aus Chrysanthemen gewonnen wird. „Diese schaden weder der Gesundheit von Menschen, noch DIESE STOFFE SIND UNSCHÄDLICH FÜR DIE GESUNDHEIT 20 der von Tieren“, fährt Jorge fort. „Innerhalb des Hauses haben sie eine Wirkungsdauer von ungefähr sechs Monaten.“ Auch von außen wird das ganze Haus behandelt. Ställe und Schuppen werden geleert, das gesamte Umfeld aller Gebäude besprüht. Allerdings verringert sich die Wirkungsdauer des Insektizids im Freien durch klimatische Einflüsse wie Wind und Regen auf ungefähr sieben Tage. Haus wie auch in einem Umkreis von 500 Metern wieder Insektizide. „Warum?“, fragt Jorge rhetorisch, um gleich darauf selbst die Antwort zu geben: „Weil sich die Vinchuca in einer Nacht bis zu 600 Meter fortbewegen kann. Wir schaffen also im Radius von 500 Metern einen Gesundheitskreis um das Haus, um es wirklich zu schützen. Treffen wir in diesem Kreis ein anderes Haus mit einem Abstand von weniger als 500 Metern an“, fährt er fort, „schlagen wir um dieses einen weiteren 500Meter-Kreis.“ Nach sechs Monaten erfolgt ein zweiter Durchgang mit derselben Gründlichkeit. Dieser ist nötig, da bei der ersten Behandlung zwar alle ausgewachsenen Insekten und Nymphen, also Jungtiere, getötet werden, nicht aber die Eier der Vinchucas. Diese entwickeln sich innerhalb von sechs Monaten zu Insekten, legen während dieser Zeitspanne jedoch noch keine Eier. So sind nach dem zweiten Einsatz der Teams die Vinchucas im Haus unter Kontrolle gebracht. Liegt das Vorkommen von Vinchucas innerhalb eines Hauses unter einem, und außerhalb unter fünf Prozent, hat die Behandlung optimale Ergebnisse geliefert. Der Ort kann als vektorfrei bezeichnet werden. Er wird jedoch weiterhin, wie alle Häuser der gesamten Provinz, zwei Mal pro Jahr entomologisch bewertet. Finden sich erneut Vinchucas in einem Gebäude, sprüht das Team sowohl im Aber nicht nur die mobilen Vektorbekämpfer des Chagas-Programms suchen nach Vinchucas. Auch die Bevölkerung ist zur Mitarbeit aufgerufen. Jedes Vorkommen von Wanzen soll nach Möglichkeit sofort gemeldet werden. Lange Staubfahnen im Schlepp, rattern mobile Aufklärungsteams in ihren Pickups durch die karge Steppe. In regelmäßigem Turnus besuchen sie die rund 1800 kleinen Landschulen, deren Schülerinnen und Schüler sie über Ansteckung, Risiken und Folgen der Chagas-Krankheit unterrichten. Aufmerksam betrachten die Kinder handgemalte Bilder, die anschaulich vom unbedarft schlafenden Opfer über die stechende Wanze, die Erreger in ihrem Kot und die geröteten, geschwollenen Hautpartien um den Stich den kompletten Weg MOBILES EINSATZTEAM BEI DER UNTERSUCHUNG UND BEHANDLUNG EINES HAUSES SECHS MONATE SPÄTER WIRD DER VORGANG MIT DER GLEICHEN GRÜNDLICHKEIT WIEDERHOLT 21 MITGLIED DER MOBILEN TEAMS BEIM UNTERRICHT IN EINER SCHULE der Infektion darstellen. Dann wiederholen sie brav im Chor ihre neuen Kenntnisse. Anschließend sollen sie diese in ihre Familien tragen. Untersuchungen des Chagas-Zentrums in Santiago belegen, dass diese Hoffnung tatsächlich begründet ist: „Bei den Pilotprojekten, die wir hier im Jahr 1980 durchgeführt haben, stellten wir fest, dass die Schulkinder der ausschlaggebende Faktor für Veränderung sind“, erinnert sich Dr. Ledesma Patiño. „Die Kinder erzählen den Erwachsenen, was die Krankheit bedeutet. Das motiviert diese, zu uns zu kommen und sich untersuchen zu lassen.“ DIE KINDER SIND DER AUSSCHLAGGEBENDE FAKTOR FÜR VERÄNDERUNG Eine beruhigende Gewissheit, denn die normalen Lebensbedingungen der Landbevölkerung bergen etliche Risiken. Das subtropische Klima und die extrem hohen Temperaturen in Santiago del Estero begünstigen das Vorkommen von Vinchucas. Die alten strohgedeckten, aus groben Lehmziegeln gebauten Bauernhäuser wie das von Alejandro bieten den Wanzen mit unverschlossenen Türen und Fenstern sowie zahlreichen Ritzen im Mauerwerk freien Zugang und beste Verstecke. Hinzu kommt die Angewohnheit, auch Tiere wie Hunde, Ziegen und Hühner in und bei den Häusern leben zu lassen. Deren Kot und Urin dient den Vinchucas als Nahrung, lockt sie also um so stärker an. „Die Aufklärungsteams erklären den Leuten, dass es keine Tiere im Haus geben darf“, zählt Jorge auf, „dass ihr Haus aufgeräumt sein muss, dass keine Bilder oder Kalender an die Wände gehängt werden dürfen, dass alle 22 ES GIBT KEINE VINCHUCASICHEREN HÄUSER, ES GIBT NUR VINCHUCA-SICHERE FAMILIEN JORGE NASIR MIT POSTERN DES CHAGAS-PROGRAMMS Risse abgedichtet werden und wenigstens einmal im Monat alle Gegenstände herausgeholt werden müssen, damit das Haus anständig gereinigt werden kann.“ Zweimal jährlich werden zudem alle Bewohner der Provinz aufgerufen, ihre Häuser nach Vinchucas zu durchsuchen und jeden Fund sofort zu melden. „Wir arbeiten koordiniert mit Gesundheitszentren, Krankenhäusern, Schulen, Polizei und Kirchen“, beschreibt Jorge die Aktion. „Alle haben unsere Telefonnummer, damit sie entweder uns Bescheid sagen, oder den Stützpunkten, die in der ganzen Provinz Santiago del Estero verteilt sind. So gehen wir sicher, dass alle Departamentos frei sind von Übertragung des Parasiten durch den Vektor.“ Dieses minutiös durchorganisierte, fast pedantisch anmutende Vorgehen ist nötig, weil ein einziges von Vinchucas befallenes Haus in kurzer Zeit ein ganzes Gebiet erneut infizieren kann. Denn im Normalfall beherbergt ein Gebäude mehrere Hundert Vinchucas, deren weibliche Vertreter bis zu 200 Eier legen und so in Windeseile eine sich stetig weiter verbreitende Vektor-Population schaffen. Aus diesem Grund enthält Sebastián Werners Datenbank auch die größten potentiellen Risikoherde: „Ich habe klassifiziert, welche Häuser Bauernhöfe sind, welche davon prekär und aus welchem Material sie bestehen. Denn im Wesentlichen treten die Vinchucas in alten, einfachen Lehmhäusern auf.“ Weil sich die Bewohner dieser Häuser allen Informationen zum Trotz oft nicht an die Empfehlungen der Aufklärungsteams halten, sei es aus Gedankenlosigkeit oder weil sie schlicht zu arm sind, ihre Lebensumstände zu verbessern, entwickelte die argentinische Regierung eine sehr konsequente Lösung. „Wir geben all unsere Daten ans Ministerium für soziale Entwicklung der Provinz Santiago del Estero weiter“ schildert Jorge den Mechanismus. „Dort gibt es seit einigen Jahren ein Programm zum Bau von Häusern, mit dessen Hilfe die alten Bauernhöfe beseitigt werden. Die Regierung stellt der Bevölkerung kostenlos einfache neue Häuser zur Verfügung, damit sie würdigen Wohnraum hat und sicher vor Vinchucas ist.“ Diese Vorgehensweise ist für den Staat zwar kostspielig, doch verweist Dr. Adelina Riarte voller Stolz auf ihren großen Erfolg: „In einigen Provinzen unseres Landes hat das Ersetzen der Bauernhäuser durch Häuser aus Material, in dem die Vinchucas nicht so leicht nisten können, die Übertragung praktisch komplett unterbunden. Das heißt, einer der entscheidenden Aspekte im Kampf gegen die ChagasKrankheit sind sozio-ökonomische Verbesserungen.“ Allerdings, schränkt Jorge ein, habe das Chagas-Programm ein Motto: „Es gibt keine vinchuca-sicheren Häuser, es gibt nur vinchuca-sichere Familien! Ich kann ih- 23 nen ein Haus mit ausgezeichneten Bedingungen geben, doch wenn seine Bewohner darin nicht saubermachen und keine Ordnung halten, kommen die Vinchucas immer wieder zurück.“ Ist ein mobiles Vektorbekämpfungsteam aber einmal fertig mit seiner Arbeit, beziehungsweise sind alle alten Bauernhöfe durch neue Häuser ersetzt, wird der Ort als frei von Vinchucas deklariert. Anschließend besucht ein mobiles medizinisches Team die Schule und nimmt, mit dem Einverständnis ihrer Eltern, allen Kindern Blut ab. Jüngere, noch nicht eingeschulte Kinder werden zu diesem Zweck sogar zu Hause aufgesucht. DIE INFORMATIONEN SIND FÜR DIE FAMILIEN OFT VÖLLIG NEU Unermüdlich kreuzen die Teams über sandige Pisten durch die hitzeflirrende Steppe. Viele der kleinen, weit verstreuten Höfe sind hier bereits neue, vollständig verputzte, ordentlich aufgeräumte Häuser mit bewusst abseits gehaltenen Tieren. Fast andächtig lauschen die besuchten Familien den für sie oft völlig neuen Informationen. Dann folgt, argwöhnisch von allen Anwesenden verfolgt, die Blutabnahme bei Kindern und im Zweifel auch bei Erwachsenen. Auf diese Weise konnten in Santiago del Estero bis heute mehr als 80.000 Schulkinder und rund 19.000 Kinder in der Altersgruppe bis 5 Jahre untersucht und anschließend alle positiv getesteten Probanden umgehend gegen die Chagas-Krankheit behandelt werden. BLUTPROBEN FÜR CHAGAS-TESTS EINE FAMILIE WIRD VON EINEM MOBILEN TEAM UNTERRICHTET UND UNTERSUCHT 24 VERBREITUNG DER CHAGAS-KRANKHEIT WELTWEIT EIN MEDIZINISCHER SCHATZ: PATIENTENAKTEN IM ARCHIV VON DR. LEDESMA-PATINO „1980 waren sechs Prozent der bis zu fünfjährigen Kinder in der ganzen Provinz infiziert“, erinnert sich Dr. Ledesma Patiño. Obwohl er bereits seit 45 Jahren gegen die Krankheit kämpft, bricht er im Gespräch wegen der Lebensbedingungen und Schicksale der Kranken wiederholt in Tränen aus. „Heute hingegen“, freut er sich, „haben sich sechs Departamentos als übertragungsfrei erklärt. Das heißt, es gibt in dieser Altersgruppe gar keine kleinen Kinder mehr, die Chagas-positiv sind. Bei Schulkindern im Alter bis zu 14 Jahren liegt die Rate der Neuerkrankungen nur noch zwischen 1 und 1,2 Prozent und die Anzahl der Neuansteckungen ist auf unter 1 Prozent gesunken.“ Trotz dieses hervorragenden Ergebnisses mahnt Jorge Nasir: „Wir werden den Vektor niemals ausrotten!“ Allerdings erlaubt er sich gleich darauf die Hoffnung stiftende Prognose: „Aber wir können ihn auf einem Niveau unter Kontrolle halten, auf dem er für die Bevölkerung der ländlichen Gebiete nicht gesundheitsschädlich ist.“ WIR WERDEN DEN VEKTOR NIEMALS AUSROTTEN Sollte dieses vorbildliche Vorgehen gegen die Vinchucas in allen Provinzen Argentiniens oder sogar in allen Ländern Lateinamerikas etabliert werden können, wäre eine entscheidende Schlacht gegen die Chagas-Krankheit geschlagen – der Krieg jedoch noch nicht gewonnen. Im Gegenteil: Durch die hohe Zahl von Migranten weitet sich die Krankheit mittlerweile zu einem globalen Problem aus. 2014 lebten Schätzungen der WHO zufolge in Nordamerika bereits rund 300.000 und in Europa 120.000 infizierte Einwanderer aus Lateinamerika. Ein großer Teil von ihnen Frauen im gebärfähigen Alter, die Chagas jederzeit auf ihre Kinder übertragen und damit zur weiteren Verbreitung der Krankheit beitragen können. Was also ist nötig, um den Kampf zu gewinnen? Ein weiteres Mal liefert das Kinderkrankenhaus Ricardo Gutierrez in Buenos Aires ein schönes Sinnbild dafür. Seine Gebäude füllen einen ganzen Block des berühmten Stadt 25 viertels Recoleta, umgeben von einer langen, hohen Mauer. Diese wurde von teilweise berühmten Künstlern ringsherum sehr fantasievoll und lebensfroh bemalt. Jetzt kämpfen hier Superman und Schneewittchen, Batman und Mary Poppins, Spiderman und Mogli, Yakari, der gestiefelte Kater und viele andere Helden der Comic- und Märchenwelt vereint darum, den Kindern die Angst vor ihrem Krankenhausaufenthalt zu nehmen. Genau so ein interdisziplinärer und auch internationaler Zusammenschluss von Experten, Institutionen, Unternehmen und Regierungen ist nötig, um der Chagas-Krankheit erfolgreich die Stirn zu bieten. Dr. Claudia Dominguez sitzt in einem der kleinen, schmucklosen Behandlungszimmer des Lagomaggiore-Krankenhauses in Mendoza. Die Ärmel ihres weißen Kittels hochgekrempelt, wie um die Arbeit hier und jetzt gleich anzugehen, zählt sie ohne zu zögern auf: „Die wichtigsten Pfeiler, um die Krankheit zu vernichten, sind die Untersuchung der schwangeren Frau sowie die Überwachung ihres Kindes. Und zwar zu 100 Prozent ohne Ansehen der verschiedenen sozialen Schichten oder Einkommensgruppen. Darüber hinaus sollte bei allen Blutuntersuchungen und Blutspenden ein Chagas-Test durchgeführt werden, damit die Krankheit angemessen diagnosti- ES BRAUCHT EINEN INTERDISZIPLINÄREN, INTERNATIONALEN ZUSAMMENSCHLUSS VON EXPERTEN, INSTITUTIONEN, UNTERNEHMEN UND REGIERUNGEN ULTRASCHALL-UNTERSUCHUNG BEI EINEM CHAGAS-PATIENTEN 26 NEUES BAUERNHAUS IN SANTIAGO DEL ESTERO DIE POLITIKER MÜSSEN BEGREIFEN, DASS ALL DIES WICHTIG IST, DAMIT ES DEN MENSCHEN BESSER GEHT ziert und behandelt sowie eine ordentliche Überwachung der Patienten erreicht werden kann. Denn letzten Endes ist es der Mensch, der der Parasiten beherbergt. Die Vinchuca, die natürlich in den Endemiegebieten weiter bekämpft werden muss, überträgt ihn nur. Und schließlich sollten alle eine angemessene Wohnung haben, wie sie jeder Mensch auf der Welt verdient. Das trüge dazu bei, die Verbindung des Parasiten zum Menschen zu lösen.“ Im Geklingel eingehender Mails und hartnäckiger Anrufer seiner Kolleginnen und Kollegen, mit denen Dr. Jaime Altcheh im Kinderkrankenhaus Nino Ricardo Gutierrez in Buenos Aires auf engstem Raum zusammenarbeitet, hat auch er sofort eine lange Liste notwendiger Maßnahmen parat: „Ich glaube, eine der größten Herausforderungen ist nach wie vor, die Ärzte über die Chagas-Krankheit aufzuklären. Sie wissen nicht, dass Chagas behandelbar ist und, insbesondere bei Kindern, auch heilbar. Man muss auch intensiv an der medizinischen Aufklärung der Gesellschaft arbeiten. Die Patienten müssen verlangen, behandelt zu werden, damit dies eine wahre Auswirkung auf globaler Ebene hat. Außerdem sollten die Menschen unter besseren Bedingungen leben, damit sie ihr Haus nicht mit dem Vektor teilen müssen. Wir brauchen eine adäquate Formulierung der Medikamente für Kinder, wir müssen unsere Kenntnisse über die Heilung verbessern und …“, an dieser Stelle hört man fast seinen inneren Stoßseufzer, „… die Politiker müssen begreifen, dass all dies wichtig ist, damit es den Menschen besser geht.“ 27 CHAGAS DER KRANKHEIT EIN GESICHT GEBEN EINE REISE NACH ARGENTINIEN EINE REPORTAGE VON MATIAS BOEM • BOEMEDIA boemedia GmbH www.boemedia.de [email protected] +49-40-767211-01 PF 203134 D-20221 Hamburg
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