Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit

ZRS 2017; aop
Open Access
Markus Schiegg. 2015. Frühmittelalterliche Glossen. Ein Beitrag zur
Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit (Germanistische
Bibliothek 52). Heidelberg: Universitätsverlag Winter. x, 381 S.
Besprochen von Eckhard Meineke: Friedrich-Schiller-Universität, Institut für Germanistische
Sprachwissenschaft, Fürstengraben 30, D-07737 Jena, E-Mail: [email protected]
DOI 10.1515/zrs-2017-0006
Schiegg möchte einen „funktional-kontexuellen Beitrag zur germanistischen
Glossenforschung“ (S. 1) liefern. Die Arbeit soll
„tiefgreifendere Einblicke in Formen, Funktionen und Kontexte mittelalterlicher Schriftlichkeit
erlauben, als dies mit den bisherigen, meist auf Editionsarbeit oder auf rein sprachstrukturelle
Erkenntnisinteressen beschränkten Untersuchungen möglich war. Insbesondere die Ergebnisse
funktional orientierter Einzelstudien soll sie bündeln und damit dem oftmals geforderten
Gesamtbild frühmittelalterlichen Glossierens näher kommen.“ (S. 1)
Grundlegend für einen solchen Beitrag sei die Aufarbeitung der sprachlichen
Kontexte frühmittelalterlichen Glossierens. Entwickelt werden müssten eine Vorstellung vom ostfränkischen Kommunikationsraum und ein Bewertungsmaßstab
für die Glossen. Im Zentrum steht die Funktionalität des Glossierens. Wie habe die
bisherige Forschung diese erfasst, welche sprachlichen Funktionen würden erfüllt und inwiefern gebe es dabei Unterschiede zwischen Latein und Volkssprache? Im Praxisteil soll das anhand einer Handschrift besprochen werden (S. 1f.).
Kapitel 2 behandelt das Ostfrankenreich als Kommunikationsraum, teleologische Interpretationen der althochdeutschen Überlieferung und die so genannte
funktionale Perspektive auf Glossen. Thema von Kapitel 3 ist die „textlinguistische Grundlegung“. Gegenstände sind die sogenannte Textualität von Glossen,
historische Textlinguistik und Glossen sowie die Erarbeitung eines „funktionalpragmatischen Modells“. Kapitel 4 stellt die „Dimension A der Textualität – Kotextualität“ vor. Ihre Voraussetzungen seien das semiotische Potenzial der Textgestalt und die Funktion formaler Strukturierungen von Glossierungsschichten.
Kapitel 5 gilt der „Dimension B der Textualität – Paratextualität“, d. h. der Beziehung von Lemma und Interpretament, der funktionalen Kategorisierung von
Glossen und deren pragmatischer Kategorisierung. Die „Dimension C der Textualität – Kontextualität“ wird in Kapitel 6 untersucht. „Kontexte“ seien der klösterliche Unterricht, die Bibliothek, privates Studium, Vortragssituationen und das
Skriptorium. Im Praxisteil (Kapitel 7) wird die Anwendbarkeit der theoretischen
 
© 2017 Eckhard Meineke, published by De Gruyter
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Eckhard Meineke
Vorstellungen am Codex Augsburg, Archiv des Bistums, Hs. 6 erprobt. Schiegg
stellt Handschrift und Glossierung vor und ediert die neumengeheimschriftlich
notierten Glossen. Dann werden Kotextualität, Paratextualität und Kontextualität
besprochen.
Die angenommenen Ergebnisse für die Teilkapitel sind folgende. Die Diglossie-Situation im Ostfrankenreich habe die volkssprachige Glossierung gefördert
(Kapitel 2). Althochdeutsch sei stets Sprache der Nähe, Latein Sprache der Distanz. Viele Beschreibungen des Althochdeutschen beruhten auf teleologischen
Vorannahmen, verzerrten die damalige Sprachrealität, missachteten die individuelle Funktionalität der Überlieferungszeugnisse und werteten die Glossen ab
(S. 321). Mit Kapitel 3 sei die textlinguistische Grundlage für die Ermittlung der
Formen, Funktionen und Kontexte des Glossierens geschaffen worden. Glossen
besäßen Textualität, weil sie eine sprachliche Handlung mit kommunikativer
Funktion bildeten. Die drei postulierten Dimensionen aus Kapitel 4–6 könnten
die Formen, Funktionen und Kontexte frühmittelalterlichen Glossierens systematisch erfassen: die formale Seite unter Kotextualität (Dimension A), die funktionale Seite vor allem hinsichtlich sprachlicher Funktionen unter Paratextualität
(B) und die situativ-kontextuelle unter Kontextualität (C) (S. 323–326). In Kapitel 7
schließlich sei die Textualität der Handschrift Augsburg 6 analysiert worden.
Sekundäre Eintragungen erkenne man abgesehen von der kleinen Schrift und der
Positionierung am Rand oder zwischen den Zeilen an den Geheimschriften, an
metasprachlichen Kommentaren und Abbreviaturen, teils mit tironisch-insularen
Zeichen, teils mit einer Form von Zitatkürzung sowie auch einer ungewöhnlichen
und hier wohl zum ersten Mal beschriebenen Graphie (S. 329).
Normalschriftliche Doppelglossen zu den neumengeheimschriftlichen Glossen und diese selbst stammten wohl von der selben Hand. Da gerade die neumengeheimschriftlichen Glossen auch Parallelglossen aufwiesen, sei die Neumengeheimschrift möglicherweise Kennzeichnung kopierter Glossen. Durch
unterschiedliche Glossierungen des gleichen Lemmas sollten wohl unterschiedliche Bereiche der Texterklärung abgedeckt werden. Eigenständige althochdeutsche
Fortführungen lateinischer Scholien seien eine seltene Form lateinisch-althochdeutscher Mischsprache (S. 329f.).
Die Untersuchung der Dimension B der Textualität, der „Paratextualität“,
ergibt Beobachtungen zur graphischen Beziehung zwischen Lemma und Interpretament (Verweiszeichen, Schriftfarbe), zur grammatischen Beziehung (großenteils grammatische Kongruenz) sowie zur semantischen Kongruenz (oft semantische Kontextübersetzungen, Paraphrasen, Entlehnungen, Lehnbildungen,
Konzepte aus eigenem kulturellen Kontext) (S. 330f.).
Die Analyse der funktionalen Breite der Glossen zeige das vielfältige lexikalische Interesse der Glossatoren wie auch die Bandbreite grammatischer Glossen.
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Frühmittelalterliche Glossen
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Morphologische Glossen träten nur als Lehnübersetzung auf. Phonetische Glossen erschienen verbal als auch nonverbal, meist mit der Feder, gelegentlich mit
dem Griffel eingetragen zur Andeutung von Sprechpausen (S. 331).
Die so genannte pragmatische Kategorisierung sekundärer Eintragungen
ergibt, dass die meisten Glossen wohl Assertiva seien. Teils lieferten sie Informationen zum sprachlichen Textverständnis, teils zu exegetischen Sachverhalten.
Direktiva zeigten auf beachtenswerte Stellen und wiesen auf die (geplante) Fortführung einer Scholie hin. Expressiva erschienen indirekt in der variierenden
Glossierungsdichte, direkt durch interpretierend-wertende Glossen. Kommissiva
und Deklarativa kämen nicht vor (S. 331).
Bei der Analyse der Dimension C der Textualität der Handschrift 6 werden
zunächst die Parallelglossen in den Blick genommen und Rosengrens Untersuchung zur Verwandtschaft der volkssprachigen Evangelienglossen (1964) diskutiert. Problematisch sei die Annahme eines Archetypus und Stemmas; beides
werde der Realität der vorliegenden Glossierung und Kommentierung nicht gerecht. Die Parallelhandschriften seien weit umfangreicher als von Rosengren
beschrieben, der lateinische Scholien unzureichend berücksichtige. Bei den
volkssprachigen Parallelglossen differierten Sprache, Verschlüsselungsgrad sowie Umfang der Eintragungen; das spreche gegen mechanisches Kopieren
(S. 331).
Bei der Zusammenführung der Befunde zeige sich, dass die Handschrift als
Lektionar fungiert habe. Gleichzeitig sei aber eine marginale Kommentierung
vorgesehen gewesen. Eine tatsächliche Verwendung in der Liturgie bleibe fraglich. Die für Vortragssituationen nützlichen Eintragungen seien großenteils bereits mit der Anlage der Handschrift erstellt worden; die wenigen sekundären
Eintragungen in dieser Funktion verwiesen nicht eindeutig auf liturgischen Gebrauch. Die in den meisten Fällen durchdacht wirkenden Resultate der Akkumulationstätigkeit seien allerdings unübersehbar. Schulische Gebrauchskontexte
seien nicht auszuschließen, was durch zahlreiche Eintragungen zum sprachlichen und sachlichen Verständnis der Evangelien gestützt werde (S. 332).
Die Arbeit von Markus Schiegg kann Diskussionen zur Theorie und Praxis der
Glossenforschung anregen, allerdings nicht für die Ausführungen zur Diglossiesituation im Ostfrankenreich, die entweder trivial sind oder aufgrund der trümmerhaften Quellenlage obsolet.
Die Kategorisierung von Glossen als Texte ist falsch. Dieser Textbegriff hat
mit dem, was von fast allen, die sprechen und schreiben, unter „Text“ verstanden
wird, nichts zu tun. Zunächst geht Schiegg von einem „pragmatischen Textbegriff“ aus, den er aus zwei Stellen angeblich bei Brinker & Ausborn-Brinker
(2010) konstruiert. Danach sei der Text eine „sprachliche Handlung“ (Brinker &
Ausborn-Brinker 2010: 15) mit einer „kommunikativen Funktion“ (angeblich
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Eckhard Meineke
ebenda: 10 nach Schiegg 2015: 47 [Fehlnachweis]). Und wenn das so sei, „erhalten Glossen durchaus Textualität, erfüllen also die Bedingungen, damit ein
sprachliches Gebilde als Text gelten kann“ (S. 46). Von „Textualität“ sprechen de
Beaugrande & Dressler (1981). Eine zweite Grundlage von Schieggs Argumentation ist Bergmanns (1997) Beitrag über die Anwendbarkeit der Textualitätskriterien
aus de Beaugrandes und Dresslers Texttheorie auf Glossen. Schiegg definiert jede
kommunikativ gemeinte Äußerung als Text, und damit sind auch die Glossen
Texte oder besitzen zumindest „Textualität“, im Rahmen der von Schiegg rezipierten Literatur also die von de Beaugrande & Dressler aufgeführten Kriterien
Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität, die dort den Texten zugesprochen werden.
Dieser Textbegriff setzt jede „kommunikativ wirksame Größe“ mit „Text“
gleich und erklärt so alles kommunikativ Wirksame zum Text. Die auf dem
ungültigen Syllogismus ‚Texte sind eine kommunikative Größe. Glossen sind eine
kommunikative Größe. Glossen sind Texte.‘ aufgebaute Argumentation kann aus
Einwortglossen, aus syntagmatischen Glossen und solchen in Satzform keine
Texte machen. Wenn der Fisch schwimmt und der Schwarm schwimmt, ist der
Fisch kein Schwarm.
Der Kurzschluss beruht u. a. auf eklektischer Lektüre des Buches von de Beaugrande & Dressler. Dort heißt es: „Wir definieren einen TEXT als eine KOMMUNIKATIVE OKKURRENZ (engl. „occurence“), die sieben Kriterien der TEXTUALITÄT
erfüllt“ (de Beaugrande & Dressler 1981: 3). Aber im Vorwort wird Textlinguistik als
„Linguistik übersatzmäßiger sprachlicher Beziehungen“ angesprochen (ebenda: ix). Es geht bei de Beaugrande & Dressler nie um Einheiten mit weniger als zwei
Sätzen. Ähnlich verhält es sich mit der Bezugnahme auf Brinker.
 
„Als wichtigste Struktureinheit des Textes ist der Satz anzusehen. Damit soll nicht gesagt
sein, dass nicht auch kleinere sprachliche Gebilde (z. B. Ein-Wort-Äußerungen wie Feuer!
oder Ein-Satz-Äußerungen wie Das Betreten der Baustelle ist verboten! unter ganz bestimmten situativen Bedingungen als Texte im kommunikativen Sinne fungieren können. Solche
Gebilde werden aber im Folgenden vernachlässigt; die Textlinguistik ist in erster Linie an
Texten interessiert, die sowohl in grammatischer als auch in thematischer Hinsicht einen
höheren Komplexitätsgrad aufweisen. Den Gegenstandsbereich der linguistischen Textanalyse bilden somit im Wesentlichen Texte, die sich als Folgen von Sätzen manifestieren.“
(Brinker & Ausborn-Brinker 2010: 17)
 
Schiegg öffnet mit seiner Ablehnung teleologischer Perspektiven auf das Althochdeutsche keine Horizonte, da er neuere Literatur zu der alten These (vgl. Meineke
2001, etwa S. 143, zur althochdeutschen Benediktinerregel; Meineke 2013) nicht
kennt.
Deviant ist die Verkennung des Unterschieds zwischen Wörterbuch und
Edition. Sie gegeneinander auszuspielen und dem „Althochdeutschen und Alt-
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Frühmittelalterliche Glossen
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sächsischen Glossenwortschatz“ von Schützeichel (2004) vorzuwerfen, die beiden [!] von Schiegg edierten Glossen „in einer völlig ungenügenden Weise“
(S. 211) mitzuteilen, überzeugt nicht.
Was die drei „Dimensionen“ betrifft, fragt sich, worin sprachwissenschaftliche Interessen bei der Analyse volkssprachiger Glossierung bestehen, wo der
hilfswissenschaftliche Bereich mit trivialen Aspekten der äußerlichen Überlieferung beginnt und wo derjenige der Spekulation.
Die mühevollen Arbeiten zur lexikalisch-semantischen und sprachgeographischen Erschließung der volkssprachigen Glossen sind jedenfalls von sprachwissenschaftlichem Interesse und bekommen durch die Postulierung weiterer Gesichtspunkte weder eine vorläufige Natur, noch werden sie durch sie entwertet.
Eine insoweit sprachwissenschaftliche Aufarbeitung der 248 (Bergmann & Stricker 2005, Bd. 1: 150) plus zwei (S. 212–214 im besprochenen Band) Glossen von
Augsburg 6 steht aus.
Literatur
De Beaugrande, Robert-Alain & Wolfgang U. Dressler. 1981. Einführung in die Textlinguistik
(Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 28). Tübingen: Max Niemeyer.
Bergmann, Rolf. 1997. Zur Textualität althochdeutscher Glossen. In: Franz Simmler (Hg.). Textsorten und Textsortentraditionen (Berliner Studien zur Germanistik 5). Bern: Peter Lang,
S. 215–238.
Bergmann, Rolf & Stefanie Stricker. 2005. Katalog der althochdeutschen und altsächsischen
Glossenhandschriften, unter Mitarbeit von Yvonne Goldammer und Claudia WichReif. Band 1–6. Berlin, New York: De Gruyter.
Brinker, Klaus & Sandra Ausborn-Brinker. 2010. Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in
Grundbegriffe und Methoden (Grundlagen der Germanistik 29). Berlin: Erich Schmidt.
Meineke, Eckhard. 2001. Einführung in das Althochdeutsche, unter Mitarbeit von Judith
Schwerdt. 23 Karten, 15 Abbildungen (Uni-Taschenbücher 2167). Paderborn, München,
Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh.
Meineke, Eckhard. 2013. Textgebundene Formen der lateinisch-deutschen Zweisprachigkeit im
frühen Mittelalter. In: Michael Baldzuhn & Christine Putzo (Hg.). Mehrsprachigkeit im Mittelalter. Kulturelle, literarische, sprachliche und didaktische Konstellationen in europäischer
Perspektive. Mit Fallstudien zu den ‚Disticha Catonis’. Berlin, New York: De Gruyter,
S. 109–145.
Rosengren, Inger. 1964. Sprache und Verwandtschaft einiger althochdeutschen und altsächsischen Evangelienglossen (Scripta Minora Regiae Societatis Humaniorum Litterarum Lundensis 1962–1963, 4). Lund: Gleerup.
Schützeichel, Rudolf (Hg.). 2004. Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz.
Band 1–12. Tübingen: Max Niemeyer.
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