Vegetationsökologie von Straßen und Plätzen im besiedelten Raum

Institut für
Pflanzenbiologie
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Vegetationsökologie von Straßen und Plätzen im besiedelten Raum
Dietmar Brandes
Vegetationsmanagement auf Wegen und Plätzen: neue Konzept sind gefragt
JKI-Fachtagung, Braunschweig, 12.-13. Oktober 2016
Vegetationsökologie von Straßen im besiedelten Raum
Gliederung
• Wichtige Mikrohabitate
• Standortsbedingungen
• Wie lange existiert die Trittvegetation?
• Gibt es Anpassungssyndrome?
• Global Change und invasive Pflanzen
• Wie gelangen die Arten eigentlich auf die Straßen?
• Kern der Trittvegetation: Wichtigste Habitate und Typen der Vegetation
• Indikatorfunktion
• Biodiversität: wie viele Arten sind es eigentlich?
• Kann man unkrautfreie Straßen erreichen?
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 2
Wichtige Mikrohabitate der Straßen und Wege (I)
Vollständig versiegelte Bereiche sind heute für Siedlungen
charakteristisch (s. folgende Folie):
• Asphaltflächen
• Betonflächen
Moose (und auch Flechten) können sich an wenig befahrenen bzw.
betretenen Stellen bereits bei geringer Staubauflage ansiedeln.
Höhere Pflanzen dagegen nur in Rissen und Fugen.
Vorteile: Kein Aufwuchs von Unkräutern.
Nachteile: wegen der fast vollständigen Oberflächenversiegelung
wird das Niederschlagswasser oberirdisch abgeführt und der
Grundwasserspeicher nicht aufgefüllt: Probleme für die TrinkwasserNotversorgung, für Straßenbäume, Verkehrsgrün und Gärten.
Sommerliche Überhitzung. Wegen der geringen Rauigkeit der
Oberflächen kaum Deposition von Feinstäuben.
• )
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Beispiel einer weitestgehend versiegelten Straße
Wichtige Mikrohabitate der Straßen und Wege (II)
Im Rahmen der Straßensanierungen werden die Gehwege
(Bürgersteige) und Straßenrandflächen in den Siedlungen wieder mit
Platten bzw. Natursteinen gepflastert. In der folgenden Reihe nimmt die
anteilige Größe der Fugenfläche zu, was sich in der Verunkrautung
widerspiegelt:
• Plattenpflaster
• Kleinpflaster
• Rasengittersteine
Vorteile: Versickerung eines Teils der Niederschläge, Förderung der
Phytodiversität in Siedlungen, Verbesserung des Ortsbildes.
Nachteile: stärkere Verunkrautung im Bereich von Kleinpflastern,
höherer Pflegeauswand.
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Sagino-Bryetum argentei, die aus den kleinsten Trittpflanzen aufgebaute
Trittgesellschaft
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Oben links:
Poa annua (Einnähriges Rispengras)
im Platten, sowie im Kleinpflaster
Oben rechts und unten rechts:
Matricaria discoidea (Strahlenlose
Kamille) in Rasengittersteinen
Wichtige Mikrohabitate der Straßen und Wege (III)
Schutzstellen („safe sites“).
• Pfosten und Poller (mechanischer Schutz)
• Mauerfüße (mechanischer Schutz, Abwärme)
• Lichtschächte von Kellerfenstern (mechanischer Schutz, Abwärme)
• Gossen (straßenseitig vor den Kantsteinen)
Unversiegelte Bereiche in öffentlichen Straßen:
• Baumscheiben
• Rabatten
• Rasenflächen der Verkehrsanlagen
Unversiegelte bzw. ungefestigte Wege finden sich – eher selten - in
Anlagen und Parks
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Der relativ hohe Fugenanteil des
Kleinpflasters begünstigt die
spontane Vegetation (hier v. a.
Plantago lanceolata)
Lichtschächte von Kellerfenstern als Mikrohabitate,
Schutzstellen und Ausbreitungszentren
Parthenocissus tricuspidata
Kletterwein
Parietaria judaica
Ausgebreitetes Glaskraut
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Spontane Flora der Lichtschächte von Kellerfenstern
Acer platanoides
Hedera helix
Acer pseudoplatanus
Mahonia aquifolia
(N)
Aegopodium podagraria
Parietaria judaica
(A, n)
(N)
Aesculus hippocastanum juv.
(N)
Parthenoscissus tricuspidata
Ailanthus altissima juv.
(N)
Picris hieracioides
Betula pendula juv.
Prunus mahaleb juv.
(n)
Clematis vitalba
Pseudofumaria lutea
(N)
Dryopteris filix-mas
Quercus robur juv.
Ficus caria juv.
Fraxinus excelsior juv.
(N)
Sambucus nigra juv.
Tropaeolum majus
(N)
70 % sind Gehölze; 45 % der Arten sind gebietsfremd
(N: Neophyten bezogen auf Deutschland, n: Neophyten bezogen auf eine Region, A: Archäophyt)
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Unversiegelte Bereiche von öffentlichen Straßen
Baumstreifen (oben) und bepflanzte
Baumscheiben (rechts)
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Ruderale Glatthafer-Wiesen
An den Randflächen von Stadtbahn-Trassen sowie an den Böschungen
von Stadtautobahnen entwickeln sich ruderale Glatthaferwiesen mit
zahlreichen Ackerunkräutern. Sie werden natürlich kaum betreten.
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Standortsbedingungen für die Straßenrandflora
Vorteile
• Geringe Konkurrenz in den Fugen
• „Safe sites“ (Schutzstellen)
• vor Mauern,
• Kantsteinen (Gosse),
• Zäunen,
• Baumscheiben, Baumstreifen
• Temperaturerhöhung gegenüber der Umgebung, Verlängerung der
Vegetationsperiode
insgesamt eine erstaunlich große Vielzahl von Mikrohabitaten
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Nachteilige Standortsbedingungen
• Schädigung der oberirdischen Pflanzenorgane durch Befahren und
Betreten
• Bodenverdichtung
► geringes Porenvolumen und verminderter O2-Gehalt schädigen die
Wurzelsysteme
• Oberflächenversiegelung
► rascher Abfluss von Niederschlägen
► Verstärkung der O2-Armut
• Unausgewogene Nährstoffverteilung (Hundekot!)
• Einfluss von Auftausalzen (Begünstigung von halotoleranten Arten)
• Intensive mechanische, thermische und/oder chemische
Aufwuchsbekämpfung
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Wie lange gibt es Trittvegetation?
Aus evolutionärer Sicht ist sie sehr jung:
Mögliche Vorläufer:
• Haben die Herden großer Pflanzenfresser (Makrophagen) wie
Waldelefanten, Auerochsen, Wisent, Bison etc. eigentlich
Trampelpfade hinterlassen?
• Balmenfluren (Läger von Neolithikern und Säugetieren unter
überstehenden Kalkfelsen)?
Die Trittvegetation [von harten Oberflächen] im heutigen Sinne entstand
erstmals als Folge der sog. „neolithischen Revolution“, vermutlich
verstärkt in den römischen Städten (Pflasterung!). Großflächig entwickelte
sich die Pflasterritzenvegetation dann wohl wieder erst in der Neuzeit mit
gepflasterter Straßen.
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Anpassungssyndrome der Trittvegetation
• Trittverträglichkeit (niedrig liegende Meristeme)
• Trittvermeidung (Kleinwüchsigkeit)
• Kurzlebigkeit (auch als Reaktion auf Unkrautbekämpfung)
• Epizoochorie
• Nitrophilie (Salzverträglichkeit)
Aber auch Nachteile:
• Lichtbedürftigkeit
• Konkurrenzschwäche (Folge von Wuchshöhe und Lichtbedürftigkeit)
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Poa annua – Einjähriges Rispengras
Alletraploid, aus Poa firma und Poa supina entstanden. Eine ausbreitungsfreudige
Sippe mit großer phänotypischer und genotypischer Variabilität.
Heute weltweit als Kulturfolger, in den Städten Mitteleuropas die wichtigste
Trittpflanze. Manche Formen sollen bereits 2 Monate nach der Keimung blühen.
Oft ganzjährig grün, leidet unter sommerlicher Trockenheit.
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Die früher (um 1985) üblichen Verdächtigen in Pflasterfugen
1: Polygonum aviculare - Vogel-Knöterich
2: Poa annua - Einjähriges Rispengras
3: Matricaria discoidea – Strahlenlose Kamille
4: Plantago major – Breitblättiger Wegerich
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„Kern“ der Trittvegetation
• Der Kern der Trittvegetation umfasst knapp 30 Arten, die quasi
allgegenwärtig sind.
• Sie bilden die eigentliche Trittvegetation in dem Sinn, dass sie
mehr oder minder trittverträglich sind.
• Die Trittvegetation besitzt Indikatorfunktion, sowohl bezüglich
der Nutzung (also des Tritts) wie auch in sozialökonomischer
Hinsicht.
• Werden bestimmte Flächen nicht regelmäßig betreten bzw.
befahren, kommen rasch höherwüchsige Ruderalpflanzen
sowie Gehölzjungwuchs auf.
• Verläuft diese Sukzession ungestört weiter, so werden die
konkurrenzschwachen und lichtbedürftigen Trittpflanzen rasch
verdrängt. Was wir als spontane Vegetation wahrnehmen, ist
also oft ein Mix aus unterschiedlichen Sukzessionsstadien.
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Auswirkung des Trittfaktors
Abgesperrte Pflasterbereiche zeigen deutlich stärkeren
Aufwuchs wegen der ausbleibenden Trittwirkung
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Syntaxonomie der Trittgesellschaften
Die Vorstellungen zur Syntaxonomie haben sich sogar auf Klassenebene (!)
grundlegend geändert, während zunächst therophytische und ausdauernde
Trittgesellschaften in einer Klasse zusammengefasst wurden, verteilen sie sich
nach heutiger Auffassung auf drei Klassen (Näheres vgl. zitierte Literatur):
Plantaginetea
PolygonoPoetea
Stellarietea
Agrostietea
MolinioArrhenateretea
Literatur
Oberdorfer 1983
X
Wilmanns 1998
X
X
X
X
X
Pott 1995
X
X
X
Schubert et al. 1995
X
X
X
Mucina et al. 1995
X
X
X
Rennwald et al. 2000
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Spontane Vegetation als sozialökonomischer Indikator
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Global Change und invasive Pflanzen
Wichtige Einflussgrößen, die den Pflanzen-Input auf Straßen und Wege
erhöhen:
• Wärmere Sommer und längere Vegetationszeiten: plötzlich können
sich Zierpflanzen und auch Straßenbäume aus eigener Kraft
reproduzieren
• Intensivierter Handel durch Gartencenter, Baumärkte und
Internethandel (jetzt stehen „neue“ Arten zeitgleich an vielen Orten zur
Verfügung)
• Neuartige Zucht- und Vermehrungsmethoden von Zierpflanzen
• Guerilla-Gardening
Da die nacheiszeitliche Wiedereinwanderung von Pflanzen durch den
Menschen sehr erschwert wurde, könnte ein Teil der sich subspontan
ausbreitenden Arten aus Südeuropa verzögert auch aus eigener Kraft
einwandern…
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 24
Beispiele für wärmliebende Trittpflanzen, die vor 40-50 Jahren noch auf
Südeuropa bzw. auf Sonderstandorte wie Bahnhöfe beschränkt waren
Eragrostis minor
Portulaca oleracea
Oxalis corniculata
Chamaesyce maculata
Wie gelangen die Arten auf die Straßen?
• Samenbank der Böden:
insbesondere bei Sanierungsmaßnahmen werden gewaltige
Samenmengen einschleppt (rhypochorer Transport). Sehr
unterschiedliche Lebensdauer der Diasporen.
• Transport mit Abdecksubstraten für Baumscheiben und
Rabatten (Rindenmulch, Klärschlämme usw.)
• Transport in den Reifenprofilen der Fahrzeuge.
• Transport mit den Wirbelschleppen der Fahrzeuge.
• Nachbarschaftseffekte: Verwilderungen von Zierpflanzen (auch
von Straßenbäumen!) werden zunehmend wichtiger.
• Ferntransport leichter und flugfähiger Diasporen durch die Luft
• Zoochorer Transport durch Vögel (aber auch Ameisen usw.)
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 26
Beispiel für eine invasive Pflanze auf städtischen Straßen
Senecio inaequidens
Herkunft: Südafrika. Bis ca. 1985 nur inselartige Vorkommen in Calais, Lüttich
und Bremen. Galt als frostempfindlich. Seit ca. 1990 starke Ausbreitung mit den
Wirbelschleppen von Zügen und Autos. Senecio inaequidens hat bereits Polen
und Wien erreicht. Relativ geringe Trittfestigkeit.
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 27
Brassica napus: wo kommt bloß der Raps her?
Extreme Ausbreitung in Straßen seit ca.
30 Jahren. Besondere Beachtung wegen
möglicher transgener Sippen.
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 28
Straßenbäume reproduzieren sich [unerlaubt]
Straßenbäume spielen eine wichtige Rolle in der Stadtbegrünung,
da sie Schatten spenden, innerstädtische Überhitzung reduzieren
und die Luftfeuchtigkeit erhöhen sowie Staub binden. Nach
Medienangaben gibt es z. B. in Berlin 300.000 Straßenbäume und
27.000 in Braunschweig.
.
Sommerwärme bzw. längere Vegetationsperioden begünstigen die
Reproduktion von Straßenbäumen, die im Zuge der Anpassung an
das veränderte Klima gepflanzt werden, so z. B. von:
Fraxinus ornus, Ostrya carpinifolia, Corylus colurna, Platanus x
hispanica, Koelreuteria paniculata, Alnus x spaethii und Robinia
pseudoacacia.
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 29
Fraxinus ornus (Blumen-Esche)
Oben: Straßenbaum
Rechts: subpontane Reproduktion
Lonicera pileata – oder wie verzwickt der Kampf gegen den
spontanen Aufwuchs doch sein kann
Baumscheiben werden mit dem
Bodendecker bepflanzt, um Ruhe vor
den Unkräutern zu haben…
Bereits wenige Jahre später macht sich
der Bodendecker „selbständig“…
Anwohner in 5 europäischen Großstädten schätzen jedoch auch durchaus die
spontane Biodiversität der Baumscheiben (KOWARIK in Naturkapital Deutschland - TEEB
2016)
„Guerilla-Gardening“ und andere private Initiativen
befördern zumindest die Vorkommen der folgenden Arten auf
Baumscheiben:
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Agrostemma githago
Alcea rosea
Amaranthus cruentus
Amaranthus retroflexus (ob subspontan?)
Anthricus cerefolia (ob subspontan?)
Calendula officinalis (z. T. suspontan)
Coriandrum sativum (ob subspontan?)
Glebionis coronaria
Phacelia tanacetifolia
Phytolacca esculenta
Securigera varia
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 32
Wie viele Arten kommen auf den Straßen einer Stadt vor?
Beispiel Braunschweig (BRANDES 2016):
Die 512 (sub)spontan auf und an den öffentlichen Straßen Braunschweigs
vorkommenden Arten stellen etwa 42,5 % der Gefäßpflanzenflora des
gesamten Stadtgebietes dar.
Woher stammen diese Pflanzenarten? 277 Arten, also 54 % der
Straßenflora, sind nicht einheimisch in Deutschland. Dieser Anteil erhöht
sich um die Arten, die zwar in (Süd-)Deutschland, nicht aber in BS als
einheimisch eingestuft werden.
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 33
Artenturnover auf den Baumscheiben der Gaußstraße
in Braunschweig zwischen 1984 und 1993
45
40
gemeinsam mit
1984
35
30
Gesamtartenzahl
25
20
15
10
5
0
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 34
Die Unbeständigkeit der Straßenflora - oder
Artenreichtum versus Beobachtungsdauer
Humboldtstraße
Braunschweig
Länge ca. 180m
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 35
Artenturnover im Verlauf einer Straßensanierung (ca. 214 m
Länge, Waterloostraße in Braunschweig)
Jahr
Artenzahl
2008
66
2009
85
60
2010
81
50
2011
65
40
2012
67
R² = 0,7227
30
Gesamtartenzahl ↑
PräsenzgemeinschaftsKoeffizient mit dem Ausgangsjahr →
20
10
0
2008 mit
2009
2008 mit
2010
2008 mit
2011
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 36
2008 mit
2012
Altes Kopfsteinpflaster als Refugien von bedrohten Arten der
Sandtrockenrasen
Helichrysum arenarium
Chondrilla juncea
Filago arvensis
Corynephorus canescens
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 37
Wird man je unkrautfreie Straßen erreichen können, wollen
oder dürfen?
Begrünte Flächen, ob gärtnerisch angelegt oder spontan, werden
wegen ihrer Bedeutug für Grundwasserneubildung und Stadtklima
mittelfristig zunehmen. Zur verkehrsbedingten Ausbreitung von
Pflanzenarten kommen subspontane Ausbreitung von Zierpflanzen
und Unkräutern aus Anlagen wie auch der rypochore Transport
von Diasporen bei Bodentransporten im Verlauf von Bau- und
Sanierungsmaßnahmen.
Eine vollständige „Verbannung“ der spontanen Vegetation wird
daher nicht möglich sein. Bereits die Regulierung des Aufwuchses
erfordert hohe Kosten, eine permanente und vollständige
Bekämpfung liegt im Bereich der Utopien.
Wichtig ist vielmehr, den Bewohnern einer Stadt Sinn und Nutzen
von Bodenentsiegelungen zu vermitteln.
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 38
Wird man je unkrautfreie Straßen erreichen können, wollen
oder dürfen?
Wichtige Aspekte liefert auch die Biodiversität: Städte stellen heute in
Mitteleuropa nicht nur wegen des Neophytenzustroms Hot spots der
Artenvielfalt dar. Sonderbiotope ermöglichen auch auf Straßenflächen
(vgl. Folie 37) das Überleben konkurrenzschwacher einheimischer Arten.
Zur Erhaltung und Förderung der Biodiversität in Deutschland haben wir
uns international verpflichtet; die Städte können hierbei nicht vergessen
werden.
Fazit: Man sollte daher Unkrautbekämpfung mit Augenmaß betreiben, dort
beherzt, wo die Unkräuter wichtige Funktionen wirklich beeinträchtigen;
dort wo man sie tolerieren kann, sollte man sie jedoch nur moderat im
Zaum halten.
Ziel sind Erhaltung und Entwicklung der jetzt vorhandenen Vielfalt.
Spannend, weil noch im Forschungs-Dunkel, ist die Frage, ob nicht
gerade Städte Mikrolabore der Evolution sind?
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 39
Benutzte Literatur
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Florendynamik im lokalen Maßstab. – Braunschweiger Naturkundliche Schriften (im Druck).
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12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 40
Benutzte Literatur
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WILMANNS, O. (1998): Ökologische Pflanzensoziologie. 6. Aufl. – Wiesbaden. 405 S.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Dietmar Brandes
Institut für Pflanzenbiologie der TU Braunschweig, Arbeitsgruppe Vegetationsökologie
Mendelssohnstraße 4
38106 Braunschweig
[email protected]
12. Oktober 2016 | Dietmar Brandes: Vegetationsökologie auf Wegen und Plätzen im besiedelten Raum | Seite 41