Die große Mauer von Tadschikistan Die Regierung in Duschanbe will den höchsten Staudamm der Welt bauen ▶ LMd Seite 22 AUSGABE BERLIN | NR. 11248 | 6. WOCHE | 39. JAHRGANG FREITAG, 10. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE H EUTE I N DER TAZ € 2,80 AUSLAND | € 2,50 DEUTSCHLAND Wenn wütende BERLINALE Verbraucher wählen BERLINALE Warum die Kostümbildnerin Milena Canonero völlig zu Recht den Goldenen Ehren bären erhält und wie der Eröffnungsfilm „Django“ einschlägt ▶ SEITE 22-24 NAUEN Lange Haft strafen für Brandan schlag auf geplantes Flüchtlingsheim ▶ SEITE 2 TERROR Nach Mord an Mitarbeitern: Vorerst kein Rotes Kreuz mehr in Afghanistan ▶ SEITE 10, 11 VERLI EBT Guten Tag! Kleiner Test: Um wen geht es? a) „Wer hätte es denn sonst machen sollen!“, ein „Kümmerer“, „nie peinlich, der Mann“, „Es gibt Menschen, Frauen vor allem, die halten ihn gar für eine Lichtgestalt“, „Dieser Mann ist eine LICHTGESTALT!“ VERTRAUENSFRAGEN „Liebe Politik, bei euch läuft etwas schief“: Verbraucherzentralen-Chef Klaus Müller im taz-Interview über die zunehmende Verunsicherung der KonsumentInnen und die politischen Profiteure ▶ SEITE 3 b) „Der Chuck Norris der deutschen Politik“, „Der Mann, vor dem selbst Superwoman zittert“, „Fast muss man fürchten, dass ihm demnächst bei seinen Auftritten Höschen von kreischenden Fans auf die Bühne geworfen werden.“ a) Text über Frank-Walter Steinmeier im aktuellen Stern b) Text über Martin Schulz im aktuellen Stern Kein Spaß: Frust über vermeintliche oder echte Verbrauchertäuschung und mangelnden Schutz davor kann zu extremen Wahlentscheidungen führen Foto: Florian Rainer/Anzenberger/plainpicture TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.664 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Im Ergebnis wird es durch diesen Präzedenzfall zu einem Kompromiss kommen, mit dem alle werden leben können. Umwelt und Wirtschaft dürften gleichermaßen gestärkt aus diesem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht her- vorgehen. Allein das wäre ein gewaltiger Fortschritt. Der Spruch der Leipziger Richter ist weise. Er definiert rechtliche Leitlinien für alle Planungen großer Infrastrukturprojekte, die Einfluss auf Gewässer haben könnten. Und das sind in diesem Land, dafür reicht ein Blick in den Atlas, fast alle. Insofern dürfte die viel beschworene Planungssicherheit, die vor allem Politiker und Wirtschaftsverbände schon lange vehement fordern, bald Realität werden: Zwar werden sie die erhofften Freibriefe für planerische Skrupellosigkeit nicht bekommen – dafür werden dann alle Projektentwickler und Planer genau wissen, was sie besser gar nicht erst versuchen sollten. Die Pläne für die Vertiefung der Elbe und auch für die parallel betriebene Vertiefung der Weser zeichneten sich bislang dadurch aus, dass sie das technokratisch erwünschte Maximum skizzierten, ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt. Das aber ist nicht durchsetzbar, urteilt das höchste deutsche Verwaltungsgericht in letzter Instanz. Das zeigt zugleich, dass nicht angeblich fortschrittsfeindli- Das Urteil ist weise, weil es Umwelt und Wirtschaft gleichermaßen stärkt che Umweltverbände ihnen gar nicht zustehende Rechte missbrauchen, sondern höchste Gerichte zu dem Schluss kommen, die Naturschützer hielten sich eher an den Geist und die Buchstaben von Gesetzen als Planungsbehörden. Zwar dürfte demnächst die Vertiefung der Elbe wie auch der Weser erlaubt werden – aber mit hohen ökologischen Auflagen, die nun die Naturschutzverbände erreicht haben. Und deshalb müssen alle Beteiligten zu der Einsicht gelangen, dass große Infrastrukturprojekte nur noch im Konsens zu realisieren sind. Ökonomie durch Ökologie ist jetzt die Leitlinie. Und nicht länger Ökonomie statt Ökologie. Schwerpunkt SEITE 4 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN BUN DESBAN K HOLT GOLDRESERVE SCH N ELL NACH DEUTSCH LAN D KOPFTUCHVERBOT Reich ins Heim Entschädigung für abgelehnte Lehrerin FRANKFURT/MAIN | Die Bundes- Rücktritt: Labours linke Hoffnung Clive Lewis Foto: picture alliance Die Stimme von Norwich F ür die Abstimmung über das Brexit-Gesetz am Mittwochabend im britischen Unterhaus hatte sich Clive Lewis einen Anzug angezogen und eine Krawatte umgebunden. Normalerweise trägt er Jeans und Pullover. Ob er sich für das wichtige Votum fein gemacht habe, fragte ihn ein Tory-Abgeordneter höhnisch. Lewis stimmte gegen den Gesetzesantrag und verstieß damit gegen den Fraktionszwang. Er zog die Konsequenzen und trat als Minister für Energie und Unternehmen aus dem Labour-Schattenkabinett aus. „Als ich zum Abgeordneten für SüdNorwich gewählt wurde“, sagte er, „habe ich meinen Wählern versprochen, zur Stimme von Norwich in Westminster zu werden, und nicht zu Westminsters Stimme in Norwich.“ Lewis wurde 1971 in London geboren, wuchs aber in einer Sozialbausiedlung in Northampton bei seinem alleinerziehenden Vater auf. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Bradford und wurde zum Vizepräsidenten des Nationalen Studentenrats gewählt. Nach seinem Studium arbeitete er als Reporter für die BBC-Nachrichten. Er warf dem Sender jedoch vor, ihn als Nachrichtensprecher abgelehnt zu haben, weil er schwarz sei. 2006 wurde Lewis Offizier in der Armeereserve und kämpfte 2009 drei Monate lang in Afghanistan. Im Frühjahr 2015 zog er als Abgeordneter ins Unterhaus ein. Seitdem gehört er zur linken Minderheit in seiner Partei und stimmte unter anderem gegen Atomwaffen und Studiengebühren. Er war einer der 36 Abgeordneten, die die Kandidatur des linken Veteranen Jeremy Corbyn zum Parteichef im Herbst 2015 unterstützten. Als nach dem Brexit-Referendum im Juni vorigen Jahres 60 Abgeordnete aus Corbyns Team zurücktraten, wurde Lewis verteidigungspolitischer Sprecher im Schattenkabinett. Seit Oktober war er für Energie und Unternehmen zuständig. Lewis bezeichnet sich als „stolzen Sozialisten“, er gilt als große Hoffnung des linken Parteiflügels, weil er im Gegensatz zu Corbyn auch einen Draht zu den gemäßigt linken Abgeordneten hat. Deshalb sehen viele in ihm bereits Corbyns Nachfolger. So weit ist es jedoch noch RALF SOTSCHECK lange nicht. Ausland SEITE 10 TRUMPLAND Die ersten 100 Tage. Dorothea Hahn, taz-Korrespondentin in den USA, über den Alltag unter Trump blogs.taz.de Der Tag FREITAG, 10. FEBRUAR 2017 bank lagert schneller als geplant ihre Goldreserven, die jahrzehntelang in New York, Paris und London aufbewahrt wurden, nach Frankfurt um. 216 Tonnen Gold waren es allein im vergangenen Jahr. Dort lagern nun 1.619 Tonnen oder 47,9 Prozent des Edelmetalls. Nach öffentlichem Druck hatte die Bundesbank vor vier Jahren das Ziel ausgegeben, bis spätestens Ende 2020 mindestens die Hälfte der deutschen Goldreserven in eigenen Tresoren im Inland aufzubewahren. Doch die Verlagerung geht deut- lich schneller als geplant. „Mehr als drei Jahre vor dem Termin wird sie in diesem Jahr umgesetzt“, berichtet BundesbankVorstand Carl-Ludwig Thiele. Während des Kalten Kriegs war es durchaus gewollt, deutsches Gold „westlich des Rheins“ und möglichst weit außerhalb der Landesgrenzen zu verwahren – als möglichen Puffer für Währungskrisen. 2012 monierte der Bundesrechnungshof, die Bundesbank habe die Goldreserven jenseits der Landesgrenzen noch nie „körperlich aufgenommen und auf Echtheit und Gewicht“ geprüft. (dpa) BERLIN | Das Landesarbeitsge- richt Berlin-Brandenburg hat einer abgelehnten Lehrerin mit Kopftuch eine Entschädigung von 8.680 Euro zugesprochen. Damit war die Berufung der Bewerberin am Donnerstag erfolgreich. Die Frau sei benachteiligt worden, sagte Richterin Renate Schaude. Von ihr wäre keine konkrete Gefährdung des Schulfriedens ausgegangen, ihre Benachteiligung sei unzulässig gewesen. Das Berliner Neutralitätsgesetz sei aber noch verfassungskonform, so das Gericht. (dpa) TAZ-N EWSLET TER Sie wollen heute schon wissen, was morgen in der taz steht? Dann ist unser täglicher News letter, der am frühen Abend einen ersten Ausblick liefert, genau das Richtige für Sie. Anmeldung unter taz.de/heute. Die taz von morgen www.taz.de Angst und Schrecken verbreitet GEWALT Gericht verurteilt Nauener NPD-Mann zu langer Haftstrafe für Brandstiftung an einer Flüchtlingsunterkunft. Den Vorwurf der kriminellen Vereinigung aber lässt es fallen AUS POTSDAM KONRAD LITSCHKO Auch am Ende grinst Maik Schneider noch. Zu acht Jahren Haft wegen schwerer Brandstiftung verurteilt am Donnerstag Richter Theodor Horstkötter den NPD-Mann. Hinzu kommen anderthalb Jahre für eine frühere Straftat, das Schmieren von Hakenkreuzen. Und Horstkötter verliert deutliche Worte. Schneider und seine Mittäter hätten eine „Verachtung der Rechtsordnung und derjenigen, die hier Asyl suchen, bewiesen“. Sie hätten versucht, „Angst und Schrecken zu verbreiten“ und ersten Artikel des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. „Man kann das in diesen Tagen gar nicht oft genug wiederholen.“ In der Verhandlung sei es um „Grundfesten unseres Zusammenlebens“ gegangen, so Horstkötter. Diese hätten Schneider und seine Leute konterkariert: Die Unterkunft sollte den Flüchtlingen Schutz gewähren. „Mit der Brandstiftung aber wurde das Zeichen gesetzt: ‚Hier ist kein Platz für euch. Ihr könnt hier nicht in Frieden leben.‘“ Für Horstkötter ist klar, wer der Hauptverantwortliche war: Maik Schneider. Er sei der „Ma- Brand gelegt, behauptete der NPD-Mann. Richter Horstkötter urteilt hingenen, die Verurteilten seien „höchst professionell“ vorgegangen. Wiederholt hätten sich die Verurteilten bestärkt: „Die Halle muss brennen.“ Die eingesetzten Brandmittel seien „geradezu prädestiniert“ gewesen, ein großes Feuer zu entfachen. Den ursprünglichen Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung hatten Staatsanwaltschaft und Gericht fallen lassen – aus „prozessökonomischen Gründen“. Hörstkötter verteidigt den Schritt: Dies sei bis nach Ungarn – und wurde bereits vor zwölf Jahren verurteilt: als Mitglied der rechtsterroristischen Vereinigung „Freikorps Havelland“. Die Nauener Linken-Abgeordnete Andrea Johlige, deren Büro angegriffen wurde, bedauert den Rückzieher der Staatsanwaltschaft. „Es wurde die Chance vertan, das Umfeld und die politischen Hintergründe der Tat vollständig aufzuklären.“ Die Angeklagten hätten „natürlich genau gewusst, was sie taten“. Auf die NPD wirft das Urteil auch so ein bezeichnendes Licht. Der Verfassungsschutz hatte der „Prädestiniert für ein großes Feuer“: die ausgebrannte Turnhalle in Nauen am Morgen des 25. August 2015 Foto: Christian Pörschmann/dpa sich „Selbstjustiz angemaßt“. Damit fällt das Landgericht Potsdam die härteste Strafe für eine Brandstiftung an einer Flüchtlingsunterkunft in jüngster Zeit. Im August 2015 hatte Schneider, bis zu seiner Verhaftung NPD-Stadtverordneter im brandenburgischen Nauen, mit fünf Kumpanen die örtliche Turnhalle angezündet, die als Flüchtlingsunterkunft hergerichtet wurde. Nur eine Ruine blieb und 3,5 Millionen Euro Schaden. Zuvor schon hatte die Gruppe eine Sitzung des Stadtparlaments gesprengt, das örtliche Büro der Linken attackiert, das Auto eines Polen angezündet und einen Sprengsatz vor einem Supermarkt gezündet. Der Richter zitiert gleich zu Beginn seines Urteilsspruch den cher“ in der Planung für den Brandanschlag gewesen, er habe am Ende die vor der Turnhalle angehäuften Reifen, Paletten und die Gasflasche entzündet. Mit seinem Strafmaß folgt das Gericht weitgehend der Staatsanwaltschaft, die knapp neun Jahre Haft für Schneider gefordert hatte. Dessen Mittäter bekommen Freiheitsstrafen von acht Monaten bis sieben Jahren. Schneider verfolgt das Urteil erst konsterniert, später teils kopfschüttelnd oder grinsend. Schon die vorherige Verhandlung hatte der NPD-Mann zeitweilig ins Absurde gesteuert. Der 29-Jährige gab sich betont unbeschwert, versuchte Mitangeklagte unter Druck zu setzen und lieferte lange, krude Einlassungen. Er allein habe den Die Verurteilten seien „höchst professionell“ vorgegangen, sagt der Richter „keine Kapitulation“ gewesen. Eine feste Gruppenstruktur wäre schwer nachweisbar gewesen, der Strafrahmen ohnehin hoch gewesen. Auch die Angeklagten hatten sich bemüht, sich als unpolitisch darzustellen. Ihre Tatbeteiligung schrieben sie ihrem Alkoholkonsum oder Schneiders Überredungstalent zu. Nur: Fast alle der Angeklagten waren regelmäßige Teilnehmer an AntiAsyl-Protesten. Einer reiste für einen Neonazi-Aufmarsch gar Neonazi-Partei wiederholt vorgeworfen, Anti-Asyl-Proteste zu befeuern. In Nauen nun ging ein Parteifunktionär weiter: Er wurde selbst zum Brandstifter. Man habe Schneider schon vor Wochen aus der Partei geworfen, behauptet am Donnerstag Brandenburgs NPD-Sprecher Florian Stein. Weil er in Haft keine Mitgliedsbeiträge zahlte. Jetzt, nach dem Urteil, hätte man Schneider auch so ausgeschlossen. „Wir distanzieren uns von solchen Taten.“ Im Gericht sitzt indes auch Frank Kittler. Der Nauener war im November aus der NPD ausgetreten. Auch weil, wie Kittler sagt, sich die Partei nie glaubwürdig von dem Nauener Brandanschlag losgesagt habe. „Das hat mich schockiert.“ „VERSEH EN“ I N SYRI EN Russland tötet türkische Soldaten ISTANBUL | Die russische Luft- waffe hat nach Angaben der türkischen Armee in Nordsyrien „versehentlich“ ein Gebäude mit türkischen Soldaten angegriffen und drei von ihnen getötet. Der Luftschlag vom Donnerstag habe eigentlich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gegolten, teilten die türkischen Streitkräfte mit. Elf türkische Soldaten seien verwundet worden, einer davon schwer. Russlands Präsident Wladimir Putin habe seinem türkischen Amtskollegen Erdogan seine Trauer zum Ausdruck gebracht. (dpa) Auf dem rechten Auge wachsam Angriffe auf Flüchtlingsheime werden hart bestraft URTEILE POTSDAM taz | Die Worte waren deutlich. „Was Sie gemacht haben, ist nichts anderes als ein gemeiner Terrorismus“, sagte im März 2016 der Richter am Landgericht Hannover. Die drei Angeklagten hatten zuvor einen Brandsatz in ein Schlafzimmer einer Flüchtlingsunterkunft in Salzhemmendorf (Niedersachsen) geworfen. Nur durch Zufall übernachtete das dort wohnhafte Kind in der Tatnacht bei ihrer Mutter. Die Antwort des Gerichts: Haftstrafen bis zu acht Jahren, wegen versuchten Mordes. Das Urteil war das härteste für einen Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft in jüngerer Zeit. Aber auch an anderer Stelle griffen Gerichte zuletzt gegen die Anti-Asyl-Brandstifter durch. Sechs Jahre Haft verhängten sie für einen Feuerwehrmann, der auf einem Dachboden einer bewohnten Unterkunft in Altena im Sauerland Feuer gelegt hatte. Fünf Jahre Haft gab es für zwei Männer, die ein Heim in Groß Lüsewitz bei Rostock attackierten, vier Jahre Haft für Brandstifter im sächsischen Meißen. Die Welle der Gewalt gegen Flüchtlinge hatte im vergangenen Jahr fast konstant angehalten. 988 Straftaten gegen Asylunterkünfte zählte das Bundeskriminalamt, davon 74 Brandstiftungen. Ein Jahr zuvor waren es 1.031 Straftaten, darunter 94 Brandstiftungen. Die Gewalt setzt sich auch in diesem Jahr fort. Das BKA notierte seit Jahresbeginn erneut 22 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte. Zuletzt brannte es am Wochenende an der Fassade eines Heims im münsterländischen Drensteinfurt. Größerer Schaden blieb aus, die Täter sind flüchtig. Die Polizei geht von einer vorsätzlichen Tat aus. Nach einem Brandanschlag auf eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge in Jüterbog (Brandenburg) setzte die Staatsanwaltschaft auch hier auf Härte: Sie ließ vergangene Woche einen 20-jährigen Tatverdächtigen festnehmen. Neben Brandstiftung erkannte das Landgericht nun auch den Vorwurf des versuchten Mor des an. Und in Dresden beginnt Anfang März ein Großprozess nach einer Reihe von Gewaltserie in gegen Flüchtlinge und LinkenPolitiker in Freital. Die Anklage der Bundesanwaltschaft lautet: Terrorismus. KONRAD LITSCHKO Schwerpunkt Politik und Alltag FREITAG, 10. FEBRUAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Was hat Verbraucherschutz mit politischer Orientierung zu tun? Wen wählt man, wenn man sich sicher fühlt? Und wenn nicht? INTERVIEW BARBARA JUNGE UND JAN FEDDERSEN taz: Herr Müller, Sie sind als Ansprechpartner für die Verbraucher so nah wie wenige andere an den Unzufriedenheiten der Bevölkerung dran. Woher kommt denn das Misstrauen, das derzeit an so vielen Orten und in so vielen Debatten anzutreffen ist? Klaus Müller: Ich glaube, die Unzufriedenheit, die wir auch bei Verbrauchern feststellen, liegt zum einen darin, dass die Vielfalt der Angebote inzwi schen so groß ist, dass das bei vielen Menschen nicht nur Kon sumfreude, sondern auch ein Ohnmachtsgefühl auslöst. Die Globalisierung hat große Vor teile, sie hat aber auch gravie rende Nachteile. Wir beobachten das Gefühl, der Einzelne sei un wichtig geworden. Es gibt es ja die Tendenz bei Anbietern, ihre Bestandskunden, die früher ge hegt und gepflegt wurden, etwa von Energieversorgern, Telefon anbietern oder Banken, nicht mehr so intensiv zu binden. Menschen machen eine Erfah rung der Unwichtigkeit. Und übertragen die Menschen dieses Ohnmachtsgefühl des Kunden auf ein Ohnmachtsgefühl des Bürgers? Ja, dafür gibt es viele Indizien. In einer aktuellen Befragung von Verbrauchern hat der Ver braucherzentrale Bundesver band eine Reihe von Indikato ren dafür, dass sich Menschen – auch abhängig von ihrer par teipolitischen Präferenz – unter schiedlich gut geschützt fühlen. Mit Politik werde ich möglicher weise aber nur punktuell kon frontiert, wenn ich die Zeitung lese, wenn ich mal Radio höre. Aber meine Konsumerfahrung ist etwas Grundlegendes, und da gibt es Unterschiede in den Wahrnehmungen und Meinun gen. Wir haben die ganz klassi sche Frage gestellt: Wie gut, mei nen Sie, sind Ihre Interessen als Verbraucher geschützt? Da se hen wir, dass es den Menschen, die der Sozialdemokratie zu neigen, zu 72 Prozent gut geht, bei den Christdemokrat sind es noch knapp zwei Drittel, bei den Grünen noch deutlich über die Hälfte. Bei der AfD oder den Lin ken sinkt der Wert unter 30 Pro zent. Jetzt könnten wir lange darü ber diskutieren – Henne oder Ei? Aber ich kann feststellen: Men schen, die ihre Konsumwelt so erleben, die sich nicht ernst ge nommen fühlen, nicht gewert schätzt, die sogar erleben, dass der Umgang nicht ehrlich und auf Augenhöhe ist, die sind ent täuscht und neigen im Ergebnis offenbar auch zu spezifischen politischen Ansichten. Zum Beispiel? Uns haben die großen Märkte des Verbraucherschutzes inter essiert, also Tourismus, Energie, Lebensmittel, Gesundheit, Inter net. Es fällt auf, dass sich AfDWähler, außer beim Thema In ternet und Telefon, durchgängig am wenigsten geschützt fühlen. Für die Linken gilt das ganz ein deutig für den Finanzmarkt, sie fühlen sich in diesem Bereich am wenigsten geschützt. Manche Menschen waren bei Bankgeschäften und bestimmten Kaufentscheidungen schon immer unsicher. Wie kommt es eigentlich jetzt zur Erschütterung des Vertrauens? Warum glaubt jetzt plötzlich alle Welt, überrumpelt zu werden? Lebensmittel zu kaufen ist doch eigentlich was Tolles. Was gibt „Da läuft was schief“ ZUSAMMENHÄNGE Wer sich unsicher und getäuscht fühlt, wählt eher Parteien an den Rändern. Verbraucherschützer Klaus Müller über Konsum, Vertrauen und Politik Wie kann man Verbraucher fit machen, sie unterstützen und ihnen das Leben leichter machen? Auf jeden Fall wär’s gut, früh anzufangen Foto: Frank Muckenheim/plainpicture es Schöneres als Essen? Sich im Bereich von Kommunikation zu tummeln, ist ein urmensch liches Bedürfnis. Wir wären arm dran, wenn es anders wäre. Wir haben doch alle schon in alltags relevanten Angeboten, Kaufent scheidungen Enttäuschungen erlebt. Und genau das ist ein Nährboden für einen diffusen Vertrauensverlust. Aber es wäre vollkommen falsch, uns „arme“ Verbraucher nur als Opfer dar zustellen. Die Kehrseite der Me daille ist, dass Lebensmittel in der Vergangenheit ten denziell immer preiswerter wur den. Und dann wundern wir uns, warum bestimmte Lebensmittel nicht mehr die Qualität haben, die sie früher hatten? Wenn ich nicht mehr genau weiß, woher ein Stück Fleisch kommt, verliere ich den Glauben an die Demokratie? Der Brückenschlag wäre mir noch einen Tick zu weit. Aber ich spüre eine Enttäuschung. Wenn der Preis nicht mehr sagt: billig ist schlecht, teurer ist sehr viel besser – dann ist ein Nährboden für Verunsicherung da. Jetzt war Ihnen mein Schritt zu mutig, aber Ihre Aussage war nun sehr wenig mutig. Sie haben gesagt: Es gibt eine Linie zwischen Sicherheit und gutem Verbraucherschutz. Wie sieht diese Linie aus? Die Zahlen belegen durchaus einen Zusammenhang zwi schen Menschen, die bestimm ten Parteien zuneigen, und ih rem Unsicherheitsgefühl im Verbraucheralltag. Unsere ös terreichischen Verbraucher schutzkollegen haben mit der FPÖ schon jahrelange Erfah rungen. Auch sie berichten, dass rechtsnationale, rechts konservative Parteien diese Un sicherheiten, die ich im Finanz markt, im Digitalen, im Lebens mittelbereich feststellen kann, aufgreifen – ich würde sagen: instrumentalisieren. Die tradi tionellen Parteien haben das Thema Verbraucherschutz nicht immer ernst genug genommen. Verbraucher brauchen Orientie rung, Informationen, Transpa renz und, ja, auch Schutz. Das müssen wir und auch die Poli tik doch zur Kenntnis nehmen. Anders herum kann die Politik gerade mit Blick auf die nächsten Wahlen dar aus einen An sporn ableiten: Wie kann ich Ver braucher fit machen, sie unterstützen und ihnen das Leben leichter machen? Warum antworten links eingestellte Verbraucher und AfDAnhänger in Ihren Umfragen bisweilen beinahe mit ähnlichen verunsicherten Argumenten? Es gibt im Wesentlichen drei Gruppen von Verbrauchern: Es gibt die verantwortungsbewuss ten Verbraucher, die versuchen vieles richtig zu machen, die zu gleich eigenständig und innova tiv sind. Die große Gruppe bil den die vertrauenden Verbrau cher. Diese Menschen glauben, der Markt sei schon in Ordnung. Und es gibt die verletzlichen Verbraucher. Da ist der Geld beutel vielleicht etwas knap per ausgestattet und es macht einen Unterschied, ob das Konto kostenlos ist oder es fünf Euro im Monat kostet. Wir finden bei den Linken viele verletzliche Verbraucher. Das wäre meine Erklärung, warum Wähler, die der Linken zuneigen, diese Ent täuschung spüren. Während es bei den AfD-Wählern, wenn man den bisherigen Untersuchun gen glauben kann, weniger ein ökonomisches Problem ist. Der Vertrauensverdruss ist hier eine Staatsenttäuschung, eine durch aus auch angefeuerte Elitenent täuschung, ein ganz grundsätz liches Misstrauen in die Welt und die Entwicklungen, deren Geschwindigkeit als bedrohlich dargestellt wird. Wie setzen sich die Vertrauenswerte in Politik um? Verbraucher und Wähler sind ja keine zweigeteilten Wesen. Ein Beispiel dafür sehen wir im Be reich Energie: Die AfD-nahen Befragten sind signifikant hö her (88 Prozent) dafür, dass „Ver braucher von steigenden Ener giekosten entlastet werden sol len“, als andere Verbraucher. Das korrespondiert mit Klimaskep sis und der Ablehnung der Ener giewende. Was heißt das für die demokratischen Parteien? Sie müssen ausgleichende Lösun gen finden, diese gut kommuni zieren und den Glauben stärken, dass gute Politik etwas mit Ge rechtigkeit, sozialem Ausgleich und dem Schutz der Menschen zu tun hat. Wenn man alle Men schen, insbesondere aber die, die sich von der AfD-angezogen fühlen, erreichen will … … Gehört die AfD nicht zum demokratischen Spektrum? Diese Debatte muss geführt wer den, das ist aber nicht das pri märe Anliegen des Verbraucher schutzes. Ich wünsche mir, dass Menschen sich in ihrem Kon sumalltag sicher fühlen. Und ich erwarte von der Politik, dass sie dafür den Rahmen setzt. Wenn ich sehe, dass sich Anhänger von CDU, SPD, Grünen alles in allem in vielen Bereichen des Verbrau cheralltages deutlich sicherer fühlen als Anhänger von Linken oder auch der AfD, dann muss ich doch darüber nachdenken. Mein Anspruch wäre es, zu sa gen: Liebe Politik, bei euch läuft etwas schief. Ihr müsst bei euch etwas ändern, damit es auch die sen Menschen – mindestens ge fühlt, aber auch objektiv besser und sicherer geht. Angesichts der großen Nervosität in unserer Gesellschaft wird immer wieder diskutiert: Ist das ein materielles oder ein kulturelles Phänomen? Ich will nicht den Eindruck er zeugen, dass der Verbraucher schutz das Allheilmittel wäre. Für einen Teil der Gesellschaft ist aber tatsächlich die unglei che Ressourcen- bzw. Kosten verteilung ihr primäres Pro blem. Schauen Sie auf den Fi nanzbereich: Die Zahlen der Bankinstitute, die kostenlose Girokonten anbieten, sinkt von Monat zu Monat. Andere Bevöl kerungsgruppen hadern mit der Geschwindigkeit, Vielfalt, Kom plexität, mit der sich Dinge ver ändern. Da gibt es eine Über forderung. Die Politik muss Rahmen so setzen, dass für Men schen das Leben leichter wird, der Konsumalltag sie nicht überfordert. Und ich bin über zeugt davon, dass das möglich ist. Nehmen Sie das Beispiel der Ries ter-Reform: Wurde mit diesem Angebot der zusätzlichen pri vaten Altersvorsorge Leben der Menschen sicherer, können sie wirklich beruhigter in die Zu kunft schauen? Ich fürchte, nein. Die Welt ist zu komplex geworden, und dann hat die Partei Erfolg, die sagt: Es gibt nur noch die Ehe zwischen Mann und Frau, nur Fleisch oder Fisch? Sie übertreiben. Aber ja, es be steht die Gefahr, dass eine Partei den Unmut der Verbraucher, die Unzufriedenheit im Konsumall tag auf ihre politischen Mühlen lenkt und damit erfolgreich ist. Der Bogen ist vielleicht ein we nig gewagt; aber wenn ich mir die aktuellen Aussagen von Do nald Trump anschaue, dann sieht man ja, dass ein solches Konzept Erfolg hat. Und das macht mir große Sorge. Ich ap pelliere hier an die, die Verant wortung tragen, diese sehr, sehr ernst zu nehmen. Nun kann man von den Parteien schlecht verlangen: Lüge doch ein bisschen, dann fühlen sich die Leute sicherer. Wie bitte? Nein! Ganz im Ge genteil. Ich denke, drei Dinge sind notwendig. Es braucht be stimmte gesetzliche Standards. Es gehört Mut dazu, den Markt zu regulieren. Zweitens kann man Vielfalt am Markt nicht zu rückdrängen und sollte es auch nicht. Aber man muss gute In formationen von vertrauens würdigen Absendern dagegen stellen. Und drittens helfen Vor einstellungen (Standardpakete) bei allen möglichen Produkten, zum Beispiel bei der Altersvor sorge oder auch beim Daten schutz. Damit könnte man die Menschen wieder da abholen, wo sie sind, und ihnen wieder ein Stück Sicherheit zurückge ben. Die Konsumentscheidung kommt nun einmal viel häufi ger vor als ein Aufeinandertref fen mit Frau Merkel oder nun mehr Martin Schulz. Klaus Müller ■■45, Vorstand des Verbraucher- zentrale Bundesverbands (vzbv). Er leitete 2006 bis 2014 die Verbraucherzentrale von NRW. Davor war er seit 2000 grüner Umweltminister in SchleswigHolstein – als jüngster Landesminister. Foto: dpa
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