taz.die tageszeitung

Die große Mauer von Tadschikistan
Die Regierung in Duschanbe will den höchsten Staudamm der Welt bauen ▶ LMd Seite 22
AUSGABE BERLIN | NR. 11248 | 6. WOCHE | 39. JAHRGANG
FREITAG, 10. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE
H EUTE I N DER TAZ
€ 2,80 AUSLAND | € 2,50 DEUTSCHLAND
Wenn wütende
BERLINALE
Verbraucher wählen
BERLINALE Warum die
Kostümbildnerin Milena
Canonero völlig zu Recht
den Goldenen Ehren­
bären erhält und wie der
Eröffnungsfilm „Django“
einschlägt ▶ SEITE 22-24
NAUEN Lange Haft­
strafen für Brandan­
schlag auf geplantes
Flüchtlingsheim ▶ SEITE 2
TERROR Nach Mord an
Mitarbeitern: Vorerst
kein Rotes Kreuz mehr in
Afghanistan ▶ SEITE 10, 11
VERLI EBT
Guten Tag!
Kleiner Test: Um wen geht es?
a) „Wer hätte es denn sonst
machen sollen!“, ein „Kümmerer“, „nie peinlich, der Mann“,
„Es gibt Menschen, Frauen vor
allem, die halten ihn gar für eine Lichtgestalt“, „Dieser Mann
ist eine LICHTGESTALT!“
VERTRAUENSFRAGEN „Liebe Politik,
bei euch läuft etwas schief“:
Verbraucherzentralen-Chef
Klaus Müller im taz-Interview
über die zunehmende
Verunsicherung der
KonsumentInnen und die
politischen Profiteure ▶ SEITE 3
b) „Der Chuck Norris der deutschen Politik“, „Der Mann, vor
dem selbst Superwoman zittert“, „Fast muss man fürchten, dass ihm demnächst bei
seinen Auftritten Höschen von
kreischenden Fans auf die Bühne geworfen werden.“
a) Text über Frank-Walter
Steinmeier im aktuellen Stern
b) Text über Martin Schulz im
aktuellen Stern
Kein Spaß: Frust über vermeintliche oder echte Verbrauchertäuschung und mangelnden Schutz davor kann zu extremen Wahlentscheidungen führen Foto: Florian Rainer/Anzenberger/plainpicture
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KOMMENTAR VON SVEN-MICHAEL VEIT ZUM URTEIL ÜBER DIE ELBVERTIEFUNG
N
Baggern nur noch einvernehmlich!
atürlich sehen sich jetzt beide Seiten bestätigt durch das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts über
die Elbvertiefung. Und natürlich haben
beide Seiten ebenso viel recht wie unrecht. Denn weder können Politik und
Wirtschaft im größten deutschen Hafen
Hamburg ihre Interessen auf ganzer Linie durchsetzen, noch können das die
Umweltverbände, die ums Ökosystem
der Unterelbe fürchten.
Im Ergebnis wird es durch diesen Präzedenzfall zu einem Kompromiss kommen, mit dem alle werden leben können.
Umwelt und Wirtschaft dürften gleichermaßen gestärkt aus diesem Verfahren
vor dem Bundesverwaltungsgericht her-
vorgehen. Allein das wäre ein gewaltiger
Fortschritt.
Der Spruch der Leipziger Richter ist
weise. Er definiert rechtliche Leitlinien
für alle Planungen großer Infrastrukturprojekte, die Einfluss auf Gewässer haben
könnten. Und das sind in diesem Land,
dafür reicht ein Blick in den Atlas, fast
alle. Insofern dürfte die viel beschworene
Planungssicherheit, die vor allem Politiker und Wirtschaftsverbände schon lange
vehement fordern, bald Realität werden:
Zwar werden sie die erhofften Freibriefe
für planerische Skrupellosigkeit nicht bekommen – dafür werden dann alle Projektentwickler und Planer genau wissen,
was sie besser gar nicht erst versuchen
sollten. Die Pläne für die Vertiefung der
Elbe und auch für die parallel betriebene
Vertiefung der Weser zeichneten sich bislang dadurch aus, dass sie das technokratisch erwünschte Maximum skizzierten,
ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt.
Das aber ist nicht durchsetzbar, urteilt
das höchste deutsche Verwaltungsgericht in letzter Instanz. Das zeigt zugleich,
dass nicht angeblich fortschrittsfeindli-
Das Urteil ist weise, weil es
Umwelt und Wirtschaft
gleichermaßen stärkt
che Umweltverbände ihnen gar nicht zustehende Rechte missbrauchen, sondern
höchste Gerichte zu dem Schluss kommen, die Naturschützer hielten sich eher
an den Geist und die Buchstaben von Gesetzen als Planungsbehörden.
Zwar dürfte demnächst die Vertiefung
der Elbe wie auch der Weser erlaubt werden – aber mit hohen ökologischen Auflagen, die nun die Naturschutzverbände
erreicht haben. Und deshalb müssen alle
Beteiligten zu der Einsicht gelangen, dass
große Infrastrukturprojekte nur noch im
Konsens zu realisieren sind. Ökonomie
durch Ökologie ist jetzt die Leitlinie. Und
nicht länger Ökonomie statt Ökologie.
Schwerpunkt SEITE 4
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
BUN DESBAN K HOLT GOLDRESERVE SCH N ELL NACH DEUTSCH LAN D
KOPFTUCHVERBOT
Reich ins Heim
Entschädigung für
abgelehnte Lehrerin
FRANKFURT/MAIN | Die Bundes-
Rücktritt: Labours linke Hoffnung
Clive Lewis Foto: picture alliance
Die Stimme
von Norwich
F
ür die Abstimmung über das
Brexit-Gesetz am Mittwochabend im britischen Unterhaus hatte sich Clive Lewis einen
Anzug angezogen und eine Krawatte umgebunden. Normalerweise trägt er Jeans und Pullover. Ob er sich für das wichtige Votum fein gemacht habe,
fragte ihn ein Tory-Abgeordneter höhnisch.
Lewis stimmte gegen den Gesetzesantrag und verstieß damit gegen den Fraktionszwang.
Er zog die Konsequenzen und
trat als Minister für Energie
und Unternehmen aus dem Labour-Schattenkabinett aus. „Als
ich zum Abgeordneten für SüdNorwich gewählt wurde“, sagte
er, „habe ich meinen Wählern
versprochen, zur Stimme von
Norwich in Westminster zu werden, und nicht zu Westminsters
Stimme in Norwich.“
Lewis wurde 1971 in London
geboren, wuchs aber in einer
Sozialbausiedlung in Northampton bei seinem alleinerziehenden Vater auf. Er studierte
Wirtschaftswissenschaften in
Bradford und wurde zum Vizepräsidenten des Nationalen Studentenrats gewählt. Nach seinem Studium arbeitete er als
Reporter für die BBC-Nachrichten. Er warf dem Sender jedoch
vor, ihn als Nachrichtensprecher abgelehnt zu haben, weil
er schwarz sei.
2006 wurde Lewis Offizier in
der Armeereserve und kämpfte
2009 drei Monate lang in Afghanistan. Im Frühjahr 2015 zog er
als Abgeordneter ins Unterhaus
ein. Seitdem gehört er zur linken Minderheit in seiner Partei
und stimmte unter anderem
gegen Atomwaffen und Studiengebühren. Er war einer der
36 Abgeordneten, die die Kandidatur des linken Veteranen Jeremy Corbyn zum Parteichef im
Herbst 2015 unterstützten.
Als nach dem Brexit-Referendum im Juni vorigen Jahres
60 Abgeordnete aus Corbyns
Team zurücktraten, wurde Lewis verteidigungspolitischer
Sprecher im Schattenkabinett.
Seit Oktober war er für Energie
und Unternehmen zuständig.
Lewis bezeichnet sich als
„stolzen Sozialisten“, er gilt als
große Hoffnung des linken Parteiflügels, weil er im Gegensatz
zu Corbyn auch einen Draht zu
den gemäßigt linken Abgeordneten hat. Deshalb sehen viele
in ihm bereits Corbyns Nachfolger. So weit ist es jedoch noch
RALF SOTSCHECK
lange nicht. Ausland SEITE 10
TRUMPLAND
Die ersten 100 Tage.
Dorothea Hahn,
taz-Korrespondentin
in den USA, über den
Alltag unter Trump
blogs.taz.de
Der Tag
FREITAG, 10. FEBRUAR 2017
bank lagert schneller als geplant
ihre Goldreserven, die jahrzehntelang in New York, Paris und
London aufbewahrt wurden,
nach Frankfurt um. 216 Tonnen
Gold waren es allein im vergangenen Jahr. Dort lagern nun
1.619 Tonnen oder 47,9 Prozent
des Edelmetalls.
Nach öffentlichem Druck
hatte die Bundesbank vor vier
Jahren das Ziel ausgegeben, bis
spätestens Ende 2020 mindestens die Hälfte der deutschen
Goldreserven in eigenen Tresoren im Inland aufzubewahren.
Doch die Verlagerung geht deut-
lich schneller als geplant. „Mehr
als drei Jahre vor dem Termin
wird sie in diesem Jahr umgesetzt“, berichtet BundesbankVorstand Carl-Ludwig Thiele.
Während des Kalten Kriegs
war es durchaus gewollt, deutsches Gold „westlich des Rheins“
und möglichst weit außerhalb
der Landesgrenzen zu verwahren – als möglichen Puffer für
Währungskrisen. 2012 monierte
der Bundesrechnungshof, die
Bundesbank habe die Goldreserven jenseits der Landesgrenzen noch nie „körperlich aufgenommen und auf Echtheit und
Gewicht“ geprüft. (dpa)
BERLIN | Das Landesarbeitsge-
richt Berlin-Brandenburg hat
einer abgelehnten Lehrerin
mit Kopftuch eine Entschädigung von 8.680 Euro zugesprochen. Damit war die Berufung
der Bewerberin am Donnerstag erfolgreich. Die Frau sei benachteiligt worden, sagte Richterin Renate Schaude. Von ihr
wäre keine konkrete Gefährdung des Schulfriedens ausgegangen, ihre Benachteiligung
sei unzulässig gewesen. Das Berliner Neutralitätsgesetz sei aber
noch verfassungskonform, so
das Gericht. (dpa)
TAZ-N EWSLET TER
Sie wol­len heute schon wis­sen,
was mor­gen in der taz steht?
Dann ist unser täg­li­cher News­
letter, der am frü­hen Abend einen
ers­ten Aus­blick lie­fert, genau das
Rich­ti­ge für Sie. An­mel­dung unter
taz.de/heute.
Die taz
von mor­gen
www.taz.de
Angst und Schrecken verbreitet
GEWALT Gericht verurteilt Nauener NPD-Mann zu langer Haftstrafe für Brandstiftung an
einer Flüchtlingsunterkunft. Den Vorwurf der kriminellen Vereinigung aber lässt es fallen
AUS POTSDAM KONRAD LITSCHKO
Auch am Ende grinst Maik
Schneider noch. Zu acht Jahren
Haft wegen schwerer Brandstiftung verurteilt am Donnerstag
Richter Theodor Horstkötter
den NPD-Mann. Hinzu kommen anderthalb Jahre für eine
frühere Straftat, das Schmieren
von Hakenkreuzen. Und Horstkötter verliert deutliche Worte.
Schneider und seine Mittäter
hätten eine „Verachtung der
Rechtsordnung und derjenigen,
die hier Asyl suchen, bewiesen“.
Sie hätten versucht, „Angst und
Schrecken zu verbreiten“ und
ersten Artikel des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist
unantastbar. „Man kann das in
diesen Tagen gar nicht oft genug
wiederholen.“ In der Verhandlung sei es um „Grundfesten unseres Zusammenlebens“ gegangen, so Horstkötter. Diese hätten
Schneider und seine Leute konterkariert: Die Unterkunft sollte
den Flüchtlingen Schutz gewähren. „Mit der Brandstiftung aber
wurde das Zeichen gesetzt: ‚Hier
ist kein Platz für euch. Ihr könnt
hier nicht in Frieden leben.‘“
Für Horstkötter ist klar, wer
der Hauptverantwortliche war:
Maik Schneider. Er sei der „Ma-
Brand gelegt, behauptete der
NPD-Mann.
Richter Horstkötter urteilt
hingenen, die Verurteilten seien
„höchst professionell“ vorgegangen. Wiederholt hätten sich
die Verurteilten bestärkt: „Die
Halle muss brennen.“ Die eingesetzten Brandmittel seien „geradezu prädestiniert“ gewesen,
ein großes Feuer zu entfachen.
Den ursprünglichen Vorwurf
der Bildung einer kriminellen
Vereinigung hatten Staatsanwaltschaft und Gericht fallen
lassen – aus „prozessökonomischen Gründen“. Hörstkötter
verteidigt den Schritt: Dies sei
bis nach Ungarn – und wurde
bereits vor zwölf Jahren verurteilt: als Mitglied der rechtsterroristischen Vereinigung „Freikorps Havelland“.
Die Nauener Linken-Abgeordnete Andrea Johlige, deren
Büro angegriffen wurde, bedauert den Rückzieher der Staatsanwaltschaft. „Es wurde die Chance
vertan, das Umfeld und die politischen Hintergründe der Tat
vollständig aufzuklären.“ Die
Angeklagten hätten „natürlich
genau gewusst, was sie taten“.
Auf die NPD wirft das Urteil
auch so ein bezeichnendes Licht.
Der Verfassungsschutz hatte der
„Prädestiniert für ein großes Feuer“: die ausgebrannte Turnhalle in Nauen am Morgen des 25. August 2015 Foto: Christian Pörschmann/dpa
sich „Selbstjustiz angemaßt“.
Damit fällt das Landgericht Potsdam die härteste Strafe für eine
Brandstiftung an einer Flüchtlingsunterkunft in jüngster Zeit.
Im August 2015 hatte Schneider, bis zu seiner Verhaftung
NPD-Stadtverordneter im brandenburgischen Nauen, mit fünf
Kumpanen die örtliche Turnhalle angezündet, die als Flüchtlingsunterkunft hergerichtet
wurde. Nur eine Ruine blieb und
3,5 Millionen Euro Schaden. Zuvor schon hatte die Gruppe eine
Sitzung des Stadtparlaments gesprengt, das örtliche Büro der
Linken attackiert, das Auto eines Polen angezündet und einen Sprengsatz vor einem Supermarkt gezündet.
Der Richter zitiert gleich zu
Beginn seines Urteilsspruch den
cher“ in der Planung für den
Brandanschlag gewesen, er habe
am Ende die vor der Turnhalle
angehäuften Reifen, Paletten
und die Gasflasche entzündet.
Mit seinem Strafmaß folgt
das Gericht weitgehend der
Staatsanwaltschaft, die knapp
neun Jahre Haft für Schneider
gefordert hatte. Dessen Mittäter
bekommen Freiheitsstrafen von
acht Monaten bis sieben Jahren.
Schneider verfolgt das Urteil
erst konsterniert, später teils
kopfschüttelnd oder grinsend.
Schon die vorherige Verhandlung hatte der NPD-Mann zeitweilig ins Absurde gesteuert.
Der 29-Jährige gab sich betont
unbeschwert, versuchte Mitangeklagte unter Druck zu setzen
und lieferte lange, krude Einlassungen. Er allein habe den
Die Verurteilten seien
„höchst professionell“ vorgegangen,
sagt der Richter
„keine Kapitulation“ gewesen.
Eine feste Gruppenstruktur
wäre schwer nachweisbar gewesen, der Strafrahmen ohnehin hoch gewesen.
Auch die Angeklagten hatten sich bemüht, sich als unpolitisch darzustellen. Ihre Tatbeteiligung schrieben sie ihrem Alkoholkonsum oder Schneiders
Überredungstalent zu. Nur: Fast
alle der Angeklagten waren regelmäßige Teilnehmer an AntiAsyl-Protesten. Einer reiste für
einen Neonazi-Aufmarsch gar
Neonazi-Partei wiederholt vorgeworfen, Anti-Asyl-Proteste zu
befeuern. In Nauen nun ging
ein Parteifunktionär weiter: Er
wurde selbst zum Brandstifter.
Man habe Schneider schon vor
Wochen aus der Partei geworfen,
behauptet am Donnerstag Brandenburgs NPD-Sprecher Florian
Stein. Weil er in Haft keine Mitgliedsbeiträge zahlte. Jetzt, nach
dem Urteil, hätte man Schneider
auch so ausgeschlossen. „Wir distanzieren uns von solchen Taten.“
Im Gericht sitzt indes auch
Frank Kittler. Der Nauener war
im November aus der NPD ausgetreten. Auch weil, wie Kittler
sagt, sich die Partei nie glaubwürdig von dem Nauener
Brandanschlag losgesagt habe.
„Das hat mich schockiert.“
„VERSEH EN“ I N SYRI EN
Russland tötet
türkische Soldaten
ISTANBUL | Die russische Luft-
waffe hat nach Angaben der türkischen Armee in Nordsyrien
„versehentlich“ ein Gebäude
mit türkischen Soldaten angegriffen und drei von ihnen getötet. Der Luftschlag vom Donnerstag habe eigentlich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
gegolten, teilten die türkischen
Streitkräfte mit. Elf türkische
Soldaten seien verwundet worden, einer davon schwer. Russlands Präsident Wladimir Putin
habe seinem türkischen Amtskollegen Erdogan seine Trauer
zum Ausdruck gebracht. (dpa)
Auf dem
rechten Auge
wachsam
Angriffe auf
Flüchtlingsheime
werden hart bestraft
URTEILE
POTSDAM taz | Die Worte waren
deutlich. „Was Sie gemacht haben, ist nichts anderes als ein
gemeiner Terrorismus“, sagte
im März 2016 der Richter am
Landgericht Hannover. Die drei
Angeklagten hatten zuvor einen
Brandsatz in ein Schlafzimmer
einer Flüchtlingsunterkunft in
Salzhemmendorf (Niedersachsen) geworfen. Nur durch Zufall übernachtete das dort wohnhafte Kind in der Tatnacht bei
ihrer Mutter. Die Antwort des
Gerichts: Haftstrafen bis zu
acht Jahren, wegen versuchten
Mordes.
Das Urteil war das härteste für
einen Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft in jüngerer Zeit.
Aber auch an anderer Stelle griffen Gerichte zuletzt gegen die
Anti-Asyl-Brandstifter durch.
Sechs Jahre Haft verhängten sie
für einen Feuerwehrmann, der
auf einem Dachboden einer bewohnten Unterkunft in Altena
im Sauerland Feuer gelegt hatte.
Fünf Jahre Haft gab es für zwei
Männer, die ein Heim in Groß
Lüsewitz bei Rostock attackierten, vier Jahre Haft für Brandstifter im sächsischen Meißen.
Die Welle der Gewalt gegen
Flüchtlinge hatte im vergangenen Jahr fast konstant angehalten. 988 Straftaten gegen Asylunterkünfte zählte das
Bundeskriminalamt,
davon
74 Brandstiftungen. Ein Jahr zuvor waren es 1.031 Straftaten, darunter 94 Brandstiftungen.
Die Gewalt setzt sich auch in
diesem Jahr fort. Das BKA notierte seit Jahresbeginn erneut
22 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte. Zuletzt brannte es
am Wochenende an der Fassade
eines Heims im münsterländischen Drensteinfurt. Größerer
Schaden blieb aus, die Täter sind
flüchtig. Die Polizei geht von einer vorsätzlichen Tat aus.
Nach einem Brandanschlag
auf eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge in Jüterbog (Brandenburg) setzte die
Staatsanwaltschaft auch hier
auf Härte: Sie ließ vergangene
Woche einen 20-jährigen Tatverdächtigen festnehmen. Neben Brandstiftung erkannte
das Landgericht nun auch den
Vorwurf des versuchten Mor­
des an.
Und in Dresden beginnt Anfang März ein Großprozess nach
einer Reihe von Gewaltserie in
gegen Flüchtlinge und LinkenPolitiker in Freital. Die Anklage
der Bundesanwaltschaft lautet:
Terrorismus. KONRAD LITSCHKO
Schwerpunkt
Politik und Alltag
FREITAG, 10. FEBRUAR 2017
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Was hat Verbraucherschutz mit politischer Orientierung zu tun?
Wen wählt man, wenn man sich sicher fühlt? Und wenn nicht?
INTERVIEW BARBARA JUNGE
UND JAN FEDDERSEN
taz: Herr Müller, Sie sind als
Ansprechpartner für die Verbraucher so nah wie wenige andere an den Unzufriedenheiten
der Bevölkerung dran. Woher
kommt denn das Misstrauen,
das derzeit an so vielen Orten
und in so vielen Debatten anzutreffen ist?
Klaus Müller: Ich glaube, die
Unzufriedenheit, die wir auch
bei Verbrauchern feststellen,
liegt zum einen darin, dass die
Vielfalt der Angebote inzwi­
schen so groß ist, dass das bei
vielen Menschen nicht nur Kon­
sumfreude, sondern auch ein
Ohnmachtsgefühl auslöst. Die
Globalisierung hat große Vor­
teile, sie hat aber auch gravie­
rende Nachteile. Wir beobachten
das Gefühl, der Einzelne sei un­
wichtig geworden. Es gibt es ja
die Tendenz bei Anbietern, ihre
Bestandskunden, die früher ge­
hegt und gepflegt wurden, etwa
von Energieversorgern, Telefon­
anbietern oder Banken, nicht
mehr so intensiv zu binden.
Menschen machen eine Erfah­
rung der Unwichtigkeit.
Und übertragen die Menschen
dieses Ohnmachtsgefühl des
Kunden auf ein Ohnmachtsgefühl des Bürgers?
Ja, dafür gibt es viele Indizien.
In einer aktuellen Befragung
von Verbrauchern hat der Ver­
braucherzentrale Bundesver­
band eine Reihe von Indikato­
ren dafür, dass sich Menschen
– auch abhängig von ihrer par­
teipolitischen Präferenz – unter­
schiedlich gut geschützt fühlen.
Mit Politik werde ich möglicher­
weise aber nur punktuell kon­
frontiert, wenn ich die Zeitung
lese, wenn ich mal Radio höre.
Aber meine Konsumerfahrung
ist etwas Grundlegendes, und
da gibt es Unterschiede in den
Wahrnehmungen und Meinun­
gen. Wir haben die ganz klassi­
sche Frage gestellt: Wie gut, mei­
nen Sie, sind Ihre Interessen als
Verbraucher geschützt? Da se­
hen wir, dass es den Menschen,
die der Sozialdemokratie zu­
neigen, zu 72 Prozent gut geht,
bei den Christdemokrat sind es
noch knapp zwei Drittel, bei den
Grünen noch deutlich über die
Hälfte. Bei der AfD oder den Lin­
ken sinkt der Wert unter 30 Pro­
zent.
Jetzt könnten wir lange darü­
ber diskutieren – Henne oder Ei?
Aber ich kann feststellen: Men­
schen, die ihre Konsumwelt so
erleben, die sich nicht ernst ge­
nommen fühlen, nicht gewert­
schätzt, die sogar erleben, dass
der Umgang nicht ehrlich und
auf Augenhöhe ist, die sind ent­
täuscht und neigen im Ergebnis
offenbar auch zu spezifischen
politischen Ansichten.
Zum Beispiel?
Uns haben die großen Märkte
des Verbraucherschutzes inter­
essiert, also Tourismus, Energie,
Lebensmittel, Gesundheit, Inter­
net. Es fällt auf, dass sich AfDWähler, außer beim Thema In­
ternet und Telefon, durchgängig
am wenigsten geschützt fühlen.
Für die Linken gilt das ganz ein­
deutig für den Finanzmarkt, sie
fühlen sich in diesem Bereich
am wenigsten geschützt.
Manche Menschen waren bei
Bankgeschäften und bestimmten Kaufentscheidungen schon
immer unsicher. Wie kommt es
eigentlich jetzt zur Erschütterung des Vertrauens? Warum
glaubt jetzt plötzlich alle Welt,
überrumpelt zu werden?
Lebensmittel zu kaufen ist doch
eigentlich was Tolles. Was gibt
„Da läuft was schief“
ZUSAMMENHÄNGE Wer sich unsicher und getäuscht fühlt, wählt eher Parteien an den
Rändern. Verbraucherschützer Klaus Müller über Konsum, Vertrauen und Politik
Wie kann man Verbraucher fit machen, sie unterstützen und ihnen das Leben leichter machen? Auf jeden Fall wär’s gut, früh anzufangen Foto: Frank Muckenheim/plainpicture
es Schöneres als Essen? Sich im
Bereich von Kommunikation
zu tummeln, ist ein urmensch­
liches Bedürfnis. Wir wären arm
dran, wenn es anders wäre. Wir
haben doch alle schon in alltags­
relevanten Angeboten, Kaufent­
scheidungen Enttäuschungen
erlebt. Und genau das ist ein
Nährboden für einen diffusen
Vertrauensverlust. Aber es wäre
vollkommen falsch, uns „arme“
Verbraucher nur als Opfer dar­
zustellen. Die Kehrseite der Me­
daille ist, dass Lebensmittel in
der Vergangenheit ten­
denziell
immer
preiswerter wur­
den. Und dann
wundern wir
uns, warum
bestimmte
Lebensmittel
nicht mehr die
Qualität haben,
die sie früher
hatten?
Wenn ich nicht mehr genau
weiß, woher ein Stück Fleisch
kommt, verliere ich den Glauben an die Demokratie?
Der Brückenschlag wäre mir
noch einen Tick zu weit. Aber ich
spüre eine Enttäuschung. Wenn
der Preis nicht mehr sagt: billig
ist schlecht, teurer ist sehr viel
besser – dann ist ein Nährboden
für Verunsicherung da.
Jetzt war Ihnen mein Schritt zu
mutig, aber Ihre Aussage war
nun sehr wenig mutig. Sie haben gesagt: Es gibt eine Linie
zwischen Sicherheit und gutem Verbraucherschutz. Wie
sieht diese Linie aus?
Die Zahlen belegen durchaus
einen Zusammenhang zwi­
schen Menschen, die bestimm­
ten Parteien zuneigen, und ih­
rem Unsicherheitsgefühl im
Verbraucheralltag. Unsere ös­
terreichischen
Verbraucher­
schutzkollegen haben mit der
FPÖ schon jahrelange Erfah­
rungen. Auch sie berichten,
dass rechtsnationale, rechts­
konservative Parteien diese Un­
sicherheiten, die ich im Finanz­
markt, im Digitalen, im Lebens­
mittelbereich feststellen kann,
aufgreifen – ich würde sagen:
instrumentalisieren. Die tradi­
tionellen Parteien haben das
Thema Verbraucherschutz nicht
immer ernst genug genommen.
Verbraucher brauchen Orientie­
rung, Informationen, Transpa­
renz und, ja, auch Schutz. Das
müssen wir und auch die Poli­
tik doch zur Kenntnis
nehmen. Anders­
herum kann die
Politik gerade
mit Blick auf
die nächsten
Wahlen dar­
aus einen An­
sporn ableiten:
Wie kann ich Ver­
braucher fit machen,
sie unterstützen und ihnen
das Leben leichter machen?
Warum antworten links eingestellte Verbraucher und AfDAnhänger in Ihren Umfragen
bisweilen beinahe mit ähnlichen verunsicherten Argumenten?
Es gibt im Wesentlichen drei
Gruppen von Verbrauchern: Es
gibt die verantwortungsbewuss­
ten Verbraucher, die versuchen
vieles richtig zu machen, die zu­
gleich eigenständig und innova­
tiv sind. Die große Gruppe bil­
den die vertrauenden Verbrau­
cher. Diese Menschen glauben,
der Markt sei schon in Ordnung.
Und es gibt die verletzlichen
Verbraucher. Da ist der Geld­
beutel vielleicht etwas knap­
per ausgestattet und es macht
einen Unterschied, ob das Konto
kostenlos ist oder es fünf Euro
im Monat kostet. Wir finden bei
den Linken viele verletzliche
Verbraucher. Das wäre meine
Erklärung, warum Wähler, die
der Linken zuneigen, diese Ent­
täuschung spüren. Während es
bei den AfD-Wählern, wenn man
den bisherigen Untersuchun­
gen glauben kann, weniger ein
ökonomisches Problem ist. Der
Vertrauensverdruss ist hier eine
Staatsenttäuschung, eine durch­
aus auch angefeuerte Elitenent­
täuschung, ein ganz grundsätz­
liches Misstrauen in die Welt
und die Entwicklungen, deren
Geschwindigkeit als bedrohlich
dargestellt wird.
Wie setzen sich die Vertrauenswerte in Politik um?
Verbraucher und Wähler sind ja
keine zweigeteilten Wesen. Ein
Beispiel dafür sehen wir im Be­
reich Energie: Die AfD-nahen
Befragten sind signifikant hö­
her (88 Prozent) dafür, dass „Ver­
braucher von steigenden Ener­
giekosten entlastet werden sol­
len“, als andere Verbraucher. Das
korrespondiert mit Klimaskep­
sis und der Ablehnung der Ener­
giewende. Was heißt das für die
demokratischen Parteien? Sie
müssen ausgleichende Lösun­
gen finden, diese gut kommuni­
zieren und den Glauben stärken,
dass gute Politik etwas mit Ge­
rechtigkeit, sozialem Ausgleich
und dem Schutz der Menschen
zu tun hat. Wenn man alle Men­
schen, insbesondere aber die,
die sich von der AfD-angezogen
fühlen, erreichen will …
… Gehört die AfD nicht zum demokratischen Spektrum?
Diese Debatte muss geführt wer­
den, das ist aber nicht das pri­
märe Anliegen des Verbraucher­
schutzes. Ich wünsche mir, dass
Menschen sich in ihrem Kon­
sum­alltag sicher fühlen. Und ich
erwarte von der Politik, dass sie
dafür den Rahmen setzt. Wenn
ich sehe, dass sich Anhänger von
CDU, SPD, Grünen alles in allem
in vielen Bereichen des Verbrau­
cheralltages deutlich sicherer
fühlen als Anhänger von Linken
oder auch der AfD, dann muss
ich doch darüber nachdenken.
Mein Anspruch wäre es, zu sa­
gen: Liebe Politik, bei euch läuft
etwas schief. Ihr müsst bei euch
etwas ändern, damit es auch die­
sen Menschen – mindestens ge­
fühlt, aber auch objektiv besser
und sicherer geht.
Angesichts der großen Nervosität in unserer Gesellschaft
wird immer wieder diskutiert:
Ist das ein materielles oder ein
kulturelles Phänomen?
Ich will nicht den Eindruck er­
zeugen, dass der Verbraucher­
schutz das Allheilmittel wäre.
Für einen Teil der Gesellschaft
ist aber tatsächlich die unglei­
che Ressourcen- bzw. Kosten­
verteilung ihr primäres Pro­
blem. Schauen Sie auf den Fi­
nanzbereich: Die Zahlen der
Bankinstitute, die kostenlose
Girokonten anbieten, sinkt von
Monat zu Monat. Andere Bevöl­
kerungsgruppen hadern mit der
Geschwindigkeit, Vielfalt, Kom­
plexität, mit der sich Dinge ver­
ändern. Da gibt es eine Über­
forderung. Die Politik muss
Rahmen so setzen, dass für Men­
schen das Leben leichter wird,
der Konsumalltag sie nicht
überfordert. Und ich bin über­
zeugt davon, dass das möglich ist.
Nehmen Sie das Beispiel der Ries­
ter-Reform: Wurde mit diesem
Angebot der zusätzlichen pri­
vaten Altersvorsorge Leben der
Menschen sicherer, können sie
wirklich beruhigter in die Zu­
kunft schauen? Ich fürchte, nein.
Die Welt ist zu komplex geworden, und dann hat die Partei Erfolg, die sagt: Es gibt nur noch
die Ehe zwischen Mann und
Frau, nur Fleisch oder Fisch?
Sie übertreiben. Aber ja, es be­
steht die Gefahr, dass eine Partei
den Unmut der Verbraucher, die
Unzufriedenheit im Konsumall­
tag auf ihre politischen Mühlen
lenkt und damit erfolgreich ist.
Der Bogen ist vielleicht ein we­
nig gewagt; aber wenn ich mir
die aktuellen Aussagen von Do­
nald Trump anschaue, dann
sieht man ja, dass ein solches
Konzept Erfolg hat. Und das
macht mir große Sorge. Ich ap­
pelliere hier an die, die Verant­
wortung tragen, diese sehr, sehr
ernst zu nehmen.
Nun kann man von den Parteien schlecht verlangen: Lüge
doch ein bisschen, dann fühlen
sich die Leute sicherer.
Wie bitte? Nein! Ganz im Ge­
genteil. Ich denke, drei Dinge
sind notwendig. Es braucht be­
stimmte gesetzliche Standards.
Es gehört Mut dazu, den Markt
zu regulieren. Zweitens kann
man Vielfalt am Markt nicht zu­
rückdrängen und sollte es auch
nicht. Aber man muss gute In­
formationen von vertrauens­
würdigen Absendern dagegen­
stellen. Und drittens helfen Vor­
einstellungen (Standardpakete)
bei allen möglichen Produkten,
zum Beispiel bei der Altersvor­
sorge oder auch beim Daten­
schutz. Damit könnte man die
Menschen wieder da abholen,
wo sie sind, und ihnen wieder
ein Stück Sicherheit zurückge­
ben. Die Konsumentscheidung
kommt nun einmal viel häufi­
ger vor als ein Aufeinandertref­
fen mit Frau Merkel oder nun­
mehr Martin Schulz.
Klaus Müller
■■45, Vorstand des Verbraucher-
zentrale Bundesverbands (vzbv).
Er leitete 2006 bis 2014 die
Verbraucherzentrale von NRW.
Davor war er seit 2000 grüner
Umweltminister
in SchleswigHolstein – als
jüngster Landesminister.
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