bei Patienten mit Thoraxschmerzen

Smarter Medicine "Choosing wisely" bei
Patienten mit Thoraxschmerzen
Dr. med. Esther Hindermann, FMH Innere Medizin, Fachärztin
Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM
Die Slogans
​"Smarter Medicine" (www.smartermedicine.ch)
​ESCIM Genf 2014
​Healthier Medicine SGIM Basel 2015
​"Choosing wisely" (www.choosingwisely.org)
​ABIM Fundation
​"Less is more" (Archives of Internal Medicine)
​" Do not do" recommondations 2013 (www.nice.org.uk)
​NICE (National Institute of Health and Clinical Excellence)
​"Primum NIHIL nocere" (Scribonius Largus 50 n. Chr., Rom)
​Hippokratische Tradition
2. Das Problem
​
​Ein Teil der Gesundheitskosten wird ausgegeben für Untersuchungen
und Behandlungen, die nicht zur Verbesserung der Prognose der
Patienten führen, sondern teilweise auch zu Verschlechterungen.
Überdiagnostik und Überversorgung
3. Mögliche Verbesserungen
• Erarbeitung von Guidelines
 auf einheitlich international anerkannten Qualitätskriterien
und verlässlichen Studiendaten beruhend
 finanziell und personell aufwendig
 Implementierung schwierig
 insbesondere bei Multimorbidität (Hostettler SAeZ 2014)
• Gemeinsame Entscheidungsfindung
4. Was wird in der Schweiz schon gemacht?
• Schweizerische Gesellschaft für Innere Medizin "Smarter Medicine"
• Definition von 5 Interventionen in der ambulanten allgemeinen inneren
Medizin (2014):
1. Keine bildgebende Diagnostik in den ersten 6 Wochen bei
unspezifischer Lumbalgie "ohne Red Flags"
2. PSA Bestimmung (Screening für Prostata-Ca) ohne vorherige
Diskussion von Risiko und Nutzen mit dem Patienten
3. Keine AB bei unkomplizierten Infekten der oberen Luftwege
4. Kein praeoperatives Thoraxbild ohne Verdacht auf intrathorakale
Pathologie und bei Patienten > 70 jährig mit vorbestehender
Lungenerkrankung
5. Langzeittherapie von gastrointestinalen Symptomen mit ProtonenPumpenblockern ohne Reduktion auf die tiefste wirksame Dosis
Epidemiologie
​Nicht spezifische funktionelle / somatoforme Körperbeschwerden sind
häufig:
​4-10%
der Bevölkerung
​20%
in der hausärztlichen Praxis
​Bis 50%
in spezialärztlichem Setting, z.B.
​
Spitalambulanzen (z.B. für Gastroenterologie)
​Bis 70%
in der psychosomatischen / psychiatrischen / psychotherap.
Versorgung
​
​♀:♂
1,5-3 : 1
​Non Cardiac Chest Pain

unspezifische Thoraxschmerzen sind in der Allgemeinbevölkerung
häufig
 Häufigkeit:
​
(Eslick 2013)
1000 Fragbögen
​
N = 672
​
- bei 39% Thoraxschmerzen bekannt
​
- bei 33% (N=219) Non Cardiac Chest Pain
 Ursachen: heterogen:
​
schlecht
- gastrointestinal
​
erforscht
- muskuloskeletal
​
- psychiatrisch
​
- noch nicht bekannte CHK
 Kosten: USA: 8 Mia. US$ / Jahr für Spitalbehandlung
Ursachen für Brustschmerzen: Vergleich der
Häufigkeit in der ärztlichen Praxis mit der Notfallstation.
Ärztliche Praxis
Notfallstation
Herzkrankheiten gesamt
ca. 15%
ca. 50%
​Instabile Angina pectoris,
Myokardinfarkt
ca. 2%
30–40%
​Gastroösophageale
Erkrankungen
10–19%
2–20%
​Muskuloskelettale
Pathologie
29–36%
7–15%
​Funktionell, psychosomatisch 8–17%
ca. 9%
​Unbekannt, keine Diagnose
ca. 12%
2–80%
Schweiz Med Forum 2005;5;51-58
8
Thoraxschmerz
• Zweithäufigste Ursache für Konsultation auf Notfallstation
• > 8 Mio. Visits / Jahr USA
• 360.000 / Jahr GB und Wales
• Kosten: > 7 Mia. $ / Jahr
• Anteil der Patienten mit ACS 26%
13%
• 1.5% der Patienten mit ACS haben normale Befunde
Hess et al 2016
9
Fallbericht aus den USA
​52 jährige Krankenschwester mit Thoraxschmerzen, die bei der
Palpation reproduziert werden können
• kardiologische Abklärung
• Herz-CT
• Coronarangiographie
Verletzung eines Gefässes
Herztransplantation
​
Arch. Int. Med. 2011 171 (7) 698-701
Warum gibt es Überdiagnostik/therapie bei
Patienten mit funktionellen somatoformen
Störungen
Arzt-bedingt
Patienten-bedingt
körperliche Symptome/
Krankheitskonzept
++
+++
einseitige Suche nach
somatischer Ursache
++
+++
wiederholte
Untersuchungen
++
++
Angst, eine ernsthafte
körperl.
Krankheit zu verpassen
+++
+++
Wunsch des Patienten
++
Ablehnung einer psych.
Erkrankung
++
11
Arzt-bedingt
Patienten-bedingt
NW / Komplikationen
von
Untersuchungen werden
zu wenig berücksichtigt
(unklare Resultate)
+++
+
Bagatellbefunde werden
überbewertet
++
++
keine/ zu späte
Überweisung an
Psychosomatiker
++
wenig Erfahrung/
Interesse im
Umgang mit
funktionellen Störungen
+++
12
Fragen, die vor Überdiagnostik schützen
​
1. Ist diese Untersuchung schon gemacht worden?
Falls ja
​2. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Wiederholung neue
Erkenntnisse bringt?
​3. Hat das Resultat einen Einfluss auf das weitere Vorgehen beim
Patienten?
​4. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines falsch positiven
Resultates?
5. Welche negativen Folgen könnte das haben?
SMF 2013 13
(10) 196 N. Rodondi
1. Der Fall: Pat. H. H. *1973 ♂
• 2013 Brustschmerzen im Sternumbereich, ausschliesslich in Ruhe, keine
Risikofaktoren, kardiale Abklärung, einschliesslich Koronarangiographie: ᴓ CHK
​
• 04/14 unregelmässiger Puls und Brustschmerzen
​
​
- EKG (harmlose) VES/SVES
- Dg.: Non Cardiac Chest Pain
- Persistenz
• 12/14 Kardio-MRI: "global leicht eingeschränkte rechtventr. Funktion"
• 03/15 2. Koronarangiographie: unauffällig
• 03/15 Psychosomatische Abklärung
​
​
​
​
• 04/15 Notfalluntersuchung Kantonsspital wegen anhaltendem, starkem Druck
parietal rechts mit blitzartig ausstrahlenden Attacken
- CT Schädel: normal
- EEG: normal
- Neurostatus: normal
- Dg.: Migräne
- Th.: Mg. und Pregabalin 25mg
2. Die Hintergründe
• aufgewachsen in ländlichen Verhältnissen als ältester von 3
Geschwistern auf einem Bauernhof
• Vater arbeitete hart, Patient musste früh viel mitarbeiten (keine Zeit zum
Spielen), Vater immer noch (!) sehr leistungsfähig
• Lehre als Elektriker, weiterhin viel Mitarbeit auf dem Bauernhof
• Heirat, 2003 und 2007 2 Töchter
• 2005 Wechsel in die Schweiz, Schichtarbeit, Bau eines
Einfamilienhauses
• zunehmender Ehekonflikt
• 2011 Trennung / Scheidung
• 2011 stationäre Therapie in psychosomatischer Klinik, damals schon
Thoraxschmerzen
• exzessives Training im Fitnesszentrum 5-6x/Woche
• neue Partnerschaft
3. Psychosomatische Diagnosen
• Non Cardiac Chest Pain, multifaktoriell bedingt ICD-10 F45.3
​
mit / bei
-
vegetativer Dysregulation
-
erhöhter innerer Anspannung
-
muskulärer Anspannung
• leistungsorientierte Persönlichkeitszüge ICD-10 Z73
• subjektive Krankheitstheorie: "Ich bin stark, ich leide nicht an einer
psychosomatischen / psychischen Störung, es muss eine körperliche
Krankheit sein (eingeklemmter Nerv)."
4. Gemeinsames Krankheitskonzept
• Thoraxschmerzen multifaktoriell bedingt
• muskulär (exzessives Fitnesstraining)
• Leistungsorientierung, hohe Ansprüche an sich selbst
• Dysregulation des vegetativen Nervensystems (Schichtarbeit)
• erhöhte innere Anspannung (Stress durch Trennung / Scheidung,
anhaltender Konflikt mit der Ex-Frau)
5. Die Therapie
• Gesprächstherapie: 1 Gespräch alle 6-8 Wochen (keine Zeit)
• sokratischer Dialog
• Psychoedukation: vegetatives Nervensystem, Affekte
• Entspannungsübungen (Instruktion und Üben)
​weitere Massnahmen:
• Massage 1x / Woche
• Strukturierung des Fitnesstrainings (max. 2-3x / Woche), an den
anderen Tagen: Spaziergang mit Freundin
• Selbstbeobachtung (innere Anspannung wahrnehmen)
• Entspannungsübung 1x / Tag
Was kann der Kardiologe / Notfallmediziner
mit diesen Patienten tun?
• Usual Care: Arztzentuierte Entscheidungen
• Shared decision making:
Orientierung des Patienten über sein individuelles Risiko eines
ACS
gemeinsame Entscheidungsfindung
(Hess et al 2016)
19
Was bringt die gemeinsame
Entscheidungsfindung?
​451 / 898 Patienten > 17 jährig
​Alter ᴓ 50,3 Jahre
​♀ 60% ♂ 40%
Patienten mit gemeinsamer Entscheidungsfindung:
• wissen besser Bescheid über ihr Risiko und Behandlungsmöglichkeiten
• haben weniger intensive kardiologische Abklärungen:
• Abklärungen wurden häufiger ambulant durchgeführt (37% vs. 52%)
• Patienten sind mehr involviert und zufriedener, Ärzte sind zufriedener,
weniger Konflikte
• keine major adverse cardiac events in beiden Gruppe
(Hess et al 2016)
20
Was kann der Allgemeininternist/in in der
Praxis mit diesem Patienten tun?
• Anamnese, Anamnese, Anamnese…
• gründliche körperliche Untersuchung (den Patienten berühren)
• Krankheitskonzept des Patienten erfragen
• Veranlassung der erforderlichen Abklärungen (Choose wisely!)
• frühere Akten einholen
• gemeinsames Krankheitskonzept entwickeln
• Massnahmenplan erstellen, Psychoedukation
• wenn Störungsbild persistiert / Leidensdruck gross / weitere
Abklärungen erwünscht werden:
Überweisung an einen Arzt für
Psychosomatische Medizin (= Spezialist für das vegetative
Nervensystem)
Gibt es Guidelines für funktionelle
Störungen / Non Cardiac Chest Pain?
​In der Schweiz nicht ….
​aber neuer Ansatz: gemeinsame Entscheidungsfindung?
E. Hess et al 2016
30 Fachgesellschaften
und Verbände beteiligt
Therapeutische Strategien für die Behandlung
funktioneller / somatoformer Störungen
1. Empathische, gelassene, symptomorientierte Grundhaltung
2. Aktives, interessiertes Zuhören, den Patienten ernst nehmen
3. Grundsätzlich körperliche Untersuchung / Abklärung
4. sowohl……als auch…………nicht entweder……oder
- Zuversicht vermitteln
​
- hohe Ansprüche und Erwartungen relativieren,
​
​
Vorsicht Idealisierung (!)
​
- Transparenz vermitteln
​
- psychosoziale Aspekte vorsichtig einbeziehen
​
- subjektive Krankheitstheorie erfragen, aber nicht
unkritisch übernehmen
​
- Engagement, Therapieplan erstellen
Take Home Message
​Weniger Überdiagnostik bei Patienten mit funktionellen Störungen
• vollständige Anamnese
• insbesondere Wiederholungsuntersuchungen überdenken
• an die möglichen negativen Effekte von (invasiven)
Abklärungsuntersuchungen und Therapien bei der Indikationsstellung
denken
• informed consent erwägen
​Mehr und frühere psychosomatische Abklärungen (+ Therapien)
​Choosing wisely……………………………ja immer
​Less is more………………………………..nein nicht immer
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
​Dr. med. Esther Hindermann
​Konsiliarärztin
​Klinik Barmelweid
E-Mail
[email protected]
www.barmelweid.ch