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I KULTUR · KRITIK · KONTROVERSEN I
Grafik: Jürgen Katzenberger
FEBRUAR · NR. 60 · 11.2.–10.3.2017 · www.muenchner-feuilleton.de
Vor einem Jahrzehnt war das Smartphone ein Werkzeug. Heute ist es ein Körperteil –
Alltagsbegleiter, Flirtbeschleuniger, Hirnersatz. Eine sagenhafte Karriere voller Chancen und Fallgruben.
SARAH DIEFENBACH
Nicht der Hund, nicht der Partner: Das Erste
und das Letzte, was wir am Tag berühren, ist
für viele Menschen das Smartphone. Das Eindringen der Technik in jeden Winkel unseres
Alltags bleibt nicht ohne Folgen für unser Miteinander: Sie prägt das Denken, die Wahrnehmung, Kommunikation, soziale Interaktion
und Rituale. Alles ist anders im Zeitalter des
Homo technologicus. Auswirkungen im kognitiven Bereich sind bereits vielfach beleuchtet:
Aufmerksamkeitsstörungen durch vermeintliches Multitasking, Leistungseinbußen durch
ständige Unterbrechungen, die Degeneration
des Orientierungssinns durch die allzeit
bereite Navigations-App. Aber auch im zwischenmenschlichen Bereich wird die Technik
zum Taktgeber. Soziale Normen, ungeschriebene Gesetze des Miteinanders, sind das, was
eine Gesellschaft zusammenhält – doch die
Technik ist rücksichtslos und hebelt diese oft
aus. Und wenn auch der Nutzer keine Sorge
trägt, ist es schnell vorbei mit den Grundgeboten des menschlichen Miteinanders.
Jeder Moment wird geteilt mit dem Smartphone. Bedrohlich liegt es auf dem Tisch, als
potenzieller Eindringling, der das Gespräch
jederzeit unterbrechen kann und dies auch
gnadenlos tut. Eingehende Nachrichten haben
den Status einer Naturgewalt, erfahren Beachtung, wie belanglos sie auch sein mögen. Der
Antwort-Reflex schlägt als Automatismus zu:
Bevor wir zu einer bewussten Entscheidung
kommen, ist das Telefonat schon angenommen, die Nachricht schon gelesen – dass unser
Gegenüber dies als Geringschätzung erachten
könnte, ist in diesem Moment gar nicht präsent. Der Moment im Jetzt wird geopfert, mein
Gegenüber sieht nur noch die Rückseite meines Smartphones. Schon bevor es überhaupt
piept, verändert das herumliegende Smartphone die Gesprächsatmosphäre negativ, wie
Studien zeigen. Vorbei ist es auch mit der Verbindlichkeit von früher. Allgegenwärtige
Gruppen-Chats via WhatsApp und Co haben
eine neue Verabredungskultur hervorgebracht.
Wer offline ist, steht am Ende unter Umständen allein am ursprünglichen Treffpunkt.
Die ständige Alarmbereitschaft, das Warten auf den nächsten »Befehl« via Smartphone,
bringt auch körperliche Symptome mit sich.
Ein typisches Leiden des Homo technologicus
sind Phantom-Vibrationen: das vermeintliche
Wahrnehmen eines Vibrationsalarms des
Smartphones, obwohl dieses tatsächlich
nichts zu verkünden hat. Wir können es
anscheinend gar nicht glauben, dass es auch
mal still sein kann und uns niemand auf der
Welt gerade etwas zu sagen hat. Davor muss
sich aber niemand fürchten: In den endlosen
Weiten des Internets, die das Smartphone uns
jederzeit eröffnet, gibt es niemals mehr Grund
zur Langeweile – auch keine Leerräume, in
denen man über bedeutsame oder gar
anstrengende Fragen über sich selbst und das
Leben stolpern könnte. Allein YouTube reicht
aus, um ein Leben komplett zu füllen. Pro
Minute kommen über 400 Stunden Videomaterial neu hinzu, über eine Milliarde Nutzer
sichern den Nachschub. Dabei ist es nicht so,
dass der Homo technologicus nur konsumiert.
Das Internet bietet zahlreiche Möglichkeiten,
kreativ tätig zu werden. Sehr ergiebig sind die
Plattformen zur Definition unseres Selbst, die
Perfektionierung des eigenen Profils bei Facebook, Instagram etc. Will man es richtig
machen, kann die Selbstdarstellung schnell
zum Fulltime-Job werden.
Was wir tun, wie wir fühlen, wie wir uns
anderen gegenüber präsentieren und verhalten, all das ist zunehmend geprägt durch die
Regeln der Technik. Fast könnte man also
behaupten, die Technik habe eine neue Spezies aus uns gemacht. Aber auch wenn eine
erhöhte Daumensensitivität im Zusammen-
hang mit intensiver Nutzung von Touchdisplays oder körperliche Syndrome wie die oben
genannten Phantom-Vibrationen feststellbar
sind, ist unser biologisches Grundprogramm
noch immer weitgehend das gleiche wie das
unserer Vorfahren. Genau deshalb kommt es
zu Komplikationen: Die Grundbedürfnisse
nach Nähe und Intimität, nach Ruhe und
Erholung, nach Selbstbestimmtheit und Autonomie sind unverändert. Doch paradoxerweise opfern wir all das nur allzu leicht,
sobald die Technik ins Spiel kommt. Wer also
dann und wann ein leichtes Unbehagen spürt,
der möge in Betracht ziehen, ob man an manchen Stellen der Evolution ein paar Schritte
zurückgehen – oder sogar ganz persönlich
eine andere Richtung einschlagen möchte. ||
IMPRESSUM SEITE 15
STADTBILD, KUNST, DESIGN SEITE 4–8
LITERATUR SEITE 11–15
BÜHNE SEITE 22–25
Mehr als Gold: Verrückte Dinosaurier,
kühn gefasste Steine und Kragenschmuck –
im März finden sich wieder Schmuckkünstler von Weltklasse in München ein.
Mann, Mann, Mann …
Die frisch sanierte Monacensia präsentiert
sich mit Ausstellungen rund um das Haus, die
Literatenfamilie Mann und mit einem Buch.
Untergangsstimmung
…herrscht auch in vielen Aufführungen.
Junge Theatermacher suchen Zukunftsperspektiven.
TANZ SEITE 9–10
FILM SEITE 17–21
MUSIK SEITE 26–31
Auch die Leuchte hat Gelenke
Tobias M. Draeger präsentiert wieder sein erfolgreiches Solo mit Lichtspender, im Muffatwerk. Ein Gespräch über das kleine Format.
Bärenauslese
Bei der 67. Berlinale treten auch Münchner
Filmemacher an. Ein vielversprechender
Beitrag ist der HFF-Film »Tara«, eine Sci-Fi.
Heute hier, morgen dort
Hannes Wader ist ein Urgestein der
deutschen Musikwelt. Nun macht er
sich noch einmal auf den Weg.
MÜNCHNER
FEUILLETON
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81667 München
T.: 089 48920971
Sarah Diefenbach ist Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Seit 2007 beschäftigt sie sich mit der
Erforschung des Konsumentenerlebens und der
Gestaltung interaktiver Produkte unter psychologischen Gesichtspunkten. 2016 erschien das von
ihr und Daniel Ullrich verfasste Buch »Digitale
Depression – Wie neue Medien unser Glücksempfinden verändern« (mvg-Verlag, 16,99 Euro).
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