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H-Germanistik
TAGB: Ödipus um 1900 - Transformation des antiken Helden
in Tragödie und Tragödientheorie der Jahrhundertwende,
Berlin (14.10. – 15.10.2016)
Discussion published by Marisa Burkhardt on Friday, February 10, 2017
Organisiert und Tagungsbericht von Dr. des. Marie-Christin Wilm ([email protected]) und Dr.
Arata Takeda ([email protected]).
Unter dem Titel „Ödipus um 1900. Transformation des antiken Helden in Tragödie und
Tragödientheorie der Jahrhundertwende“ luden Marie-Christin Wilm und Arata Takeda Expertinnen
und Experten aus Altphilologie, Germanistik, Komparatistik, Philosophie und Romanistik sowie
interessiertes Publikum zu einem zweitägigen Workshop vom 14. bis 15. Oktober 2016 an der Freien
Universität Berlin ein. Vor dem Hintergrund der Bewusstwerdung und Thematisierung einer
strukturellen Krisenhaftigkeit menschlicher Identität diskutierte der interdisziplinär ausgerichtete
Workshop die Transformationen des antiken Helden in Tragödie und Tragödientheorie an der
Schnittstelle von Literatur, Philosophie, Psychologie und Wissenschaftsgeschichte. Den
Ausgangspunkt der Überlegungen bildete die These, dass sich Tragödientheorie und Ödipus-Deutung
um 1900 angesichts der Infragestellung des Autonomieanspruchs moderner Subjektivität auf
eigenem Terrain herausgefordert fänden. Eröffnet wurde der Workshop mit einem einführenden
Vortrag von MARIE-CHRISTIN WILM (Berlin), in dessen erstem Teil sie an das Griechenbild der
Jahrhundertwende erinnerte, „ein Volk von wilder Leidenschaft, der höchsten Qual und sinnlosen
Greulen“ (Hermann Bahr, Novelli als Ödipus, 1903). Der zweite Teil ihrer Ausführungen war einem
analytischen Blick auf die 1898 entstandene und 1900 uraufgeführte, in der Forschung aber bislang
nahezu unbeachtet gebliebene Tragödie von Getrud Prellwitz gewidmet. Wilm interpretierte Oedipus
oder das Rätsel des Lebens als Initiationsdrama, in dessen Zentrum letztlich das sexuelle Erwachen
des in der Handlung 16jährigen Ödipus stehe.
ELISA PRIMAVERA-LÉVY (Berlin) spannte in ihrem Vortrag „Nietzsche und ‚der neue Oedipus‘“
einen Bogen von der Geburt der Tragödie bis zu Jenseits von Gut und Böse und isolierte Nietzsches je
nach vorherrschendem Erkenntnisinteresse entstehende Ausdeutungen der Ödipus-Figur als
Protowissenschaftler, als einen ahnunslos in den dionysischen Abgrund Schauenden, als Emblem
einer konstitutionellen menschlichen Verantwortungslosigkeit und zuletzt als heiteren Freigeist, den
er als den „neuen Oedipus“ chiffrierte.
Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag von BERNHARD ZIMMERMANN (Freiburg), der
sich unter dem Titel „Ein dionysischer Ödipus“ mit Die Befreiung des Oidipus (1913) von Rudolf
Pannwitz (1881–1969) auseinandersetzte. In einem ersten Teil führte er in das in der Forschung in
extenso und kontrovers diskutierte Problem des dionysischen oder undionysischen Charakters der
griechischen Tragödie ein; im zweiten Teil führte er aus, wie Pannwitz, unter dem direkten Einfluss
von Nietzsche stehend, den sophokleischen Oidipus auf Kolonos ‚dionysierte‘. Zum Ausklang des
Tages folgte ein Stehempfang mit Brezeln und Wein.
Der zweite Tag begann mit dem Vortrag „‚Unsere Familie ist die Familie des Ödipus, liebe Justine‘ –
De Sade und die Ödipus-Debatte um 1900“ von INGE STEPHAN (Berlin). Sie ging darin der Frage
Citation: Marisa Burkhardt. TAGB: Ödipus um 1900 - Transformation des antiken Helden in Tragödie und Tragödientheorie der
Jahrhundertwende, Berlin (14.10. – 15.10.2016). H-Germanistik. 02-10-2017. https://networks.hnet.org/node/79435/discussions/165672/tagb-%C3%B6dipus-um-1900-transformation-des-antiken-helden-trag%C3%B6die-und
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nach, ob es einen Zusammenhang zwischen der Ödipus-Rezeption um 1900 und der gleichzeitigen de
Sade-Renaissance in den Sexualwissenschaften gibt und – wenn ja – welche möglichen
Konsequenzen das für die Ödipus-Debatte haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass de Sade ein
von der ‚klassischen‘ Psychoanalyse abweichendes Ödipus-Modell entwirft, in dem der Vater-Tochte-Inzest und der Muttermord die entscheidenden Momente sind, stellen seine Texte eine Provokation
dar, der sich vor allem Außenseiter in der Wissenschaft und Literatur um 1900 gestellt haben.
MAXIMILIAN BERGENGRUEN (Karlsruhe) führte in seinem Vortrag aus, dass Hofmannsthal
in Ödipus und die Sphinx das Ödipus-Thema dergestalt aufnimmt, dass er die Figuren mit einem
kollektiven Unbewussten versieht, in dessen Rahmen sich der Mythos vollzieht. Hofmannsthal denkt
dieses überindividuelle Unbewusste einerseits auf Basis von Erwin Rohdes Daemon-Konzeption,
andererseits mit Rückgriff auf die zeitgenössische Psychologie bzw. Psychiatrie.
Nach dem Mittagsinbiss vor Ort ordnete JUDITH FRÖMMER (München) in ihrem Vortrag „Ödipus
zwischen Wiederkehr und Wiedergeburt“ Freuds Rede vom Ödipus-Komplex in den
geistesgeschichtlichen Kontext der Renaissance-Historiographie des 19. Jahrhunderts ein. Vor dem
Hintergrund der säkularisierenden Konzeptionen der Renaissance als einer Epoche, in der –
insbesondere der epochemachenden Studie Jacob Burckhardts zufolge – Kulturschöpfung an die
Stelle von christlichen Heilserwartungen, aber auch von biologischer Natur zu treten begann,
untersuchte Frömmer die geschichtsphilosophischen Grundannahmen der Psychoanalyse zwischen
wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus und pathologischer Wiederkehr des Ödipus-Komplexes.
Anhand einer Lektüre einschlägiger Passagen aus Totem und Tabu und der Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse versuchte sie zu zeigen, wie in Freuds Deutung der ödipalen
Konstellation der biologische Ursprung des Lebens durch eine neurotische Kultur ersetzt wird.
Im Anschluss hieran widmete sich ANNE EUSTERSCHULTE (Berlin) einer Relektüre der
metapsychologischen Deutung des Ödipus-Motivs bei Freud. In Rekurs auf Paul Ricœurs Die
Interpretation. Ein Versuch über Freud lässt sich Freuds Auseinandersetzung mit dem antiken
Mythos nicht nur individualpsychologisch deuten, sondern birgt zugleich eine kulturtheoretische
Symbolisierung und Selbstverständigung. Vor diesem Hintergrund suchte der Vortrag anhand
ausgewählter kulturgeschichtlicher Bild- und Textzeugnisse zu zeigen, wie der Ödipus-Komplex in je
unterschiedlichen Kontextualisierungen als Symbol eines kulturellen Begehrens gefasst werden kann.
Abgeschlossen wurde der Workshop mit dem Vortrag „Ödipus seit 1900. Auf den Textspuren der
Mythogenese“ von ARATA TAKEDA (Berlin). Ausgehend von der Tragödienpassage aus Freuds Totem
und Tabu ging er der im Laufe des 20. Jahrhunderts einsetzenden Entstehung einer
alternativen Ödipus-Interpretation – u. a. von René Girard, Sandor Goodhart, Frederick Ahl – nach,
die im sophokleischen Text nicht eine Modellierung des Mythos, sondern eine Kritik der Mythogenese
erblicken will, und schloss mit der bewusst provokativen Frage, welchen Erkenntnismehrwert diese
neue Interpretationsrichtung bringe. Eine Veröffentlichung des Tagungsbandes ist für 2018 geplant.
Programm:
Freitag, 14. Oktober:
Citation: Marisa Burkhardt. TAGB: Ödipus um 1900 - Transformation des antiken Helden in Tragödie und Tragödientheorie der
Jahrhundertwende, Berlin (14.10. – 15.10.2016). H-Germanistik. 02-10-2017. https://networks.hnet.org/node/79435/discussions/165672/tagb-%C3%B6dipus-um-1900-transformation-des-antiken-helden-trag%C3%B6die-und
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17:00 Uhr - Marie-Christin Wilm (Berlin): Begrüßung & Einführung: Ödipus um 1900 (mit
besonderem Blick auf Gertrud Prellwitz´ Ödipus oder das Rätsel des Lebens)
18:00 Uhr - Elisa Primavera-Lévy (Berlin): Nietzsche und "der neue Ödipus"
19:00 Uhr - Bernhard Zimmermann (Freiburg): Ein dionysischer Ödipus. Rudolf Pannwitz´ Die
Befreiung des Oidipus
Samstag, 15. Oktober:
10:00 Uhr - Inge Stephan (Berlin): "Was willst du, meine liebe Justine, wir sind eben eine
Oedipusfamilie". De Sade und die Ödipusdebatte um 1900
11:00 Uhr - Maximilian Bergengruen (Karlsruhe): Hofmannsthals Ödipus-Dramen
14:00 Uhr - Judith Frömmer (München): Ödipus zwischen Wiederkehr und Wiedergeburt.
Überlegungen zur Geschichtlichkeit der Freud´schen Psychoanalyse
15:00 Uhr - Anne Eusterschulte (Berlin): Ödipus - eine Tragödie des Selbstbewusstseins? Freuds
metapsychologische Deutung und die Re-Lektüren bei Paul Ricœur
16:00 Uhr - Arata Takeda (Berlin): Ödipus seit 1900. Auf den Textspuren der Mythogenese
Der Tagungsbericht erschien zuerst auf der Internetseite der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für
literaturwissenschaftliche
Studien:
http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/friedrichschlegel/aktivitaeten/Workshops/Archiv-Works
hops/Oedipus/index.html. Die H-Germanistik-Redaktion hat den Bericht redaktionell leicht angepasst.
Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Nils Gelker] betreut – [email protected]
Citation: Marisa Burkhardt. TAGB: Ödipus um 1900 - Transformation des antiken Helden in Tragödie und Tragödientheorie der
Jahrhundertwende, Berlin (14.10. – 15.10.2016). H-Germanistik. 02-10-2017. https://networks.hnet.org/node/79435/discussions/165672/tagb-%C3%B6dipus-um-1900-transformation-des-antiken-helden-trag%C3%B6die-und
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