J. Ganzenmüller ua (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen - H-Soz-Kult

J. Ganzenmüller u.a. (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen
Ganzenmüller, Jörg; Utz, Raphael (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen
Mahnmal und Museum. Köln: Böhlau Verlag
2016. ISBN: 978-3-412-50316-1; 358 S., 43 SWAbb.
Rezensiert von: Sabrina Lausen, Historisches
Institut, Universität Paderborn
In den letzten Jahren ist die polnische Erinnerungskultur in Bezug auf die Shoah stärker ins Licht der Forschung gerückt. Dies gilt
auch für die Gedenkstätten und Museen an
den Tatorten des nationalsozialistischen Judenmords.1 Mit ihrem Sammelband, der auf
eine studentische Exkursion der FriedrichSchiller-Universität Jena an die Orte der Shoah in Polen zurückgeht, knüpfen die Historiker Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz an
diese Studien an. Das Ziel des Bandes ist es,
an ausgewählten Orten – darunter vor allem
an den früheren Zentren der Massentötungen
– die unterschiedlichen „Zeitschichten“ (S. 23)
sichtbar zu machen und zur Diskussion über
den Umgang mit den Orten anzuregen. Der
Band gliedert sich grob in zwei Arten von
Beiträgen: Etwa die Hälfte der Aufsätze behandelt bestimmte Orte, während die übrige
Hälfte allgemeine Fragen thematisiert.
In ihrem einleitenden Beitrag nehmen die
Herausgeber Bezug auf die Schlüsselbegriffe
„Aura“ und „Spur“ (S. 10). Sie erläutern das
„auratische Missverständnis“ (S. 7), das dann
passiert, wenn Besucher mit der Erwartung in
die Gedenkstätten kommen, dort „authentische“ Zeugnisse der Geschichte vorzufinden.
Jedoch sind die Orte der Shoah nicht in ihrer
Form aus der Zeit bis 1945 erhalten, sondern
wurden entweder durch vorsätzliche Zerstörung durch die Täter oder aber im Rahmen
baulicher Veränderungen durch die Volksrepublik Polen und die Dritte Polnische Republik nach dem Zweiten Weltkrieg stark modifiziert. Es handelt sich folglich um Spuren, mit
denen Wissenschaftler wie Besucher an allen
Orten in unterschiedlichem Maße konfrontiert sind und die im Rahmen der Gestaltung
von Gedenkstätten verschiedene Funktionen
erfüllen müssen. So sind die Orte zugleich
Tatort und Friedhof bzw. „Verscharrungsort“
(S. 15). Die Gedenkstätten dienen heute dazu,
„die konkreten historischen Orte als Tat- und
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Leidensorte wiedererkennbar zu machen und
zugleich ein würdevolles Trauern zu ermöglichen“ (S. 17). Diese Doppelfunktion birgt
vor allem dann ein großes Konfliktpotential, wenn in der Gestaltung mancher Gedenkstätten die sterblichen Überreste der getöteten Menschen nach wie vor ungeschützt bzw.
nicht identifiziert sind. Die Orte der Shoah
sind jedoch auch „diskursive Orte der Dokumentation und Bildung“ (S. 18). Deshalb
sollten sie, so die Herausgeber, als „Lernorte für ein selbstreflexives Geschichtsbewusstsein“ verstanden werden, an denen persönliche „Erwartungen, Wissensstände und Haltungen“ (S. 22) überprüft werden können.
Dies alles sind Aspekte, die auch in den folgenden Beiträgen immer wieder anklingen.
Aufgenommen und fortgeführt werden dabei frühere Forschungen unter anderem von
Volkhard Knigge und Detlef Hoffmann.
Grundsätzliche Erwägungen stellt zunächst Raphael Utz zur „Sprache der Shoah“
an. Er rekonstruiert die Begriffsbildung innerhalb der Historiographie und warnt vor
sprachlichem Pragmatismus oder gar der
unreflektierten Übernahme von Begriffen
und Konstrukten der nationalsozialistischen
Tätersprache. Philipp Weigel votiert gegen
die entkontextualisierte und unkritische
Verwendung solcher Fotografien, die von
den Tätern selbst produziert wurden, und
plädiert für die Nutzung privater Fotografien
der Ermordeten, die Fragen und eine kritische
Beschäftigung mit der Geschichte evozieren.
Die folgenden Beiträge über die Gedenkstätten an den Orten der Shoah sind alle nach
demselben Schema strukturiert: Zuerst wird
die Geschichte des historischen Ortes und der
juristischen Verfolgung der Täter geschildert,
bevor die Entstehung der jeweiligen Gedenkstätte in den Fokus rückt. Christian Jänsch
und Alexander Walther veranschaulichen anhand des Ortes Kulmhof / Chełmno nad Ne1 Siehe
u.a. Imke Hansen, „Nie wieder Auschwitz!“. Die
Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945–1955, Göttingen 2015; Zofia Wóycicka, Arrested Mourning. Memory of the Nazi Camps
in Poland, 1944–1950, Frankfurt am Main 2013; Anna Wolff-Pow˛eska / Piotr Forecki (Hrsg.), Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur, Frankfurt
am Main 2012; Jonathan Huener, Auschwitz, Poland,
and the Politics of Commemoration, 1945–1979, Athens
2003.
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rem die Genese eines Ortes der Shoah, der fast
ein halbes Jahrhundert lang ein „vergessener
Ort des Holocaust“ war (S. 90) und dessen Gestaltung als Gedenkort noch nicht abgeschlossen ist. Ähnlich verhält es sich bei der Gedenkstätte Bełżec, die von Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz vorgestellt wird. Im Rahmen einer Neugestaltung (eingeweiht 2004)
wurde hier inzwischen der Wandel von einem „vergessenen Ort“ (S. 117), der vornehmlich ein Friedhof war, hin zu einem „Ort des
Lernen und Gedenkens“ (S. 121) vollzogen.
Die Gedenkstätte Sobibór, mit der sich Klara Muhle beschäftigt hat, ist wie die Gedenkstätte Chełmno noch immer im Wandel begriffen, da auch hier erst vor kurzem die vermutlich letzten Massengräber und baulichen
Relikte durch archäologische Grabungen entdeckt und markiert werden konnten. Die Gedenkstätte Treblinka, deren Entwicklung Julia
Matthes und Felix Roth betrachten, hebt sich
insofern von den übrigen genannten Orten ab,
als hier schon in den 1960er-Jahren ein monumentaler Komplex entstand, der abgesehen
von wenigen Veränderungen bis dato noch in
seiner ursprünglichen Form erhalten ist und
als Ort der Shoah in der polnischen Erinnerungskultur präsenter war als die übrigen Tötungsorte.
Mit dem Staatlichen Museum Majdanek
stellt Sarah Kunte die erste derartige Institution an einem Ort der Shoah in Europa vor. Im
Falle des ehemaligen KZ Lublin-Majdanek,
dessen bauliche Strukturen erst nach dem
Krieg sukzessive demoliert wurden, wird die
Frage des Umgangs mit originären und rekonstruierten Objekten in Gedenkstätten sowie ihrer Funktion als „physische Beweise“
(S. 197) für die nationalsozialistischen Verbrechen diskutiert. Anhand des Lagers Płaszów
bei Krakau, das in der Topographie der Erinnerung auf mehrfache Weise präsent ist (u.a.
durch den Film „Schindlers Liste“), beschäftigt sich Christina Heiduck mit der Problematik einer „dislozierte[n] Erinnerung“. Linda Ferchland plädiert in ihrer Studie des „UnOrtes“ Auschwitz für dessen „Entmystifizierung“ und gegen Emotionalisierungspraktiken innerhalb der Gedenkstättenpädagogik,
die ein Hindernis darstellen in der Entwicklung von einem bloßen Mahnmal hin zu einem Lernort, an dem die Besucher über die
Ursachen von Exklusion und Gewalt reflektieren können – nicht zwingend beschränkt
auf die Shoah.
An das Problem der Emotionalität bzw.
Emotionalisierung anknüpfend wirft Sven
Urban mit einer empirischen Studie die Frage
nach der Wirkung von Auschwitz auf die Gefühlslage und das Wissen deutscher Schüler
der gymnasialen Mittel- und Oberstufe auf.
Hier wird deutlich, dass der Fokus bei dem
Besuch einer Gedenkstätte weniger auf der
Vermittlung von Wissen als auf der Wahrnehmung und Reflexion der eigenen Emotionalität liegen sollte, da hierdurch anfängliche Blockaden im Lernprozess, die aus einer als stark
belastend empfundenen Begegnung mit dem
historischen Ort entstehen, wieder überwunden werden können.
Konstantin Heinisch-Fritzsche hingegen
thematisiert die bislang recht unbekannten
aktiven und passiven Formen des jüdischen
Widerstands in Sobibór und Treblinka. Er
stellt heraus, dass die Zeitzeugen abhängig
von ihrer äußeren Situation, vor allem jedoch von ihrem persönlichen Hintergrund
und der Ausprägung ihrer – oftmals durch
die Täter oktroyierten – jüdischen Identität
vielfältige Vorstellungen mit dem Begriff des
Widerstands verknüpften und sich selbst
somit in unterschiedlichem Maße als Widerstandskämpfer wahrnahmen. Cornelia
Bruhn und Samuel Kunze hingegen bieten
einen Einblick in die jährlich stattfindenden
Schülerfahrten junger Israelis an die Orte der
Shoah, deren Abläufe geprägt sind durch
religiöse wie politische Rituale und die somit den Doppelcharakter einer Pilger- und
Bildungsfahrt aufweisen. Zwar können die
Autoren nicht abschließend klären, ob es sich
bei dieser Form des Gedenkens tatsächlich
um eine „civilian religion“, „civil religious
pilgrimage“ oder „civil religion“ (S. 303f.)
handelt; doch wird deutlich, dass die selbst
in Israel umstrittenen Schülerfahrten in ihrer
jetzigen Form ein nationales Narrativ bestätigen, in dem die Existenz Israels als Sieg über
den Nationalsozialismus und die Orte der
Shoah als „Gründungsorte Israels“ (S. 327)
interpretiert und damit politisch instrumentalisiert werden. Der Band schließt mit der
Frage nach einer würdevollen Erinnerung an
die Menschen, die während der Shoah ermor-
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J. Ganzenmüller u.a. (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen
det wurden und deren sterbliche Überreste
an den Orten ihres Todes nicht nur unter
unwürdigen Umständen verscharrt, sondern
bis dato auch nur ungenügend geschützt
sind. Christian Jänsch und Alexander Walther
knüpfen damit an das zu Beginn des Bandes
formulierte Problem an, wie man sich den
Orten der Shoah nähern und sie gestalten
kann, ohne die Würde der Opfer, aber auch
der Besucher zu verletzen.
Insgesamt gelingt allen Autorinnen und
Autoren, von denen die meisten nach Abschluss ihres Studiums inzwischen an Dissertationsprojekten arbeiten, eine ebenso erhellende wie vielschichtige Darstellung unterschiedlicher Orte der Shoah in Polen und
der Schwierigkeiten, die mit der Gestaltung
dieser Orte verknüpft sind. Nur an manchen
Stellen sind die Überblicke zu den Lagern
und ihren Gedenkstätten etwas zu deskriptiv.
So werden zwar alle wichtigen Entwicklungen und baulichen wie künstlerischen Details
geschildert, doch gehen die Gründe für bestimmte Verläufe daraus mitunter nicht deutlich genug hervor. Hier hätte eine Kontextualisierung in die unterschiedlichen Phasen der
polnischen Geschichtspolitik – über die recht
kurze Erläuterung zu Beginn des Bandes hinaus – noch mehr Erklärungsansätze bieten
können. Etwas unklar bleiben deshalb vor
allem für den nicht-sachkundigen Leser die
Gründe für die Hierarchisierung von Opfergruppen oder für die Inszenierung mancher Orte der Shoah als „Orte des polnischen
Martyriums“. Trotzdem haben die Autorinnen und Autoren einen wertvollen Band zur
polnischen, europäischen und in Teilen auch
globalen Erinnerungskultur vorgelegt, der die
gesetzten Ziele erfüllt und dazu anregt, über
den Umgang mit den Orten der Shoah weiter
nachzudenken – nicht nur mit Blick auf Polen.
HistLit 2017-1-103 / Sabrina Lausen über
Ganzenmüller, Jörg; Utz, Raphael (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen
Mahnmal und Museum. Köln 2016, in: H-SozKult 10.02.2017.
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