SWR - B e s t e n l i s t e Februar 2017 Die unten aufgeführten Literaturkritikerinnen und -kritiker nennen monatlich - in freier Auswahl - vier Buch-Neuerscheinungen, denen sie möglichst viele Leserinnen und Leser wünschen, und geben ihnen Punkte (15, 10, 6, 3). Die Addition ergab für den Monat Februar folgendes Resultat (in Klammern die Position der Januar-Bestenliste): 1. JONAS LÜSCHER: Kraft 88 (-) Roman. C.H.Beck Verlag, 237 Seiten, € 19,95 * Punkte Wie bringt man Leibniz und Silicon Valley, alteuropäische Philosophie und neukalifornischen IT-Futurismus, in einem Roman zusammen? In seinem zweiten Roman geht der Schweizer Jonas Lüscher den Ideen einer säkularisierten Theodizee nach, von denen die Tech-Community rund um die Stanford Universität angetrieben wird. Mit solch rabiatem Optimismus kann ein Tübinger Rhetorik-Professor wie Richard Kraft nicht mithalten. 2. HANYA YANAGIHARA: Ein wenig Leben 86 (-) Roman. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner, Hanser Verlag Berlin, 960 Seiten, € 28,00 ** Punkte Tausend Seiten Hohelied auf die Lebensfreundschaft von vier amerikanischen CollegeStudenten bis zum Tod. Ein Männer-Märchen aus New York, von einer Frau geschrieben, fokussiert auf die unerhörten Leiden eines betörenden Schmerzensmannes, auf seine Peiniger und seine Schutzengel. Alles ist märchenhaft überzeichnet: Die Guten sind übermenschlich gut, die Bösen unmenschlich böse. Ein unverhoffter US-Bestseller. 3. JULIANA KÁLNAY: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens 49 (-) Roman. Wagenbach Verlag, 192 Seiten, € 20,00 ** Punkte Das erstaunliche Debüt einer 29-jährigen Hamburgerin: heiter, mutwillig, phantastisch. Diese Chronik eines Mietshauses voll skurriler Bewohner führt von Anfang an über die Realität hinaus. Ein Nachbar verwandelt sich in einen Baum, ein Kind beißt sich durch Mauern, ein Mitbewohner nistet sich im Aufzug ein. Auch das Haus selbst steckt voller Geheimnisse: Es poltert, es birgt unentdeckte Räume, es verschluckt seine Mieter. Kurzweil, surreal. 4. MARTIN WALSER: Statt etwas oder Der letzte Rank 40 (-) Roman. Rowohlt Verlag, 176 Seiten, € 16,95 ** Punkte Zum 90. Geburtstag verabschiedet sich Martin Walser völlig vom romanhaften Erzählen. Statt eines Romans legt er eine semi-autobiografische Altersmeditation vor («Ich huste, also bin ich»), eine tagebuchartige, mitunter polemische, einzig um das eigene Selbst kreiselnde Mitschrift seiner Gedanken über die Frauen und die Feinde in seinem Leben (Freunde gibt es nicht), oszillierend zwischen Selbstenthüllung, Selbstbezichtigung und Selbstüberhöhung. 5. ELENA FERRANTE: Die Geschichte eines neuen Namens 33 (-) Roman. Suhrkamp Verlag, 624 Seiten, € 25,00 * Punkte Fortsetzung der Neapel-Saga der Autorin mit dem werbewirksam enthüllten Pseudonym Elena Ferrante. Die Romanheldinnen Elena und Lila sind immer noch ziemlich beste Freundinnen in diesem zweiten Band der Tetralogie, in dem das Personal sich weitläufig verzweigt und die Handlung turbulent ausschweift, zwischen Liebe, Rivalität, Verrat und Camorra-Geschäften. 6. ANDREJ PLATONOW: Die Baugrube 22 (8.) Roman. Übersetzt aus dem Russischen von Gabriele Leupold, Suhrkamp Verlag, 240 Seiten, € 24,00 ** Punkte Eine editorische, übersetzerische und verlegerische Großtat: Das in der Sowjetunion verbotene Hauptwerk Andrej Platonows (1899–1951) erzählt allegorisch von Aufbruch und Abbruch, vom radikalen Umbau der russischen Gesellschaft nach 1917 und vom Scheitern der revolutionären Utopien. Das ganze Land ist eine einzige Baugrube. An der schieren Gewaltsamkeit der Modernisierungsprojekte gehen die Menschen zugrunde. 7.-9. JONATHAN SAFRAN FOER: Hier bin ich 21 (-) Roman. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens, Kiepenheuer & Witsch Verlag, 688 Seiten, € 26,00 ** Punkte Elf Jahre hat er geschwiegen. Jetzt meldet sich der einstige Lieblings-Debütant der USLiteraturszene, die eine Hälfte des (inzwischen geschiedenen) Glamour-Paars Jonathan Safran Foer/Nicole Krauss, zurück, um mit 39 Jahren als Autor neu zu starten: «Hier bin ich.» Viel persönlicher Lebensstoff ist in diesen Ehe-, Familien- und Scheidungsroman eingeflossen, der sich darüber hinaus als Roman über das kulturelle und religiöse Selbstverständnis der jüdischen Diaspora in den USA lesen lässt. (-) TERÉZIA MORA: Die Liebe unter Aliens 21 Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, 272 Seiten, € 22,00 ** Punkte Elf Erzählungen, die Beziehungen sezieren und damit auch die gesellschaftlichen Verhältnisse: schleichendes Unglück und Gleichgültigkeit. Als zum Beispiel eine junge Wissenschaftlerin nach acht Jahren ihrem Freund bekennt, dass er für sie das Leben sei, verlässt er sie – und alle ihre Freunde sagen, ihr Unverhältnismäßigkeit sei schuld am Scheitern ihrer Beziehung. Verstörende Studien darüber, wie die soziale Kälte bis ins Innerste vordringt. (-) MICHAIL OSSORGIN: Zeugen der Zeit 21 Roman. Aus dem Russischen von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak, Die Andere Bibliothek Verlag, 552 Seiten, € 42,00 * Punkte Nach der erfolgreichen Wiederentdeckung des Romans «Eine Straße in Moskau» des exilrussischen Autors Michail Ossorgin (1878–1942) lässt der Verlag nun die beiden noch fehlenden Romane dieser Trilogie über die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 folgen, vereint in einem Band. Mit ungeheurer Wucht erzählt Ossorgin von Terror, Attentaten, Geheimpolizei, Gefängnis, Exil und dem Untergang des alten Russlands im revolutionären Chaos. 10. VOLKER BRAUN: Handbibliothek der Unbehausten 16 (-) Briefe. Suhrkamp Verlag, 1040 Seiten, € 38,00 ** Punkte Der bedeutende DDR- und Post-DDR-Lyriker veröffentlicht Gedichte aus den letzten zehn Jahren. Sie sprechen «noch immer, oder nun erst, von der Wildnis der Gesellschaft.» Es geht um eine Mansfelder Halde, um «Willkommen und Abschiebung» afrikanischer Flüchtlinge oder um den «Kassensturz» nach dem Ende der DDR: «Wo ist nun unser Mut? das Aufbegehren?» * Persönliche Empfehlung im Februar von Lothar Müller (Berlin): RAYMOND ROUSSEL: Eindrücke aus Afrika Revidierte Übersetzung von Cajetan Freund, mit einem Anhang und einem Nachwort versehen von Stefan Zweifel. Mit 14 Radierungen von Markus Raetz. Edizioni Periferia, Luzern und Poschiavo 2016. 352 Seiten,€ 35,00 „Die Küsten von Afrika, an die Raymond Roussel (1877-1933) seine Leser auf einem französischen Überseedampfer entführt, gibt es nicht. Die europäischen Passagiere haben Schiffbruch erlitten, der Kaiser Talou VII., dessen Land es auch nicht gibt, fordert ein hohes Lösegeld für sie. Um sich die Zeit in der Gefangenschaft zu vertreiben, bereiten sie künstlerische Darbietungen für die Krönungsfeierlichkeiten des Herrschers vor. Zu dieser Neuausgabe des 1910 erschienenen Romans gehören Einblicke in die Werkstatt des Autors, darunter Manuskripte aus seinem Nachlass in der französischen Nationalbibliothek und Auszüge aus der postum veröffentlichten Schrift „Wie ich einige meiner Bücher schrieb“. Sie sind das Logbuch zur Expedition, die Roussel hier nach selbst entworfenen Karten unternommen hat: der Expedition ins Innere der Sprache.“ (Lothar Müller) *** (vermutlich) schwierigere Lektüre ** (vermutlich) mittelschwere Lektüre * (vermutlich) leichtere Lektüre Die Jury Helmut Böttiger (Berlin), Gregor Dotzauer (Berlin), Martin Ebel (Zürich), Julia Encke (Berlin), Eberhard Falcke (München), Cornelia Geißler (Berlin), Peter Hamm (München), Richard Kämmerlings (Berlin), Elmar Krekeler (Berlin), Sigrid Löffler (Berlin), Ursula März (Berlin), Ijoma Mangold (Berlin), Lothar Müller (Berlin), Klaus Nüchtern (Wien), Jutta Person (Berlin), Iris Radisch (Hamburg), Ulrich Rüdenauer (Bad Mergentheim), Denis Scheck (Köln), Julia Schröder (Stuttgart), Gustav Seibt (Berlin), Hubert Spiegel (Frankfurt), Hajo Steinert (Köln), Daniela Strigl (Wien), Kirsten Voigt (Baden-Baden), Insa Wilke (Frankfurt), Hubert Winkels (Köln) Literatur im Hörfunk SWR2 Literatur Dienstag, 07.02.2017 um 22.03 Uhr über die Bücher der Februar-Bestenliste diskutieren Cornelia Geißler, Elmar Krekeler und Sigrid Löffler (Moderation) Öffentliche Aufzeichnung der März-Bestenliste Donnerstag, 02.03.2017 um 20.00 Uhr, Heidelberg, Kulturhaus Karlstorbahnhof Klaus Nüchtern, Hubert Winkels und Sigrid Löffler (Moderation) Literatur im SWR Fernsehen Donnerstag, 09.02.2017 um 23.15 Uhr Sonntag, 12.02.2017 um 08.15 Uhr "lesenswert Sachbuch" mit Walter Janson Gast: Heinz Schilling Donnerstag, 16.02.2017 um 23.15 Uhr Sonntag, 19.02.2017 um 08.15 Uhr „lesenswert“ mit Denis Scheck Gäste: Carolin Emcke, Maren Kroymann http://www.SWR.de/bestenliste
© Copyright 2024 ExpyDoc