Was ein Leben kosten darf: Das Dilemma der Mediziner

sonntagszeitung.ch | 29. Januar 2017
Catherine Boss
und Alexandre Haederli
Editorial
Das Thema ist heikel,
die Augen davor
zu ­verschliessen, ist feige
Jeder kriegt, was er braucht. Von wegen! ­
Viele Ärzte rationieren. Sie enthalten Patienten
nützliche Behandlungen vor, weil sie zu teuer
sind. Und zwar nicht erst seit heute. Bereits in
einer Studie aus dem Jahr 2006 gaben 68 Pro­
zent der Schweizer Internisten und Allgemein­
mediziner an, aus Kostengründen auf Eingriffe
verzichtet zu haben, die im Interesse des Patien­
ten gewesen wären.
Trotzdem wird das Thema noch immer verdrängt. Politik und Krankenkassen drücken sich
vor der Debatte. Dabei ist klar: Alles, unbegrenzt,
für alle – das ist nicht möglich.
Der medizinische Fortschritt trägt zur Verbesserung der Gesundheit bei – führt aber auch zu
höheren Kosten und wachsenden Ansprüchen.
Je besser die Behandlungsmethoden sind, desto
mehr Menschen möchten sie in Anspruch neh­
men. So steigen die Gesundheitsausgaben seit
Jahren und liegen mittlerweile bei 74 Milliarden
Franken. Das sind 735 Franken je Bewohner und
Monat, allein 11,36 Pro­
zent des Bruttoinland­
produkts werden dafür
ausgegeben.
Die Augen davor zu
verschliessen, ist nicht
nur unklug. Es ist feige
und verschlimmert das
Problem weiter.
«Es ist klar:
Alles,
unbegrenzt,
für alle –
das ist nicht
­möglich»
Weil aber die Auseinandersetzung darüber,
wer behandelt wird und
wer nicht, heikel und ethisch herausfordernd ist,
scheuen sich die Politiker davor, das Wort Ratio­
nierung auch nur auszusprechen. Keine Partei
möchte mit dem Vorschlag identifiziert werden,
bestimmten Patienten Leistungen vorzuenthalten.
Wo aber explizite Vorgaben fehlen, wie lange ein
Todkranker behandelt wird, wer die teuersten
Medikamente bekommt und wer nicht, müssen
die Ärzte heimlich ihre Leistung begrenzen, also
implizit rationieren.
Was im Stillen passiert, ist selten gut. Der
­Patient darf nicht das Gefühl haben, er sei der
Willkür der Mediziner ausgeliefert. Dass nur der
Zufall darüber bestimmt, wie und ob er behan­
delt wird. Der Arzt darf nicht das Gefühl haben,
man lasse ihn mit den schwierigen ethischen
Entscheidungen alleine. Dass er einsam in der
Verantwortung ist und zum Sündenbock wird.
Es ist Zeit für eine offene Debatte. Darüber,
welches Gesundheitssystem wir uns zu welchem
Preis leisten können – und wollen. Was gerecht
ist und was nicht. Die Ärzte sind dazu bereit.
Sie fordern Leitlinien und Entscheidungshilfen.
Ressourcen sind endlich, die Gesellschaft, die
Politik und die Fachleute müssen anerkennen,
dass es bei der medizinischen Versorgung nicht
darum geht, ob wir Grenzen setzen müssen.
Sondern wo.
Andrea Bleicher,
Redaktionsleiterin
[email protected]
www.facebook.com/sonntagszeitung
Leserangebot — 14
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Ferien und Reisen — 70
Immobilien Miete — 49
Marktplatz — 70
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Veranstaltungen — 66
Bern Die Kosten im Gesundheits-
wesen steigen ständig. Jedes Jahr
bezahlen die Bürger mehr für
Krankenkassenprämien, weil teure Medikamente und die Hightech-Medizin die Preise in die
Höhe treiben. Kann das ewig so
weitergehen? Oder ist die Zeit reif
für ein Tabuthema – die Frage
nämlich, wie viel ein längeres Leben kosten darf?
Der Basler Gesundheitsökonom Stefan Felder fordert einschneidende Massnahmen. Er will
eine Rationierung der medizinischen Leistungen für Grundversicherte. «Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist für die Allgemeinheit auch bezahlbar», sagt
er. Die Grundversicherung stosse
an finanzielle Grenzen.
Er will Leistungen streichen: so
etwa die Operation der Kreuzbänder am Knie, die sich als sinnlos
erwiesen habe. Oder das Brustkrebs-Screening und die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung; er
will gar darüber diskutieren, ob
über 85-Jährige noch neue Hüftund Kniegelenke erhalten sollen.
«Wir sollten Behandlungen, bei
denen das Kosten-Nutzen-Verhältnis ungünstig ist, streichen und der
privaten Zusatzversicherung überlassen», sagt er.
Und er geht noch weiter: Ein
«qualitätsbereinigtes Lebensjahr»,
wie dies im Jargon der Ökonomen
heisst, dürfe gemäss Felder maximal 150 000 Franken kosten. Das
heisst: Nur wenn eine Therapie
mindestens ein ganzes zusätzliches Jahr mit guter Lebensqualität ermöglicht, darf sie so viel kosten – sonst würde sie schlicht nicht
bezahlt. Der Preis für ein halbes
«qualitätsbereinigtes Lebensjahr»
läge entsprechend bei 75 000
Franken.
Vielen Krebspatienten würde
die Behandlung verweigert
So provokativ seine Forderungen
sind – Felder trifft einen wunden
Punkt. Tatsächlich ist die Bevölkerung nicht bereit, unbegrenzt hohe
Kosten solidarisch über die Prämien zu finanzieren. Laut einer
kürzlich publizierten Studie des
Schweizer Nationalfonds darf aus
Sicht der Prämienzahler ein weiteres Lebensjahr eines über 70-jährigen Krebspatienten 55 000 Franken kosten. Für Jüngere liegt der
Betrag bei 110 000 Franken. Die
Studie zeigt auch: Die Kosten für
ein Viertel der Betagten und neun
Prozent der Jüngeren liegen heute deutlich darüber. Würde man
Felders Modell eins zu eins umsetzen, würde heute jedem vierten betagten und sogar jedem zehnten
jüngeren Krebskranken die teure
Behandlung verweigert.
Damit könnten sich gewisse
­lebensverlängernde Massnahmen
nur noch Reiche leisten. Eine Zweiklassenmedizin gebe es aber auch
heute schon, sagt Felder. Im Versteckten. «Die Ärzte rationieren
implizit. Damit hängt davon ab, in
welchem Spital oder von welchem
Arzt ein Patient behandelt wird,
was er bekommt», sagt er.
Stimmt das? Werden in Schweizer Spitälern und Arztpraxen Behandlungen, die das Leben verlängern oder dessen Qualität verbessern könnten, nicht verordnet, weil
sie teuer sind?
Die SonntagsZeitung hat über
60 Spitzenmediziner aus den Bereichen Intensivmedizin und Onkologie dazu befragt.
Das Thema bewegt die Mediziner – das zeigen die vielen Reaktionen. Alle betonen, dass bei der
Entscheidung für oder gegen eine
Therapie der Wille und das Wohl
des Patienten im Zentrum stehen.
Für etwa die Hälfte der Angefragten – darunter viele Ärzte aus der
Westschweiz – darf Geld keine
Rolle spielen.
Was ein Leben
kosten darf:
Das Dilemma
der Mediziner
Die Entscheidung über teure lebensverlängernde
­Therapien fällen die Ärzte. Ein Gesundheitsökonom will
nun den Leistungskatalog für Grundversicherte kürzen
74 Mrd.
So hoch waren die
Gesundheitskosten im Jahr
2016. Die Schweiz liegt damit
international auf dem zweiten
Platz - hinter den USA.
80%
Kostensteigerung im
Gesundheitswesen seit 1996
(teuerungsbereinigt).
735 Fr.
Monatliche
Gesundheitsausgaben
pro Einwohner.
Doch die andere Hälfte spricht
über das Dilemma, in dem sie stecken. Sie bewegten sich in einer
Grauzone, sagen sie. Sie müssten
das Wohl der Patienten, aber auch
die Finanzen im Auge behalten.
«Bei jedem Patienten sollten bei
exzessiv teuren Therapiemöglichkeiten Kostenüberlegungen mit in
Entscheide einbezogen werden.
Sie stehen nicht im Vordergrund,
sie sind aber im Hintergrund präsent», sagt ein leitender Arzt.
Für Jukka Takala, Chefarzt der
Universitätsklinik für Intensivmedizin im Inselspital in Bern, ist Rationierung kein Schimpfwort, wie
der Finne sagt. «Es findet in unserem Alltag eine implizite Rationierung statt, das ist wahr.» Da die Ressourcen begrenzt seien, müsse er
sie so einsetzen, dass sie an erster
Stelle denen zugutekämen, die eine
gute Überlebenschance hätten.
In seinem Spital komme es vor,
sagt Georg Mang, Chefarzt der Inneren Medizin im Kantonsspital
Uri in Altdorf, dass ein einziger
Fall das ganze Budget über den
Haufen werfe. Er spricht von Therapien, die mehr als 1500 Franken
kosten – am Tag.
Der medizinische Fortschritt
verschärft das Dilemma der Ärzte
noch. Sie können immer mehr
Organfunktionen vorübergehend
ersetzen. Sie könnten, wenn sie
alle zur Verfügung stehenden
Massnahmen einsetzten, den Sterbeprozess bei vielen Patienten um
Wochen oder gar Monate verlängern. Doch das sei eine Leidensverlängerung, die viele Patienten
nicht wollten, sagen Mediziner. Sie
nehmen damit den Ärzten die
schwierige Entscheidung ab. Es
gebe gar Kranke, die auf Behandlungen verzichteten, obwohl der
Arzt Überlebenschancen sehe, sagt
Intensivmediziner Takala.
Manchmal brauchten Todkranke schlicht noch etwas Zeit, sagt
Professor Hansjörg Senn, Onkologe und Gründer des Tumor- und
Brustzentrums ZeTuP in St. Gallen. «Besonders jüngere Krebspatienten brauchen vor dem Sterben
Zeit, um ihre irdischen Probleme
zu regeln. Sei es, um von Kindern
Abschied zu nehmen, um noch
einen Geburtstag in ein paar Wochen zu erleben, oder einfach, um
sich auf das Unausweichliche vorzubereiten», sagt er. Auch wenn
dies teuer sei – die Gesellschaft
müsse bereit sein, das zu finanzieren, sagt er.
Doch wo liegt die Grenze? Was
ist noch bezahlbar – und was nicht?
Das Beispiel eines 51-jährigen
Krebspatienten zeigt, was mit
Kranken passiert, die «zu teuer»
sind. Der Mann hat nicht mehr lange zu leben – mit Chemotherapie
Gesundheitskosten
3
«Das Alter ist
ein gerechtes
Kriterium»
Gesundheitsökonom Stefan Felder
fordert Leistungskürzungen
Sie wollen die medizinische Versorgung
für Allgemeinversicherte einschränken. Warum?
Es kann nicht ewig so weitergehen mit der Kostensteigerung. Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist
für die Allgemeinheit auch bezahlbar. Ich sehe keinen
anderen Weg, als dass wir den gesetzlichen Leistungskatalog einschränken. Wir sollten Leistungen, bei
denen das Kosten-Nutzen-Verhältnis ungünstig ist,
streichen und der privaten Zusatzversicherung überlassen.
Woran denken Sie?
«Implizite
Rationierung»:
Jukka Takala,
Chefarzt der
Intensivmedizin
im Inselspital
Bern Foto: Esther Michel
Zum Beispiel an das systematische Brustkrebs-Screening oder den PSA-Test in der Vorsorge gegen Prostatakrebs. Oder auch an die teuren Operationen des
vorderen Kreuzbandes beim Knie, die sich als relativ
sinnlos herausgestellt haben. Irgendwann kommt das
künstliche Herz – wir müssen uns fragen, ob das wirklich jeder, der es braucht, bekommen soll. Das wäre
extrem teuer.
Soll die Medizin für alte Leute rationiert werden?
Das Alter ist ein einfaches und auch gerechtes Rationierungskriterium – vorausgesetzt, der Staat informiert die Bürger frühzeitig. Ich denke, es muss diskutiert werden, ob die Allgemeinheit beispielsweise neue
Hüftgelenke auch für 85-Jährige bezahlen soll. Jedenfalls kommt die Solidargemeinschaft an ihre Grenzen,
und wir sollten über eine Altersrationierung reden.
Die Leute wollen Zugang zur Spitzenmedizin für
alle. Wie lässt sich da Rationierung rechtfertigen?
Es steht seit 20 Jahren im Gesetz, dass medizinische
Leistungen nicht nur wirksam und zweckmässig, sondern auch wirtschaftlich sein müssen. Hohe Kosten
bei gleichzeitig geringer Wirkung rechtfertigen somit
den Ausschluss einer Leistung. Wir tun es nur nicht.
Wo wollen Sie die Grenze ziehen?
Man legt einen Höchstbetrag fest, der angibt, was uns
ein qualitätsbereinigtes Lebensjahr wert ist. In der
Fachsprache nennt man das ein Qaly.
Was ist das?
Damit misst man den Nutzen einer medizinischen
Intervention. Wenn zum Beispiel eine Krebstherapie
das Leben im Durchschnitt um ein halbes Jahr verlängert und diese zusätzliche Zeit in einem guten Gesundheitszustand verbracht werden kann, ist der Nutzen ein halbes Qaly. Falls der Gesundheitszustand
schlecht ist, beträgt der zusätzliche Nutzen vielleicht
nur ein viertel Qaly.
noch ein Jahr, so die Prognose seines Arztes. Doch es gibt ein Medikament, das diese Zeit um weitere zehn Monate verlängern würde. Kostenpunkt: 13 000 Franken
pro Monat. Die Krankenkasse
deckt davon nur einen Teil. Jetzt
hängt alles davon ab, ob er den Rest
selber bezahlen kann. Verdient er
gut, dann geht das. Wenn nicht,
wird er früher sterben.
Liste von Behandlungen
mit geringem Nutzen
Rahel Hautle, Onkologin in
St. Gallen, will in solchen Fällen
die Gesellschaft in die Pflicht nehmen. «Heute wird vor allem über
zu hohe Kosten gejammert und dabei Druck auf Mitarbeitende im
Gesundheitswesen gemacht, anstatt darüber zu diskutieren, was
man will.» Sie nennt ein Beispiel:
Laufend kämen für die Behandlung von bösartigen Erkrankungen des Knochenmarks neue Substanzen auf den Markt, die pro Monat je deutlich über 10 000 Franken kosten. Die Forschung lege
nahe, sie zwecks besserer Wirksamkeit miteinander zu kombinieren. «Das würde mehrere Zehntausend Franken kosten pro Monat. Ob und für wen das dann noch
finanzierbar ist, muss die Gesellschaft entscheiden – nicht ich alleine», sagt Hautle.
Die Ärzte wollen keine Einschränkung ihrer Therapiefreiheit und
für Behandlungen keine rigorosen
Preislimiten, die für alle gelten sollen. Jeder Patient sei anders, Krankheitsverläufe liessen sich deshalb
nicht vereinheitlichen.
Doch die Mediziner wünschen
sich Entscheidungshilfen. Die
Schweizer Gesellschaft der Intensivmediziner ist zurzeit daran,
nach wissenschaftlicher Prüfung
eine Liste von Behandlungen mit
geringem Nutzen zu erstellen.
Und für extrem teure Interventionen seien gewisse Abstriche bei
den bezahlten Leistungen denkbar, sagen die Ärzte. «Künftig
könnte das beispielsweise das
künstliche Herz sein. Die Risiken
sind schwer abschätzbar, und die
Kosten sind hoch», sagt Takala.
Und Chefarzt Mang fragt sich, ob
es für eine Prostataoperation das
teure «Da-Vinci-System» brauche,
bei dem der Operateur von einem
Roboter assistiert werde: «Wer das
will, könnte es privat bezahlen.»
Doch bei der Lebensqualität der
Alten will er nicht sparen. Er ist kategorisch dagegen, für über 85-Jährige generell neue Hüftgelenke zu
rationieren. «Es gibt alte Leute, die
noch sehr rüstig sind und wandern
gehen. Für die wäre das fatal.»
[email protected]
In England werden neue Hüftgelenke rationiert
Rationierung im Gesundheitswesen – das ist in Grossbritannien
längst Realität. Vergangene Woche
machte die Meldung Schlagzeilen,
dass drei Spitäler in der Region
Birmingham künftig HüftgelenkOperationen drastisch einschränken wollen. So soll nur noch Hüftprothesen erhalten, wer nachts wegen der Schmerzen nicht mehr
schlafen könne oder im Alltag
schwer eingeschränkt sei. Das würde Einsparungen von 2,5 Millionen
Franken bringen.
The Royal College of Surgeons, die
Vereinigung der Chirurgen, protestierte umgehend. Die Massnahme
sei völlig willkürlich – und sie spare kein Geld, sagte Vizepräsident
Stephen Cannon. Im Gegenteil: Es
sei vorauszusehen, dass die Kosten für Schmerzmittel explodierten. Betroffene brauchten auch
mehr Pflege. Zudem sei bei vielen
mit Komplikationen zu rechnen, indem die Operation auf später verschoben werde. Es sei richtig, für
Operationen Alternativen zu prüfen. Doch diese Entscheidung müsse aus medizinischen und nicht aus
finanziellen Gründen erfolgen, sagt
Cannon.
Im letzten Herbst zeigte eine Umfrage bei Ärzten, dass Rationie-
rungsmassnahmen bereits weitverbreitet sind. So sei die Finanzierung von teuren Krebsmedikamenten oder auch psychiatrischen
­Behandlungen eingeschränkt worden, sagen die Mediziner. Die Ärzte berichten auch, dass die Behandlung von Patienten zum Teil so
lange verschoben werde, bis die
Krankheit fortgeschritten sei. Das
mache die Behandlung teurer.
Kürzlich verärgerte eine weitere
Massnahme Ärzte und Patienten.
So sollen künftig Übergewichtige zuerst 10 Prozent ihres Gewichts abnehmen müssen, bevor
sie auf den OP-Tisch dürfen. Und
Raucher müssen zwei Monate auf
Zigaretten verzichten, um für ein
Leiden einen OP-Termin zu erhalten. Das soll Komplikationen verringern und damit Kosten sparen.
The National Health Service, der
nationale Gesundheitsdienst, hat
chronische Finanzprobleme. Das
Gesundheitswesen wird über Steuern finanziert. Der Besuch beim
Arzt oder im Spital ist gratis.
Sieben Prozent der Einwohner bezahlen eine private Zusatzversicherung – und erhalten damit privilegierten Zugang zu Gesundheitsleistungen. Catherine Boss,
Alexandre Haederli
«Die Ärzte
­rationieren
­bereits – Zweiklassenmedizin
im Versteckten»
Und was dürfte ein ganzes zusätzliches Lebensjahr kosten?
Das Bundesgericht hat diesen Wert in einem Grundsatzurteil auf 100 000 Franken veranschlagt. Ich sähe
ihn eher bei 150 000 Franken. Das bedeutet: Leistungen, die für diesen Preis ein zusätzliches Qaly ermöglichen, wären im Leistungskatalog eingeschlossen –
diejenigen, die das nicht erfüllen, wären nicht gedeckt.
Mit der Zusatzversicherung könnte sich der Versicherte einen Betrag bis zu 250 000 oder mehr abdecken
lassen.
Mit 20 denke ich nicht ans Lebensende und
habe für eine Zusatzversicherung auch kein
Geld – und mit 50 nimmt mich die Privatversicherung nicht mehr. Wie lösen Sie das Problem?
Das lässt sich nicht ändern. Der Schutz des Staates gilt
nun mal nur für die Basisversorgung. Alles andere ist
privatrechtlich zu regeln – mit allen Unwägbarkeiten
eines privaten Versicherungsmarktes. Das ist im Bereich der Lebensversicherungen auch nicht anders.
Aber natürlich braucht es eine Übergangsfrist, sodass
sich die Bürger frühzeitig auf das neue System einstellen könnten.
Ihr Vorschlag führt zu einer Zweiklassenmedizin.
Stört Sie das nicht?
Die gibt es heute schon – nur dass sie im Versteckten
abläuft. Die Ärzte rationieren bereits. Das widerspricht
aber dem Gleichbehandlungsgebot. Wenn wir mit klaren Kriterien festlegen, was bezahlt wird und was nicht,
wäre das eine Rationierung, die sehr transparent ist.
Interview: Catherine Boss