Manuskript Beitrag: Der Kandidat der SPD – Herr Schulz und die Gerechtigkeit Sendung vom 31. Januar 2017 von Philipp Kosak, Tonja Pölitz, Martin Schiffler und Felix Zimmermann Anmoderation: Die alte Tante SPD hat einen neuen Onkel – oder neuen Neffen. 153 Jahre alt ist die Partei. Hundertzwanzig davon war sie in der Opposition. Und seit ein SPD-Kanzler Hartz IV erfand, hat sich der Zuspruch beim Wähler nahezu halbiert. Bis zur nächsten Bundestagswahl bleiben Martin Schulz noch 236 Tage. 236 Tage, um der SPD das soziale Profil wieder zu geben, das mit der Agenda 2010 abgeschliffen wurde. Doch während die Genossen bereits jubeln, muss der Hoffnungsträger noch Inhalte liefern. Unsere Autoren analysieren, was dran ist am Neustart der SPD. Text: Er war noch nicht mal als Kanzlerkandidat nominiert O-Ton Hannelore Fei, SPD-Anhängerin im Willy Brandt-Haus, am 29.01.2017: Er hat mich echt berührt. - da stiegen bereits die Umfragewerte der SPD. O-Ton Malte Jensen, SPD-Anhänger im Willy-Brandt-Haus, am 29.01.2017: Er hat Standpunkte klargemacht, wir wissen jetzt, wo es langgeht. Er hatte noch nicht als Kanzlerkandidat geredet O-Ton Martin Bus, SPD-Anhänger im Willy-Brandt-Haus, am 29.01.2017: Vielleicht mehr der Popstar. - da schloss er in punkto Beliebtheit fast zu Angela Merkel auf. O-Ton Simon Oldenbruch, SPD-Anhänger im Willy-BrandtHaus, am 29.01.2017: Wenigstens die Wahl gewinnen und danach kann man sich wieder streiten. 2.000 Partei-Neueintritte. O-Ton Sarah Rerbal, SPD Anhängerin im Willy-Brandt-Haus, am 29.01.2017: Er weiß, wie man’s macht. Phänomen Schulz. O-Ton Albrecht von Lucke, Publizist, Blätter für deutsche und internationale Politik: Was er gegenwärtig auslöst, ist vor allem ein gewisses Feuerwerk der Hoffnung. Es zeigt vor allem auch – dass er diese Hoffnungen macht – wie sehr die Partei davor sämtliche Hoffnungen ja sichtlich aufgegeben hatte. Auch für die Basis im nordrhein-westfälischen Bergheim ist Schulz der Mann, der Angela Merkel aus dem Kanzleramt vertreiben soll. O-Ton Martin Schulz, nominierter SPD-Kanzlerkandidat, am 29.01.2017: Unsere Partei, die SPD, tritt mit dem Anspruch an, bei der kommenden Bundestagswahl die stärkste politische Kraft in unserem Land zu werden. O-Ton SPD-Anhängerin vor dem Fernseher: Ja! Los, Martin! Schulz − der Sozi-Superstar. O-Ton Kai Faßbender, SPD, stellvertretender Bürgermeister Bergheim: Ja, wir hatten ja eine Vergangenheit mit der Agenda 2010 und viele Wunden hat das hinterlassen in der Bevölkerung - auch in der SPD. Und ich glaube, Martin Schulz kann das wirklich glaubwürdig rüber bringen, dass die SPD da einen Neuanfang macht. O-Ton Guido van den Berg, SPD, MdL Nordrhein-Westfalen: Ich finde, der Martin Schulz ist eine klasse, authentischer Typ, bei dem deutlich wird: Der brennt mit jeder Faser dafür für die Demokratie und für das, was jetzt ansteht. Doch brennt der Kandidat genug, um Millionen Wähler zurückzugewinnen? Schulz‘ Gewinnerthema scheint gesetzt: O-Ton Martin Schulz, nominierter SPD-Kanzlerkandidat, am 29.01.2017: Wenn es einer Familie mit Kindern, in der beide Elternteile arbeiten gehen, kaum reicht, die Miete in den Ballungsräumen zu zahlen, dann geht es nicht gerecht im Lande zu. Wenn ein Konzernchef verheerende Fehlentscheidungen trifft, darf er noch Millionen an Boni kassieren, eine Verkäuferin dagegen aber für eine kleine Verfehlung rausgeschmissen wird, dann geht es nicht gerecht im Lande zu. O-Ton Albrecht von Lucke, Publizist, Blätter für deutsche und internationale Politik: Martin Schulz hat völlig Recht, wenn er sagt: Wir haben ein gewaltiges Gerechtigkeitsproblem. Wenn wir uns bewusst machen, dass wir gegenwärtig Löhne haben − gerade im unteren Bereich − die sich von denen der 90er Jahre nicht unterscheiden beziehungsweise sogar tiefer sind im Durchschnitt, dann sieht man, dass die Kluft in diesem Lande zwischen Reich und Arm gewaltig gewachsen ist. Und die Hauptproblematik von Martin Schulz wird darin bestehen, deutlich zu machen, warum die SPD dafür nicht primär verantwortlich sein soll. O-Ton Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler: Man kann auf Folgendes hinweisen: Über 60 Prozent von Befragten sagen, mit der Agenda 2010 hat die SPD was Wichtiges dazu geleistet, dass Deutschland heute gut dasteht. Aber ungefähr die gleiche Zahl von Befragten sagt, mit der Agenda 2010 hat die SPD ihre Grundwerte verraten. O-Ton Peter Hartz, Pressekonferenz vom 16.08.2002: Jeder Arbeitslose hat ein Gesicht. Es ist der Moment, den Peter Hartz als schönen Tag für alle Arbeitslosen in Deutschland bezeichnet hat. Der Moment, der gleichzeitig für viele Genossen und Wähler aber die soziale Schieflage im Land vergrößert hat. Schröders Agenda 2010 - und die hat bis heute Konsequenzen. Beispiel Leiharbeit. Die hat die SPD mit ihrer Agenda-Politik in großem Ausmaß erst möglich gemacht. Heute sind Millionen Menschen in Leiharbeit oder mit Werkverträgen oft prekär beschäftigt. O-Ton Detlef Spichalski, Arbeitnehmer, Frontal 21-Sendung vom 7.06.2016: Die Arbeitgeber können ja machen, wie sie wollen. Die können die Leute entlassen, einstellen, wie sie wollen. Viele Unternehmen missbrauchen die Leiharbeit, um sichere Arbeitsplätze abzubauen. O-Ton Dietmar Schöne, Arbeitnehmer, Frontal 21-Sendung vom 7.06.2016: Jeder sieht zu, dass er einen festen Arbeitsplatz kriegt. Nee bei uns ist es umgedreht hier. Alles Asche hier. Beispiel Rente. Die Schröder-Regierung hat die gesetzliche Rente verringert: Und das hat Folgen bis heute. Selbst wer 41 Jahre lang für einen Stundenlohn von zehn Euro arbeitet, muss sich auf Altersarmut einstellen. O-Ton Petra Vogel, Reinigungskraft, Frontal 21-Sendung vom 08.11.2016: Ich bekomme nicht mehr als 650 Euro Rente. Das heißt, ich muss aufstocken. Ich kann dann an keinen kulturellen Aktivitäten mehr teilnehmen. Ich kann nicht schwimmen gehen, ich kann nicht auf ein Konzert gehen. Wovon soll ich das bezahlen? Beispiel Mindestlohn. Dem Niedriglohnsektor, infolge der Agenda, wollte die SPD mit einem Mindestlohn begegnen. Durchgesetzt hat sie ihn erst in der großen Koalition: 8,50 Euro, inzwischen 8,84, doch nicht mal das wird immer gezahlt. Aktuell rechnet die Hans-Böckler-Stiftung für 2015 vor: Knapp 50 Prozent der Minijobber wurde der Mindestlohn verweigert. Und wie verhält sich Martin Schulz zu den Folgen der Agenda? Der Mann für den Neuanfang und für klare Worte sitzt seit 1999 im SPD-Präsidium. Fragen zur Agenda aber weicht er lieber aus. O-Ton Peter Frey, ZDF Chefredakteur in der Sendung „WAS NUN?“, am 29.01.2017: Der Kern der Frage − der politische Kern − heißt ja eigentlich: Distanzieren Sie sich von der Agenda 2010? Sind die Zeiten vorbei? O-Ton Martin Schulz, nominierter SPD-Kanzlerkandidat, in der Sendung „WAS NUN?“, am 29.01.2017: Die Agenda war eine Debatte des Jahres 2003. Wir sind jetzt im Jahre 2017, ich würde gerne über die Zukunft der nächsten zehn Jahre reden. Ist Martin Schulz das unbeschriebene Blatt, das für Neuanfang steht? Kann er den Unbeteiligten in punkto Agenda-Reform geben? O-Ton Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler: Oh nein. Also, wer so eine Legende konstruieren will, dem wird man sagen müssen, dass Schulz eigentlich zu denen gehört, die als Modernisierer aufgetreten sind. Das heißt, die schon mitvorbereitet haben, die Agenda 2010. Insofern ist er nicht unbeleckt. Insofern kann er eigentlich auch nicht ohne sich selbst zurückzunehmen sagen: Wir können das alles korrigieren. O-Ton Albrecht von Lucke, Publizist, Blätter für deutsche und internationale Politik: Die zentrale Frage - Martin Schulz hat sie angesprochen dass man im Bereich der Leiharbeit, des Niedriglohnes, genau der Menschen die mehrere Jobs ausfüllen, davon aber kaum leben können, dass man diese Frage nur mit Rückgriff auf die Agenda 2010 beantworten kann. Die ja exorbitante Zuwächse in der Leiharbeit geschaffen hat. Dieser Frage ist Martin Schulz ausgewichen und ich glaube, er wird damit nicht durchkommen. Denn bei aller Euphorie, Martin Schulz tritt ein schweres Erbe an. Der Zuspruch beim Wähler hat sich halbiert. Lag die Partei 1998 noch bei über 40 Prozent, landeten die Sozialdemokraten 2017 bei Umfragewerten von 20 Prozent. Die Zeichen standen schon vor Schulz häufiger mal auf Neuanfang. O-Ton Sigmar Gabriel, SPD-Parteivorsitzender, am 13.11.2009: Wir müssen uns die Zeit nehmen zu prüfen, woran es denn gelegen hat, dass die Mehrheit der Deutschen in allen Umfragen sozialdemokratische Antworten auf die Krise geben oder sie fordern, der sozialdemokratischen Partei bei der letzten Bundestagswahl aber nicht geglaubt hat, dass wir diese Antworten wirklich geben wollen. Acht Jahre später hat Martin Schulz nun die nächste Chance sozialdemokratische Antworten zu liefern. Der Neue bei „Anne Will“ und beim Versuch enttäuschte SPDWähler zurückzugewinnen - setzt statt konkreter Antworten auf Vertrauensvorschuss. O-Ton Martin Schulz, nominierter SPD-Kanzlerkandidat in der Sendung „Anne Will“, am 29.01.2017: Der Vertrauensvorschuss ist ja ein Vorschuss auf das, was kommt. Und jetzt sagen Sie, Sie müssen erst liefern, dann wähle ich dich. Wenn wir aber eine Mehrheit für soziale Gerechtigkeit haben wollen, dann müssen Sie die Partei, die dafür steht, auch wählen. O-Ton Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler: Ja, natürlich muss er Butter bei die Fische. Wann bitteschön garantierst du, wird denn durchgesetzt, dass alle, die den Anspruch auf Mindestlohn haben, auch den Mindestlohn kriegen? Wann bitteschön garantierst du denn, dass die Mietpreisbremse funktioniert? Er kann nicht nur sozusagen simulieren, es gibt ein sozialdemokratisches Heimchen am Herd, da habt ihr Wärme und Geborgenheit, und ich bringe euch schon die Kohlen, damit es genügend warm bleibt. Das läuft nicht. Schulz als Hoffnungsträger für die SPD. O-Ton Martin Schulz, SPD, nominierter Kanzlerkandidat, am 29.01.2017: Wir sind die Gewissheit, dass wir die Dinge zum Besseren wenden können. Das funktioniert. O-Ton Martin Schulz, SPD, nominierter Kanzlerkandidat, am 29.01.2017: Signalisieren, dass die Menschen in diesem Lande, die hart arbeitenden Menschen, dass sie sich auf uns verlassen können. Doch Mut und Zuversicht, das reicht vielleicht für die Parteizentrale. Zehn Millionen verlorene Wähler aber werden wohl erst wieder vertrauen, wenn sie klare Konzepte sehen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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