Manuskript_Vera Lourie

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
„Auf dem kalten Asphalt von Berlin“
Die russische Dichterin Vera Lourié, die Revolution, das Exil
Ein Feature von Doris Liebermann
Produktion: DLF 2017
Redaktion: Ulrike Bajohr
Erstsendung: Freitag, 03.02.2017, 20:10-21:00 Uhr
Regie: Anna Panknin
Erzählerin – für Autorin-Text: Kerstin Fischer
Zitate von Vera Lourié: Wieslawa Wesolowska
Zitator 2: Daniel Berger
Zitatorin: Olga Thieleke
Zitator 3: Russisches Gedicht von Waginow: Mark Zak
Zitator für Gedichte von Vera Louriè: Mark Zak
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- unkorrigiertes Exemplar 1
01) O-Ton Vera Lourié
„Die Februarrevolution wurde empfangen mit Begeisterung von der ganzen
Intelligenzja. Alle rannten auf die Plätze, wo Kerenskij gesprochen hat. Man
nannte ihn aber später „der kleine russische Napoleon“, weil er sehr schön
gesprochen hat, aber eigentlich das war alles. Er war gar nicht genug stark,
um die Regierung und das Volk und die Soldaten und jemanden halten zu
können.
02) O-Ton Kerenskij: La grande guerre
03) O-Ton Vera Lourié
Ich bin natürlich auch gerannt, alles lief mit roten kleinen Fahnen, man war
überhaupt ganz glücklich und zufrieden. Aber dann kam Lenin, und als Lenin
kam, und Kerenskij ist geflohen aus Petrograd, war man weniger natürlich
glücklich, weil sein Programm war ziemlich grausam sofort. Die
Oktoberrevolution war sehr grausam.“
04) O-Ton Lenin, russisch
Musik
05) O-Ton Vera Lourié: Gedicht Pawlowsk, Datscha / russisch
Auf russischen O-Ton
Zitatorin Vera: (Interlinear-Übersetzung)
Am Bahnhof von Pawlowsk /warten Menschen auf ihre Sonntagsgäste/,
auch Gymnasiasten in Uniform und plappernde Mädchen.
Dieser Sommer und diese Menschen/ kommen nicht wieder, nur die
unbarmherzige Lüge der Träume bleibt.
Die Sehnsucht schleicht wie ein Schatten durchs Zimmer,/
sie flüstert von der verlorenen Vergangenheit.
Vor meinen Augen sehe ich den Bahnhof in Pawlowsk,
sehe die Züge vorbeifahren...
Und ich weiß: auf dem kalten Asphalt von Berlin
kann ich der Sehnsucht nirgends entgehen.
Musik:
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Ansage:
„Auf dem kalten Asphalt von Berlin“
Die russische Dichterin Vera Lourié, die Revolution, das Exil
Ein Feature von Doris Liebermann
Erzählerin:
Eine schöne junge Frau. Elegant gekleidet, ein wacher,
selbstbewusster Blick. Berlin 1923. Vera Lourié auf einem Foto, neben
ihr: El Lissitzky, Ilja Ehrenburg, Viktor Schklowskij. Das Foto,
eingeklebt in ein kleines, graues Album, dessen Seiten schon
auseinanderfielen, war eines der wenigen Erinnerungsstücke, die Vera
Lourié geblieben waren.
Als Dichterin war sie in Vergessenheit geraten.
In den frühen 1980er Jahren hatte sie der amerikanische Slawist
Thomas Beyer wiederentdeckt, als er nach den Spuren des
Schriftstellers Andrej Belyj in Berlin suchte. Er trug die russischen
Gedichte von Vera Lourié zusammen und gab sie 1987 im Berliner
Wissenschaftsverlag Arno Spitz heraus.
Beyer ermutigte mich, die Dichterin zu besuchen.
Damals studierte ich am Osteuropa-Institut der Freien Universität. Ein
Telefonanruf genügte, und schon lud mich die alte Dame mit der
energischen Stimme zum Tee ein.
Musik
Erzählerin:
Vera Lourié, weißhaarig, klein, gebrechlich, lebte in einer
bescheidenen, heruntergekommenen Hinterhofwohnung in
Wilmersdorf. Ein Klavier, an den Wänden das Portrait der Mutter und
russische Landschaften. Zwei Katzen. Weil sie nicht alle Kosten von
ihrer Rente bestreiten konnte, vermietete sie zwei Zimmer an
Studenten, die ihr im Alltag zur Hand gingen. Sie selbst nahm mit dem
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Durchgangszimmer vorlieb.
Man fühlte sich an die Notgemeinschaften russischer „Kommunalkas“
erinnert. Welch ein Kontrast zu dem Wohlstand, in dem sie
aufgewachsen war ...
Musik
Erzählerin:
Geboren wurde Vera Lourié 1901 in St. Petersburg. Der Großvater war
ein erfolgreicher Börsenmakler, der Vater, ein Arzt, besaß eine eigene
Klinik.
Man sprach fließend Französisch und reiste im Sommer in deutsche
Badeorte. Der Großvater hatte eine Loge in der Oper, Vera kannte
schon als Kind die berühmten Sängerinnen und Sänger der Zeit. Sie
erlebte Theateraufführungen mit, die Geschichte machten.
06) O-Ton Vera Lourié
Ich war erst siebzehn oder achtzehn Jahre. Dann kam nach Petersburg ein
Gastspiel von dem Moskauer Künstlertheater. Stanislawski war der
Regisseur und der Schauspieler in dem Theater, und war sehr berühmt wie
für seine Aufführungen, die sich ziemlich unterschieden von der Art anderer
Aufführungen, und war besonders auch berühmt, auch sein Theater, für die
Sachen von Tschechow. Die Frau von dem verstorbenen Tschechow, Olga
Knipper, spielte ja fast die ganzen Hauptrollen in den Sachen von
Stanislawski. Stanislawski selbst spielte den Hauptmann Werschinin,
Katschalow, den man kannte mit seiner Samtstimme, war Baron
Tussenbach und Olga Knipper spielte die älteste Schwester Mascha. Das
Stück war glänzend. Sie spielten enorm gut. Ich war so beeindruckt, ich
wusste gar nicht mehr, wo ich in der Welt war. Diese letzten Worte: „Nach
Moskau, nach Moskau, nach Moskau“, sie klangen noch in meinen Ohren,
als wir mit der Droschke nach Hause fuhren. Es war April. Es nieselte, die
Luft roch nach Regen. Und für mich war alles Zukunft, und diese Zukunft
schien mir so rosa und so schön nach diesem Stück.“
Erzählerin:
Die Revolution 1917 kam dem Freiheitsdrang der jungen Vera zunächst
entgegen. Dem Sturz des Zaren und der Bildung einer Provisorischen
Regierung im Frühjahr folgten im Herbst der Sturm auf das
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Winterpalais und die gewaltsame Machtübernahme durch die
Bolschewiki. Lenin verkündete:
Take 7) O-Ton Lenin russisch
darauf Zitator 1/Lenin:
Zum ersten Mal in der Welt ist die Staatsmacht bei uns in Russland so
organisiert, dass nur die Arbeiter, nur die werktätigen Bauern, unter
Ausschluss der Ausbeuter, Massenorganisationen bilden, die Sowjets,
und diesen Sowjets ist die gesamte Staatsmacht übertragen …
Die Sowjetmacht ist der siegbringende Weg zum Sozialismus.
08) O-Ton Vera Lourie
Die Oktoberrevolution war sehr grausam. Die betrunkenen Matrosen haben
den Junkern, das waren die ganz jungen Offiziere, und den Kadetten, das
waren die Offiziersschüler, Striemen aus dem Rücken herausgeschnitten.
Man hatte Angst, auf die Straße zu gehen. Dauernd waren Heimsuchungen
gemacht, und es war auch nichts zu essen im Großen und Ganzen. Da
waren natürlich Hamsterer wie immer, und da wir Glück hatten, dass mein
Vater zuletzt vor der Revolution, war Chef von einem Hospital in der Nähe
von Petrograd, so hatten wir sehr viel Wäsche und wir haben das immer
getauscht. Da hat bei uns gewohnt ein früheres Dienstmädchen meiner
Großeltern mit ihrem Freund, und der war so ein Hamsterer. Er fuhr immer
aufs Land damit und hat dafür Lebensmittel gebracht. Und so haben wir
nicht gehungert, denn zu der Zeit, wenn man konnte einen Kuchen backen
aus Roggenmehl mit bisschen Süßstoff, das war schon ein Ereignis.“
Erzählerin:
In den Jahren allgemeiner Not belegte Vera Kurse im neu gegründeten
Petrograder Haus der Künste.
09) O-Ton Vera Lourié
Ich habe mir ausgesucht, zwei Studien zu besuchen. Die eine Studie, das
war die Dichterstudie, die der Dichter Nikolaj Gumiljov führte, sehr bekannter
Dichter damals, die zweite von einem Regisseur, Nikolaj Evrejnov. Er hat
geschrieben ein Schauspiel, was sogar in fast alle Sprachen übersetzt
wurde. Es hieß „Die Hauptsache“. ... Wir haben uns also mit Gumiljov sehr
befreundet, und nach diesen Vorträgen und Unterricht gingen wir alle
spazieren. Wir gingen spazieren immer in großen Gruppen, gingen an der
Newa spazieren, am Ufer der Newa, und es war so schön, es war eine so
irgendwie verwilderte Stadt. Gras wuchs einfach auf der Straße, alles war
verwüstet, und das hatte einen gewissen Charme dieser Verwüstung. Da
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habe ich später in Berlin sogar solche Gedichte geschrieben darüber.
Gumiljov war auch bei mir in der Wohnung gewesen, das war das letzte Jahr
seines Lebens und das letzte Jahr unseres Lebens in Petrograd. Es war
mein Geburtstag, und da waren mehrere Leute bei mir, und es war eine Zeit,
wo man durfte nachts nicht auf der Straße gehen, und so verbrachten wir bei
mir die ganze Nacht und ich erinnere mich, wir saßen alle so quer auf
meinem Bett und erzählten uns Geschichten.
Erzählerin:
Gumiljow war der erste Ehemann der Lyrikerin Anna Achmatowa und
eine schillernde Figur in Petrograd, wie die Stadt seit Beginn des
Ersten Weltkrieges hieß. Die Gruppe junger Künstler, die er
unterrichtete und der Vera Lourié angehörte, nannte sich „Die tönende
Muschel“. Gumiljows Einfluss auf seine Schüler war stark, ihre Verse
sind von ihm geprägt.
09f) O-Ton Vera Lourié
Interessant war noch meine Bekanntschaft mit Gumiljov, wie ich überhaupt
an ihn rankam. Es war ein Tanzabend, und Gumiljov tanzte nicht, er stand
irgendwo in der Ecke mit dem Dichter Ossip Mandelstam. Und da habe ich
mit jemandem von den jungen Leuten gewettet, dass ich jetzt an den Herrn
Gumiljov herangehe und ihn zum Tanzen einlade. Und das habe ich auch
erfüllt. Ich bin an ihn rangegangen und habe zu ihm gesagt: „Nikolaj
Stepanowitsch, darf ich Sie bitten, mit mir zu tanzen?“ Er hat mir gesagt: „Ich
tanze nicht, aber ich kann doch einer jungen Dame nicht Nein sagen.“ Und
so hat er mit mir etwas getanzt.
Erzählerin:
Der von Vera Lourié verehrte Lehrer machte keinen Hehl daraus, dass
er Lenins bolschewistisches Regime ablehnte. Anfang August 1921
wurde der 35-jährige Dichter verhaftet und drei Wochen später mit 60
weiteren Menschen erschossen. Vergeblich hatte sich Maxim Gorki für
ihn eingesetzt.
Take 11) O-Ton Vera Lourié
Eines schönen Tages bin ich gekommen in das Haus der Kunst und da hat
mir jemand schnell gesagt: „Bitte, geh nicht in die Räume von Gumiljov. Dort
sitzen Tscheka-Leute und fangen Leute ab, die zu ihm kommen. Er ist
festgenommen worden.“
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Musik/Totenmesse
Als Gumiljov also erschossen wurde, haben wir beschlossen, einen
Totendienst in dem Kazanskij-Dom zu zelebrieren, und zufälligerweise habe
ich Anna Achmatowa, seine erste Frau getroffen, die berühmte Dichterin. Ich
bin an sie herangegangen, ich war persönlich nicht mir ihr bekannt, und
habe zu ihr gesagt: „Anna Andrejewna, wir haben jetzt einen Totendienst im
Kazanskij Dom für den Sklaven Gottes Nikolaus, weil man konnte ja den
Namen Gumiljov nicht nennen, er war ja Konterrevolutionär und war
erschossen. Sie ist natürlich gekommen.“
Musik Totenmesse
Darauf Gedicht Vera Lourié „Auf den Tod von Gumiljow“
Zitatorin Vera Russisch:
НА СМЕРТЬ ГУМИЛЕВА
Никогда не увижу вас
Я не верю в эти слова!
Разве солнечный свет погас,
Потемнела небес синева
Zitatorin Vera / Interlinear-Übersetzung
Niemals werde ich Dich wiedersehen
Nicht glauben kann ich diesen Worten!
Ist das Sonnenlicht wirklich erloschen,
Hat der blaue Himmel sich verdunkelt?
Erzählerin:
Ein anderer berühmter Dichter der Zeit war Alexander Blok – das Idol
der jungen russischen Intelligenz. Er sah die Machtergreifung der
Bolschewiki mystisch-verklärt und starb im Alter von 40 Jahren kurz
vor der Ermordung Gumiljovs – „an seelischer Zerrissenheit“, so hieß
es.
12) O-Ton Vera Lourié
„Blok habe ich einmal lebend in meinem Leben gesehen. Es war ein
literarischer Abend, Blok hat gelesen seine Gedichte. Ich weiß natürlich nicht
mehr, was er gelesen hat, es sind ja schon x Jahre vergangen, ich weiß nur,
dass man ihm geschrien hat: „Gedichte über Russland“. Da hat er geschaut,
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er hatte überhaupt ein Gesicht wie eine Maske, und da hat er gesagt:
„Wieder Worte über Russland“. Mehr habe ich Blok am Leben nicht
gesehen. Das nächste Mal lag er - tot – in seiner Wohnung und es war ein
Todesdienst, Gottesdienst. Und dann war sein Begräbnis. Da war ungefähr,
zum Begräbnis, das ganze literarische und überhaupt kulturelle Petrograd
anwesend. Einzelheiten über dieses Begräbnis sind mir natürlich schon
entfallen. Ich weiß nur, dass man damals gesagt hat: „Würde man jetzt eine
Bombe schmeißen, dann würde nichts mehr bleiben von der literarischen
Welt und von der kulturellen Welt Petrograds.“
Erzählerin:
Sowjetrussland wurde in dieser Zeit von Bürgerkrieg, Hunger und
Angst beherrscht. Über eine Million Menschen verließen das Land.
Auch Vera Louriés Großvater beschloss, aus Petrograd zu fliehen. Er
galt in den Augen der Bolschewiki als „bourgeois“, als
„Konterrevolutionär“ und musste befürchten, hingerichtet zu werden.
Veras Vater wurde als Arzt gebraucht, aber die Lage war auch ihm zu
gefährlich. Mit gefälschten Pässen, die ihnen eine lettische Herkunft
bescheinigten, gelang den Louriés die Flucht.
13) O-Ton Vera Lourié
Im Herbst desselben Jahrs, wo gerade Blok starb und Gumiljov erschossen
wurde, haben wir Russland verlassen. Ich habe noch in Berlin, als ich
ankam, ein Gedicht geschrieben, welches endete, dass ich meine Seele auf
dem Bahnhof verloren habe, ich war sehr, sehr traurig, ich habe sehr, sehr
geweint, denn mein Leben war natürlich schön geworden, ich hatte mich mit
Politik ja nicht beschäftigt. Ich habe mich mit dem Kreis der Dichter getroffen
und ich erinnere mich, dass im Hof, als wir wegfuhren, Waginow stand, der
mein großer Freund war und uns begleitete.
Erzählerin:
Der Lyriker Konstantin Waginow schrieb Vera Lourié zum Abschied
gefühlvolle Zeilen in ein Büchlein ihrer Lieblingsdichterin Anna
Achmatova – das einzige Schriftstück aus ihrer Heimatstadt, das ihr
blieb.
Zitator 3 Waginow/ Russisch:
Упала ночь в твои ресницы,
Который день мы стерёжем любовь;
Антиохия спит, и синий дым клубится
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Среди цветных умерших берегов.
Zitator Waginow Deutsch:
Die Nacht fiel in deine Wimpern,
Wie viele Tage lang schon hüten wir die Liebe;
Antiochia schläft, und blauer Rauch steigt auf
Über farbigen erstorbenen Ufern.
Musik:
14) O-Ton Vera Lourié:
Gefahren sind wir in Tierwagen. So, jetzt waren wir in Lettland. In Lettland,
als wir nach Lettland kamen, die Grenze nach Reschiza. In diesem Reschiza
musste mein Vater gehen zum Stationsvorsteher oder ich weiß nicht mehr,
zu wem jetzt, und musste zugeben, dass wir keine lettischen Papiere haben,
dass wir keine Letten sind, dass wir nur geflohen sind aus Russland. Die
ganzen Leute kamen in Baracken. Es waren massenhaft Leute, man musste
gehen in eine Art Sauna, sich waschen. Essen bekam man schreckliches,
und als einziges, was meinem Vater gelang, weil er war Arzt, dass man uns
erlaubte, auf dem Bahnhof essen zu gehen. Zu unserem großen Glück
befand sich in Riga ein Freund oder Bekannter meines Großvaters, ein
Kaufmann. Er ist dann gekommen und hat uns einfach abgeholt und
gebracht nach Riga. In Riga war eine Masse von Essen, es war Schinken,
es war Butter, also die Läden waren voll, es war fast etwas wie ein Paradies
im Vergleich mit Petrograd die letzte Zeit. Aber das war wahrscheinlich für
mich nicht genügend, und ich wollte unbedingt nach Berlin kommen, weil ich
wusste, in Berlin gibt es eine literarische Welt, die natürlich damals in Riga
absolut nicht existierte. Es war eine sehr langweilige Stadt. Meine Mutter
wollte auch nach Berlin, weil ihr Vater befand sich in Berlin. So sind wir nach
einem Monat Riga mit meiner Mutter, mit meiner kleinen Schwester und mit
meinem kleinen Bruder nach Berlin gefahren. Mein Vater kam dann nach
einem Monat nach. Für ihn war es überhaupt sehr schlecht, weil in Riga
konnte er als Arzt praktizieren, was er in Berlin nicht konnte.
Erzählerin:
Deutschland war ein Hauptziel des russischen Emigrantenstromes –
und Berlin die Metropole der russischen Kunst, Kultur und Politik.
Als die Louriés 1921 in der Stadt eintrafen, hatte sich bereits ein reges
russisches Geistesleben entwickelt. Es gab Verlage, Buchhandlungen
und mehrere russische Zeitungen.
Marc Chagall erinnerte sich so:
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Zitator 2:
„In den Appartements im Viertel um den Bayerischen Platz gab es
beinahe so viele Samowars, theosophische und tolstojanische
Comtessen wie einst in Moskau. In den Untergeschossen der
russischen Restaurants in der Motzstraße gab es mehr russische
Generäle und Hauptleute als in einer zaristischen Garnisonstadt, doch
waren sie nun Köche und Geschirrwäscher. Was mich betrifft, habe ich
mein Leben lang nie wieder so viele Wunder-Rabbis wie im Berlin von
1922 gesehen, so viele Konstruktivisten ...“
Erzählerin:
Zu Beginn meines Studiums in Westberlin erfuhr ich nicht, dass viele
berühmte russische Künstler wie Vladimir Nabokov, Leonid Pasternak,
Iwan Puni oder Wiktor Schklowskij in Berlin gelebt hatten. Erst in den
1980er Jahren wandte sich die Forschung dem russischen Berlin zu.
Ich schrieb meine Magisterarbeit darüber, die langen Interviews, die ich
damals mit Vera Lourié führte, halfen mir dabei.
Take 15) O-Ton Vera Lourié
In Berlin habe ich sehr schnell erfahren, dass es gibt ein sogenanntes Haus der Kunst, in
einem gewissen Café Landgraf, habe ich meine eigenen Gedichte gelesen, und da kam an
mich ran Andrej Belyj, der dort sich befand, was für mich ein Ereignis war, ich konnte mir
überhaupt nicht vorstellen, dass ich die Ehre haben werde, jemals in meinem Leben mit
diesem Menschen zu sprechen. Denn er war in Russland als Schriftsteller ungefähr wie
hier, sagen wir, vielleicht noch mehr, als Thomas Mann. Und er hat zu mir gesagt: „Bringen
Sie mir doch bitte Ihre Gedichte für die Zeitschrift Epopea.“ Ich war sehr stolz und ich war
sehr jung. Also in einigen Tagen habe ich ihm einige Gedichte gebracht, und da passierte
folgendes, dass der Verleger, ein gewisser Abram Vishniac, mir gesagt hat: „Ihre Gedichte
in meiner Zeitschrift kann ich nicht veröffentlichen, dazu sind sie mir nicht gut genug. Aber
damit Sie nicht traurig sind, ich kann Ihnen eine Flasche Eau de Cologne oder eine Flasche
Parfüm schenken.“ Ich war sehr beleidigt natürlich und wollte kein Eau des Cologne und
kein Parfüm bekommen.
Musik
O-Ton 15) Vera Lourié weiter:
Daraufhin haben wir uns mit Belyj sehr befreundet. Manchmal, als Belyj wohnte am ViktoriaLuise-Platz in einer Pension, ist er mit mir gegangen in ein großes, langes Café, wo man
getanzt hat, auch am Viktoria-Luise-Platz. Und Belyj hatte absolut keine Ahnung von den
modernen Tänzen der Zeit, aber er hat getanzt. Er hat getragen einen schwarzen Gehrock,
dazu eine riesengroße Schleife anstatt Schlips und hat mir mit etwas getanzt, was wirklich,
ich weiß gar nicht, wie man das nennen soll, aber das wirklich nichts gemein hatte mit den
normalen Tänzen der Deutschen, die sich dort befanden. Die Begeisterung der Deutschen
an den Tischen war enorm. Und ich habe Blumen bekommen.“
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Erzählerin:
Der Symbolist Andrej Belyj war als begeisterter Anhänger von Rudolf
Steiner schon vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland gewesen. Eine
Zeitlang hatte er auch in Dornach in der Schweiz, dem Zentrum der
Anthroposophie, gelebt. Knapp zwei Jahre blieb er in Berlin und gab
zusammen mit Maxim Gorki die Zeitschrift „Beseda“ – Gespräch –
heraus. Belyj konnte dem Leben im Exil nichts abgewinnen: er kehrte
1923 nach Moskau zurück und schrieb ein Buch mit dem Titel: „Im
Reich der Schatten“:
Zitator 2/ Belyj:
„Mehr als einmal sah ich in den erleuchteten, prunkvoll eingerichteten
Berliner Restaurants ein tieftrauriges Erlöschen des Bewusstseins, das
unter der Last wachsender Dumpfheit vollends zerbrach beim
Herausgehen …auf die Straße, die dem Bürger ihre drohenden
Schatten entgegenschickte. An mir selbst spürte ich das Verlöschen
des Lichtes, das mir in Russland noch leuchtete. Mich umgaben die
Anzeichen eines paralysierten Bewusstseins, das in seiner
Eingeengtheit der animalischen Natur in die Arme fällt. Da erstand
ganz Berlin vor mir als ein ‚Domizil des Gespensterreichs’.“
16) O-Ton Vera Lourié
Außer meiner Freundschaft mit Andrej Belyj war ich sehr befreundet mit dem
Ehepaar Ehrenburg. Ilja Ehrenburg, der Schriftsteller, und seine Frau unter
dem Namen Kosinzewa, war Malerin, ihr Bruder aber in der Sowjetunion
berühmter Regisseur. Mit ihnen habe ich viele schöne Abende verbracht.
Sie haben mich mitgenommen zu der „Dreigroschenoper“, ich war mit ihnen
zusammen in dem Lokal „Schwannecke“, was sehr damals berühmt war von
prominenten Schriftstellern, deutschen. Da habe ich kennengelernt den
Ernst Toller, den Eggebrecht, den Leonhard Frank, ich habe niemand sehr
nahe gekannt, aber ich habe mit ihnen etwas gesprochen.
Musik:
Zitatorin Vera/ Gedicht Vera Lourié [1989]
Berlin
Berlin im Leuchten der Laternen
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Wir rasen durch die Straßen
Im Radio Musik
Der herbstliche Himmel schwarz,
ohne Sterne
Ich schaue durch das Fenster
Mit einem traurigen Blick.
[...]
Da wohnte Alexis, der russische
Anwalt
Und ich war so glücklich, die
große Liebe
Die Liebe ohne Schranken, ohne
Halt.
Prager Diele. Maler und Dichter.
Ehrenburg empfing seine Freunde hier.
Die Abende im Café schienen mir
sehr wichtig.
Keine Musikbox, ein Mann am Klavier
In dieser Stadt verging meine Jugend
Und alles erinnert mich an die vergangene Zeit.
Die Vergangenheit, wie Steine,
fällt in den Abgrund
Nicht kehrt zurück, alles
bleibt unendlich weit!
17) O-Ton Vera Lourié
Zu der Zeit waren zwei literarische Bewegungen, die eine war linker, und
das war der Ilja Ehrenburg, er hatte seinen Tisch im Café „Prager Diele“.
Schon morgens nach dem Frühstück ging er dorthin und da hat er auch
immer geschrieben und gearbeitet im Café. Abends, er hatte seinen
Stammtisch, kamen alle Leute, die zu ihm kamen, dorthin. So waren es sehr
viele interessante Begegnungen. Z. B. Jessenin kam, dann kam ein
bekannter russischer Clown, er hieß Durow und brachte mit sich seine
Ratte. Es war eine gezähmte Ratte, eine sehr kluge Ratte, sie saß in so
einem Holzhäuschen, kam aber raus und spazierte auf den Rücken der
Menschen.
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Mit Jessenin hatte ich eine drollige Bekanntschaft, nicht sehr für mich
schmeichelhaft. Ich habe über Jessenins Poem „Pugatschow“ eine Kritik
geschrieben in der Zeitschrift „Dni“. Und diese Kritik war nicht gut.
Kam ich eines Abends in die „Prager Diele“ und man brachte mich an einen
Tisch, an den Tisch von Ehrenburg, und da saß ein sehr hübscher,
russischer, sagen wir, russischer Bauernjunge mit blondem, lockigem Haar,
und man sagte mir: „Das ist Sergej Jessenin“. Er sagte mir „Guten Tag, ich
glaube, Sie sind vollkommen im Unrecht mit ihrer Rezension“. Mir war es
sehr, sehr peinlich.
Erzählerin:
Das lyrische Drama über den russischen Bauernführer Pugatschow
hatte Jessenin erst kurz zuvor veröffentlicht. Wegen der überladenen
Sprache hatte er immer wieder Kritik hinnehmen müssen.
18a) O-Ton Sergej Jessenin russisch (alte Aufnahme aus den 20er
Jahren, Jessenin deklamiert aus „Pugatschow“)
Zitator 2/ Jessenin:
Wahnsinniges, rasendes blutiges Schlammgewühl!
Was bist du! Der Tod? Oder Krüppeln Genesung?
Bringt mich hin, bringt mich hin zu ihm,
Ich will diesen Menschen sehen.
Musik:
Erzählerin:
Vera Louriés Gedichte erschienen in russischen Journalen, die in
Berlin verlegt wurden; ihr Name stand neben denen prominenter
Dichter wie Boris Pasternak oder Marina Zwetajewa. Um Geld zu
verdienen, schrieb sie für in- und ausländische Blätter, auch für die
Zeitung „Dni“, die der Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, der von
Lenin gestürzte letzte russische Premierminister, herausgab. Auch er
war nach seiner Flucht aus Russland in Berlin gelandet.
20) O-Ton Vera Lourié
Mein Redakteur war Ossorgin, ein Schriftsteller, der ausgewiesen war
zusammen mit einer Reihe russischer Professoren aus der Sowjetunion. Mit
dem habe ich mich auch sehr befreundet und habe mit ihm auch sehr gern
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zusammengearbeitet. Ich erinnere mich, wie er das erste Mal mir mehrere
Bücher gab und sagte: „In drei oder vier Tagen müssen die Rezensionen
fertig sein.“ Ich war entsetzt und sagte zu ihm: „Wie kann ich denn diese
Bücher so schnell lesen?“ „Wozu lesen?“, hat er zu mir gesagt, „man guckt
durch, das genügt doch vollkommen.“ Später habe ich diese Theorie sehr
gut verstanden und konnte sehr gut schnell die Rezensionen bringen. Man
verdiente natürlich nicht viel, und man versuchte, wenn man etwas
verdiente, das Geld sofort zu verwenden. Denn am nächsten Tag hatte es
schon gar keinen Wert mehr. Dafür aber, wenn man das Glück hatte, für
irgendwelche ausländischen Ausgaben etwas zu schreiben und bekam
einen oder zwei Dollar, war man ein reicher Mensch und konnte halb Berlin
kaufen.“
Musik
Erzählerin:
Ab Mitte der 20er zogen die russischen Emigranten aus dem
inflationären Berlin weiter: nach Paris, nach Prag, nach Amerika - oder
sie kehrten in die Sowjetunion zurück. Nach Hitlers Machtantritt wollte
auch Vera Lourié Berlin verlassen und wandte sich an Michail
Ossorgin, der inzwischen in Paris lebte.
Zitator 2/ Ossorgin:
Liebe Verotschka,
ich bin sehr betrübt, dass ich Ihnen nur eine sehr unangenehme
Antwort geben kann. Abgesehen davon, dass eine Reise hierher zu
organisieren unwahrscheinlich schwierig ist, wüsste ich gar nicht, wie
das zu bewerkstelligen wäre, und vor allen Dingen ist es kaum
denkbar, hier irgendeine Arbeit zu finden. Die Arbeitslosigkeit ist selbst
unter den Franzosen sehr hoch, von Ausländern ganz zu schweigen.
Die Armut ringsum ist zum Verzweifeln. Natürlich verstehe ich, dass es
für Sie in Berlin nicht leicht ist – aber wäre es hier nicht hundertmal
schlimmer!
... ich denke mit Schrecken daran, in welche Lage Sie hier geraten
könnten.
Und darum, wenn Sie irgendeine Möglichkeit haben, und sei es
hungernd, in Berlin zu leben, - dann bleiben Sie! Und wenn nicht –
dann geht man eben zugrunde, egal wo.
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Ihr ergebenster Michail Ossorgin, Paris, 6. November 1933”
Erzählerin:
Vera folgte Ossorgins Rat und blieb in Berlin.
Ihre Familie war im Exil verarmt. Erst zwölf Jahre nach ihrer Flucht aus
Sowjetrussland, 1933, hatten die Louriés eine eigene Wohnung
gefunden - armselig, verwanzt. Dort, in der Westfälischen Straße 56,
sollte die Dichterin ihr Leben lang wohnen bleiben. Ihr Vater starb
1937, ihre Schwester emigrierte nach England, ihr Bruder schaffte es
nach Argentinien, wo er jahrelang illegal lebte. Die Geschwister waren
bitterarm und konnten der Mutter, einer Jüdin, kein Affidavit
beschaffen, jene eidesstattliche Erklärung, die Unterstützung im
Aufnahmeland zusicherte.
21) O-Ton Vera Lourié:
Durch eine uns bekannte Dame bekamen meine Schwester und ich Papiere,
dass wir als Dienstmädchen ausreisen können.
Meine Schwester ist damals weggefahren, ich war als Mischling halb
anerkannt, halb nicht, aber sie konnten mir nicht das Gegenteil beweisen.
Ich habe dauernd mit dem Sippenforschungsamt korrespondiert.
Erzählerin:
Vera Lourié, nach Lesart der Nazis ein „Mischling“, blieb mit der Mutter
in Berlin.
Hitler war schon an der Macht, als Vera in einem russisch-jüdischen
Club ihre Gedichte vortrug. Sie lernte einen russischen Rechtsanwalt
kennen: Alexander Posnjakow - und verliebte sich in ihn. Posnjakow
verschaffte Juden, die Deutschland verlassen wollten, gefälschte
Papiere.
Am 2. November 1938 fuhr Vera zu Posnjakow. Das Dienstmädchen
teilte ihr mit, dass er verhaftet worden sei. Vera nahm ein Buch an sich,
von dem sie wusste, dass darin ein luxemburgischer Pass ihres
Geliebten versteckt war. Kurze Zeit später rief das Dienstmädchen sie
an: Posnjakow sei freigelassen worden, sie solle sofort mit dem Buch
zurückkehren.
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In Posnjakows Wohnung wartete schon die Gestapo auf Vera Lourie.
Sie saß im Gefängnis am Alexanderplatz in einer Zelle mit jüdischen
Straßenmädchen, die mit arischen Männern erwischt worden waren
und Hebammen, die illegale Abtreibungen vorgenommen hatten. Nach
fast acht Wochen Verhören kam sie wie durch ein Wunder frei.
Posnjakow wurde verurteilt und in das KZ Oranienburg, später ins KZ
Dachau deportiert.
Zitator 2/ Posnjakow:
Dachau, den 1. Januar 41.
Meine liebe Vera,
[...] Seit Montag befinde ich [mich] im Lazarett wegen Herz- und
allgemeiner Körperschwäche und schreibe mit großen Schwierigkeiten.
Du und Sie, liebe Mutter beten Sie für mich.
Ich küsse Dich [...]
Dein Alex.
Musik: Kaddish
Erzählerin:
Einen Monat später starb Alexander Posnjakow im
Konzentrationslager. Den Brief mit der Todesnachricht bewahrte Vera
Lourié bis an ihr Lebensende in ihrem Schreibtisch auf. Auf dem
Umschlag stand:
Zitator 1:
„Der Bürgermeister der Stadt Dachau erwartet auch einmal Ihren
Besuch.“
Musik:
Zitatorin Vera Lourié [Gedicht von Vera Lourié auf den Tod von Alexis
Posnjakow, 16. März 1941]:
A. P.
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Im Leben konntest du nicht zu mir kommen
So komme doch in einem schönen Traum
Erzähle mir von deinen schweren Tagen
Erzähle mir von deinem Leid und Grauen
Ich Sünderin, ich wollte dich behalten
Unendlich groß war meiner Liebe Maß
Doch hier auf Erden hier Gesetze walten
Wo Liebe nichts ist im Vergleich mit Hass
Vor meinen Augen steht der heiße Sommer
Die Sonne brannte über unser Boot
Die Tage werden niemals wiederkehren
Ich will’s nicht glauben, aber du bist tot.
Ich sehe dich noch immer glücklich strahlen
Ich kann’s nicht glauben, aber du bist tot
Ich kenne nichts von deinen Todesqualen
Ich kenne nichts von deiner letzten Not.
Musik Weintraub
Erzählerin:
Sich und ihre Mutter hielt Vera Lourié mit Sprachunterricht mühsam
am Leben. 1943 wurde eine ihrer Schülerinnen hingerichtet: Liane
Berkowitz, kaum 21 Jahre alt. Liane Berkowitz hatte der „Roten
Kapelle“ nahegestanden und Flugblätter gegen Hitler verteilt. Ein
Freund von Liane – Helmut Marquart - wohnte bei Vera Lourié zur
Untermiete. Auch er wurde verhaftet. Den Sender, den er für die
Widerstandsgruppe reparieren wollte, fand die Gestapo bei der
Haussuchung nicht: er war im Aschekasten des Kachelofens versteckt.
Wäre der Sender gefunden worden, hätte dies auch das Todesurteil für
Vera und ihre Mutter bedeutet.
22) O-Ton Vera Lourié
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Einen Sonnabend, ich erinnere mich nur, dass ich bin runtergegangen, um
Kohlen zu holen. Da kamen zwei junge Leute und haben gesagt: „Bitte
machen Sie kein Aufsehen. Ihre Mutter wird jetzt abgeholt.“ Es war
vollkommen unerwartet. ...
Dann kam meine Mutter zum Polizeirevier und ich bin dann gefahren nach
Finkenkrug, wo wir einen bekannten Mann hatten, er war Deutschrusse,
Zahnarzt und er hatte das goldene Parteiabzeichen. Er ist mit mir
zusammen gefahren in die Hamburger Straße, wo man diese Leute alle in
der Gegend versammelt hat. Er wollte mit dem Lagerkommandanten
sprechen, von dort. Der war aber nicht da, es war nur ein Vertreter, aber
dadurch wurde meine Mutter, blieb sie noch eine Woche in Berlin, in diesem
Lager. Das gab mir die Möglichkeit, ihr Sachen wenigstens zu bringen. Und
ich erinnere mich, als ich hinkam, die anderen mussten ja den nächsten Tag
schon weg, sie blieben, glaube ich, zwei Tage in Berlin. Und da stand vor
diesem Hause eine Schlange, Stunden warten musste man. Und zwischen
diesen Leuten, die kamen, sich verabschieden, standen deutsche Soldaten
in Uniform, sagen wir Enkelkinder. Dann kam ich zu meiner Mutter mich
verabschieden, und die Ordner, das waren Juden, die aufpassen mussten
auf die Ordnung. Ich kam den nächsten Morgen, und habe gesagt: wie soll
ich meiner Mutter was schicken. Denn es war ganz grausam eingerichtet,
man musste warten auf einen Brief. Aber der Brief kam vielleicht nach fünf
Monaten, aber da würde der Arrestant ja sterben längst. Und da hat mir ein
jüdischer Ordner gesagt: „Sie haben doch gesehen, dass Ihre Mutter hatte
die Nummer soundso, also Theresienstadt, das war klar alles. Das erste,
das waren Kartoffeln, das haben sie noch geklaut. Aber dann kamen die
Päckchen und wir bekamen Antwort. Es waren vorgedruckte Postkarten, auf
denen die Mutter oder wer es war, das Recht hatte, unterschreiben. Also:
Ich küsse Dich und danke, Deine Mutter, mit ihrer Handschrift. So wusste
man wenigstens, dass der Betreffende lebt.
23a) Bericht über die Eroberung Danzigs durch die Rote Armee
O-Ton russisch / Radio Moskau
Zitator 1:
Radio Moskau: Heute, am 30. März 1945, begann der Sturm auf die
Stadt Danzig ...
22a) O-Ton Vera Lourié
Ich habe erlebt das Ende des Krieges als eine Befreiung von den
Verfolgungen der Geheimen Staatspolizei. Meine Mutter war im KZ
Theresienstadt. Sie ist lebend zurückgekommen. Meinen Verlobten hat man
vernichtet in Dachau. Ich selbst habe gesessen siebeneinhalb Wochen bei
der Geheimen Staatspolizei… Mit Gottes Hilfe bin ich am Leben geblieben
und rausgekommen.
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24) BBC-Meldung über Eroberung Berlins [Englisch]
Darauf Zitator 1 :
BBC, 3. Mai 1945: Gestern wurde Berlin durch die Rote Armee erobert ..
25) O-Ton Vera Lourié
Die letzten Wochen des Krieges konnte man in Wohnungen überhaupt nicht
bleiben. Erstens gingen die Fensterscheiben kaputt und überall lag Glas
durch die Erschütterungen. Außerdem waren alle Häuser in Gefahr in die
Luft zu gehen und es sollte doch irgendwie weniger gefährlich sein im Keller
zu bleiben, obwohl manche ja verschüttet blieben in den Kellern. ...
Die Deutschen, die Frauen und Männer, die auch im Keller waren, hatten
eine wahnsinnige Angst vor den Russen. Sie dachten, wenn die Russen
kommen sind alle erledigt im Keller.
Und dann endlich kamen russische Soldaten in den Keller rein. Sie kamen
natürlich mit Bajonetten und mit Gewehr und das erste, was sie fragten – die
Leute zitterten – mich haben sie immer vorgeschoben, weil ich Russisch
sprechen konnten. Die Russen fragten gleich: gibt es hier Gewehre, gibt es
hier Nazi, ich habe gesagt, hier gibt es keine Gewehre im Keller, es waren
fast keine Männer im Keller. Dann hat mir eine Frau gesagt: „Sagen Sie
doch, dass die Ostarbeiter“ - die sie auch mit Gewalt während der
Besatzung von der Ukraine nach Deutschland gebracht hatten - „es sehr gut
hier hatten.“ Habe ich ihr auch geantwortet: “Es tut mir leid, lügen werde ich
nicht.“ Auf jeden Fall: mir haben die Russen nichts getan. Im Gegenteil. Ein
tschechischer Offizier hat dann gleich bei uns in der Wohnung Abendbrot
gegessen, es war überhaupt insofern gefährlich, unten im Keller zu bleiben,
denn da wurde man vergewaltigt. Und so habe ich sogar eine Frau
mitgenommen, sie war schwanger und hatte ein dreijähriges Kind, zu mir
nach oben in die Wohnung. Als ich selbst wieder runterging in den Keller,
um etwas zu holen, hat mich ein russischer Soldat am Arm gehalten und
wollte, dass ich mit ihm bleibe. Da habe ich ihm gesagt: „Es tut mir leid,
Kamerad, ich habe oben Besuch von einem Offizier.“ Der Offizier hat auch
niemandem etwas getan, wir haben mit ihm gesessen ...“
Erzählerin:
Die Begegnung mit Soldaten der Roten Armee war für Vera Lourié
nicht ungefährlich. Sie war eine „weiße“ Emigrantin und galt als
Feindin der Sowjetmacht.
26) O-Ton Vera Lourié
Ich hatte keine Angst und mir ist auch wirklich, Gottseidank, nichts passiert.
Aber es ist sehr viel passiert, zum Beispiel, was ich persönlich kenne. Hier
waren zwei Schauspielerinnen, zwei Schwestern, Ardatow. Die Soldaten
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kamen zu ihnen in die Wohnung und sie dachten, es wird helfen, sie haben
sie Russisch empfangen. Daraufhin hat ein Soldat das Gewehr gezogen und
hat sie auf der Stelle erschossen. Andere haben sich versteckt, überhaupt
es war eine furchtbare Panik, denn die Russen, sehr viele Russen, waren
wirklich für die Nazis, waren wirklich für Hitler. Sie gehörten zu einer
Organisation, sie hieß ROND, also russische Nationalsozialisten. Natürlich
mit diesen Russen, mit diesen Emigranten, die zum ROND gehörten und für
die Nazis waren, hatte ich überhaupt nichts zu tun.
Musik
Mir ist wirklich nichts passiert, ich hatte sehr viel Glück. Ich hatte dann sogar
nach dem Krieg Geschäfte gemacht mit Russen, sogenannte schwarze
Geschäfte.
Geld spielte ja gar keine Rolle.
Ich erinnere mich, ich bin einmal mit einem Bekannten an der Berliner Bank
vorbeigegangen und die Russen haben Koffer von Papiergeld herausgeholt.
Uns kam ja gar nicht in den Sinn, etwas von diesem Geld mitzunehmen,
denn Geld war uninteressant. Interessant war nur, die Tauschgeschäfte zu
machen. Also, wir brachten Sachen und die Russen gaben Lebensmittel.
Hauptsache waren Lebensmittel.“
Erzählerin:
Auch nach dem Krieg hielt sich Vera mit Unterricht in mehreren
Sprachen mehr schlecht als recht über Wasser: Sie lehrte Russisch,
Französisch und Englisch. Bis an ihr Lebensende war sie von jungen
Leuten umgeben, an die sie Zimmer vermietete.
27) O-Ton Wolfgang Hagemann
Mich hat sofort ganz positiv überrascht die Natürlichkeit und Herzlichkeit von
Vera, die mich sofort jeden Morgen zum Frühstück eingeladen hat und mich
sofort geduzt hat und ich sie auch duzen durfte.
Erzählerin:
Der Theaterregisseur Wolfgang Hagemann wohnte Anfang der 1980er
Jahre als Untermieter bei Vera Lourié - in der kleinen Kammer, in der
die Gestapo 1942 Helmut Marquart festgenommen hatte.
28) O-Ton Wolfgang Hagemann
Dann habe ich ziemlich schnell gemerkt, dass sie irgendetwas mit Literatur zu
tun hatte. Und so kam es, dass ich nach einigen Tagen an der Universität, wo
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ich ein Seminar über Ernst Toller besuchte, sie einfach mal gefragt habe, ob
sie mal was von Ernst Toller gelesen hat. Und da sagte Vera, so ohne
irgendwie einen Hinweis zu geben, dass da eine Menge Zeit vergangen war
zwischen dem Zeitpunkt wo sie ihn kennengelernt hat und 1981: „Ja, der
Ernst Toller, das war so ein Kleiner, der war immer schwarz gekleidet und
stand immer im Café Schwannecke am Tresen und wahrscheinlich“, sagte
sie, „hat er sich dann später in New York das Leben genommen.“ Und da war
ich erstmal völlig baff ...
Gleichzeitig war es aber auch eine Frau, die nicht nur in der Vergangenheit
gelebt hat, sondern tatsächlich einen Freundeskreis hatte in meinem Alter,
wenig älter.
Man muss dazu wissen, dass sie, als ich eingezogen bin, gerade ihren 80.
Geburtstag gefeiert hat.
Musik:
Erzählerin:
Die Poesie war nach dem Krieg mehr und mehr in den Hintergrund
getreten. Vera Lourié schrieb noch Artikel für die russische Zeitung
„Russkaja mysl“ in Paris, konnte davon aber nicht leben. Ständig in
Geldnot, verkaufte sie in den 70er Jahren ihr gesamtes Archiv mit
Briefen, Büchern, Widmungen von vielen russischen Künstlern der
20er Jahre an einen Pariser Sammler – in Berlin interessierte sich
damals niemand dafür. Immerhin erwarb die Berlinische Galerie Veras
alte Fotos, die einen schwachen Schimmer vom einstigen Glanz des
russischen Berlins bewahrt haben.
29) O-Ton Vera Lourié
In der Nazizeit, die so für mich bedrückend und beängstigend war, hatte ich
nicht mehr im Kopf, zu dichten. Daraufhin kam noch meine Mutter ins KZ.
Als meine Mutter zurückkam, habe ich mit ihr zusammen gewohnt und habe
ca. vier oder fünf russische Gedichte geschrieben. Dazu gehört das Gedicht
Pawlowsk – Datscha.
Dann starb meine Mutter im Jahre 58. Zu der Zeit lebte ich mit einem Mann,
der gar kein Interesse, weder für Kunst noch für Literatur hatte. Ich hatte
dabei also gar keine Unterstützung, und auch keine Themen, auch keine
Impulse zum Schreiben. Der Mann starb, ich lebte weiter allein und es blieb
so. Daraufhin habe ich einen Menschen kennengelernt, selten wertvoll, wie
geistig, so innerlich, sehr musisch und sehr, sehr liebevoll.
Und diesem Menschen schulde ich viel Dank und liebe ihn sehr.
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Musik
Erzählerin:
80 Jahre war Vera Lourié, als sie sich in die Ehefrau ihres Hausarztes
verliebte. Unglücklich. Die Angebetete erwiderte die besitzergreifende
Liebe nicht. Sie war mit Vera befreundet und kümmerte sich um sie.
In Briefen an die Freundin schrieb die russische Dichterin ihre
Lebensgeschichte auf. Die Veröffentlichung erlebte Vera Lourié nicht
mehr, sie starb 1998.
Ihr Nachlass gelangte in das Archiv der Berliner Akademie der Künste.
Dort lagen die Briefe mehr als zehn Jahre, bis sie junge Redakteure der
Zeitschrift „Sinn und Form“ entdeckten und Auszüge daraus
veröffentlichten. So wurde der Verlag Schöffling in Frankfurt am Main
auf Vera Lourié aufmerksam und fragte mich, ob ich die Texte
herausgeben würde. Im Jahre 2014 erschienen die „Briefe an Dich“ als
Buch.
Zitatorin Vera Lourié:
„Und ich möchte wieder das kleine Mädchen sein mit dem blonden
Pony und im kurzen Kleide, das nichts von dem ewigen Lauf des
Uhrzeigers und vom grausamen Flüstern des Herbstwindes weiß. Das
Mädchen, das so liebte, die in dem Eichenlaub versteckten Eicheln zu
suchen, und gar nicht ahnte, dass nur die Sehnsucht unvergänglich
ist; die Sehnsucht, die von einem schwülen, dunklen wie die schwarze
Kirche und so lieben Blick geboren ist, die Sehnsucht nach dem, was
niemals zurückkehren und sich wiederholen kann. – Es gibt kein
Vergessen. Die Erinnerungen sind Steine auf dem tiefen Meeresgrund.
Die Seele ist auch ein Grund. Meine Sehnsucht nach Dir, meine Liebe
zu Dir sind unvergänglich...“
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Musik:
Erzählerin:
Vera Lourié hat die deutsche Staatsbürgerschaft nie angenommen. Bis
zu ihrem Ende lebte sie als Staatenlose in Berlin. In ihren letzten
Lebensjahren hatte sie oft Besuch von russischen Schriftstellern und
Journalisten. Ungläubig hörten sie die Dichterin von einer Zeit
erzählen, die sie nur aus der Literatur kannten. Die Stadt ihrer Kindheit
und Jugend, St. Petersburg, sah sie nie wieder.
Ende Musik
Absage
„Auf dem kalten Asphalt von Berlin“
Die russische Dichterin Vera Lourié, die Revolution, das Exil
Sie hörten ein Feature von Doris Liebermann
Es sprachen: Daniel Berger, Kerstin Fischer, Wieslawa Weslowska,
Olga Thielecke und Mark Zak
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Hanna Steeger.
Regie: Anna Pankin
Redaktion: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017
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