Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature „Auf dem kalten Asphalt von Berlin“ Die russische Dichterin Vera Lourié, die Revolution, das Exil Ein Feature von Doris Liebermann Produktion: DLF 2017 Redaktion: Ulrike Bajohr Erstsendung: Freitag, 03.02.2017, 20:10-21:00 Uhr Regie: Anna Panknin Erzählerin – für Autorin-Text: Kerstin Fischer Zitate von Vera Lourié: Wieslawa Wesolowska Zitator 2: Daniel Berger Zitatorin: Olga Thieleke Zitator 3: Russisches Gedicht von Waginow: Mark Zak Zitator für Gedichte von Vera Louriè: Mark Zak Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar 1 01) O-Ton Vera Lourié „Die Februarrevolution wurde empfangen mit Begeisterung von der ganzen Intelligenzja. Alle rannten auf die Plätze, wo Kerenskij gesprochen hat. Man nannte ihn aber später „der kleine russische Napoleon“, weil er sehr schön gesprochen hat, aber eigentlich das war alles. Er war gar nicht genug stark, um die Regierung und das Volk und die Soldaten und jemanden halten zu können. 02) O-Ton Kerenskij: La grande guerre 03) O-Ton Vera Lourié Ich bin natürlich auch gerannt, alles lief mit roten kleinen Fahnen, man war überhaupt ganz glücklich und zufrieden. Aber dann kam Lenin, und als Lenin kam, und Kerenskij ist geflohen aus Petrograd, war man weniger natürlich glücklich, weil sein Programm war ziemlich grausam sofort. Die Oktoberrevolution war sehr grausam.“ 04) O-Ton Lenin, russisch Musik 05) O-Ton Vera Lourié: Gedicht Pawlowsk, Datscha / russisch Auf russischen O-Ton Zitatorin Vera: (Interlinear-Übersetzung) Am Bahnhof von Pawlowsk /warten Menschen auf ihre Sonntagsgäste/, auch Gymnasiasten in Uniform und plappernde Mädchen. Dieser Sommer und diese Menschen/ kommen nicht wieder, nur die unbarmherzige Lüge der Träume bleibt. Die Sehnsucht schleicht wie ein Schatten durchs Zimmer,/ sie flüstert von der verlorenen Vergangenheit. Vor meinen Augen sehe ich den Bahnhof in Pawlowsk, sehe die Züge vorbeifahren... Und ich weiß: auf dem kalten Asphalt von Berlin kann ich der Sehnsucht nirgends entgehen. Musik: 2 Ansage: „Auf dem kalten Asphalt von Berlin“ Die russische Dichterin Vera Lourié, die Revolution, das Exil Ein Feature von Doris Liebermann Erzählerin: Eine schöne junge Frau. Elegant gekleidet, ein wacher, selbstbewusster Blick. Berlin 1923. Vera Lourié auf einem Foto, neben ihr: El Lissitzky, Ilja Ehrenburg, Viktor Schklowskij. Das Foto, eingeklebt in ein kleines, graues Album, dessen Seiten schon auseinanderfielen, war eines der wenigen Erinnerungsstücke, die Vera Lourié geblieben waren. Als Dichterin war sie in Vergessenheit geraten. In den frühen 1980er Jahren hatte sie der amerikanische Slawist Thomas Beyer wiederentdeckt, als er nach den Spuren des Schriftstellers Andrej Belyj in Berlin suchte. Er trug die russischen Gedichte von Vera Lourié zusammen und gab sie 1987 im Berliner Wissenschaftsverlag Arno Spitz heraus. Beyer ermutigte mich, die Dichterin zu besuchen. Damals studierte ich am Osteuropa-Institut der Freien Universität. Ein Telefonanruf genügte, und schon lud mich die alte Dame mit der energischen Stimme zum Tee ein. Musik Erzählerin: Vera Lourié, weißhaarig, klein, gebrechlich, lebte in einer bescheidenen, heruntergekommenen Hinterhofwohnung in Wilmersdorf. Ein Klavier, an den Wänden das Portrait der Mutter und russische Landschaften. Zwei Katzen. Weil sie nicht alle Kosten von ihrer Rente bestreiten konnte, vermietete sie zwei Zimmer an Studenten, die ihr im Alltag zur Hand gingen. Sie selbst nahm mit dem 3 Durchgangszimmer vorlieb. Man fühlte sich an die Notgemeinschaften russischer „Kommunalkas“ erinnert. Welch ein Kontrast zu dem Wohlstand, in dem sie aufgewachsen war ... Musik Erzählerin: Geboren wurde Vera Lourié 1901 in St. Petersburg. Der Großvater war ein erfolgreicher Börsenmakler, der Vater, ein Arzt, besaß eine eigene Klinik. Man sprach fließend Französisch und reiste im Sommer in deutsche Badeorte. Der Großvater hatte eine Loge in der Oper, Vera kannte schon als Kind die berühmten Sängerinnen und Sänger der Zeit. Sie erlebte Theateraufführungen mit, die Geschichte machten. 06) O-Ton Vera Lourié Ich war erst siebzehn oder achtzehn Jahre. Dann kam nach Petersburg ein Gastspiel von dem Moskauer Künstlertheater. Stanislawski war der Regisseur und der Schauspieler in dem Theater, und war sehr berühmt wie für seine Aufführungen, die sich ziemlich unterschieden von der Art anderer Aufführungen, und war besonders auch berühmt, auch sein Theater, für die Sachen von Tschechow. Die Frau von dem verstorbenen Tschechow, Olga Knipper, spielte ja fast die ganzen Hauptrollen in den Sachen von Stanislawski. Stanislawski selbst spielte den Hauptmann Werschinin, Katschalow, den man kannte mit seiner Samtstimme, war Baron Tussenbach und Olga Knipper spielte die älteste Schwester Mascha. Das Stück war glänzend. Sie spielten enorm gut. Ich war so beeindruckt, ich wusste gar nicht mehr, wo ich in der Welt war. Diese letzten Worte: „Nach Moskau, nach Moskau, nach Moskau“, sie klangen noch in meinen Ohren, als wir mit der Droschke nach Hause fuhren. Es war April. Es nieselte, die Luft roch nach Regen. Und für mich war alles Zukunft, und diese Zukunft schien mir so rosa und so schön nach diesem Stück.“ Erzählerin: Die Revolution 1917 kam dem Freiheitsdrang der jungen Vera zunächst entgegen. Dem Sturz des Zaren und der Bildung einer Provisorischen Regierung im Frühjahr folgten im Herbst der Sturm auf das 4 Winterpalais und die gewaltsame Machtübernahme durch die Bolschewiki. Lenin verkündete: Take 7) O-Ton Lenin russisch darauf Zitator 1/Lenin: Zum ersten Mal in der Welt ist die Staatsmacht bei uns in Russland so organisiert, dass nur die Arbeiter, nur die werktätigen Bauern, unter Ausschluss der Ausbeuter, Massenorganisationen bilden, die Sowjets, und diesen Sowjets ist die gesamte Staatsmacht übertragen … Die Sowjetmacht ist der siegbringende Weg zum Sozialismus. 08) O-Ton Vera Lourie Die Oktoberrevolution war sehr grausam. Die betrunkenen Matrosen haben den Junkern, das waren die ganz jungen Offiziere, und den Kadetten, das waren die Offiziersschüler, Striemen aus dem Rücken herausgeschnitten. Man hatte Angst, auf die Straße zu gehen. Dauernd waren Heimsuchungen gemacht, und es war auch nichts zu essen im Großen und Ganzen. Da waren natürlich Hamsterer wie immer, und da wir Glück hatten, dass mein Vater zuletzt vor der Revolution, war Chef von einem Hospital in der Nähe von Petrograd, so hatten wir sehr viel Wäsche und wir haben das immer getauscht. Da hat bei uns gewohnt ein früheres Dienstmädchen meiner Großeltern mit ihrem Freund, und der war so ein Hamsterer. Er fuhr immer aufs Land damit und hat dafür Lebensmittel gebracht. Und so haben wir nicht gehungert, denn zu der Zeit, wenn man konnte einen Kuchen backen aus Roggenmehl mit bisschen Süßstoff, das war schon ein Ereignis.“ Erzählerin: In den Jahren allgemeiner Not belegte Vera Kurse im neu gegründeten Petrograder Haus der Künste. 09) O-Ton Vera Lourié Ich habe mir ausgesucht, zwei Studien zu besuchen. Die eine Studie, das war die Dichterstudie, die der Dichter Nikolaj Gumiljov führte, sehr bekannter Dichter damals, die zweite von einem Regisseur, Nikolaj Evrejnov. Er hat geschrieben ein Schauspiel, was sogar in fast alle Sprachen übersetzt wurde. Es hieß „Die Hauptsache“. ... Wir haben uns also mit Gumiljov sehr befreundet, und nach diesen Vorträgen und Unterricht gingen wir alle spazieren. Wir gingen spazieren immer in großen Gruppen, gingen an der Newa spazieren, am Ufer der Newa, und es war so schön, es war eine so irgendwie verwilderte Stadt. Gras wuchs einfach auf der Straße, alles war verwüstet, und das hatte einen gewissen Charme dieser Verwüstung. Da 5 habe ich später in Berlin sogar solche Gedichte geschrieben darüber. Gumiljov war auch bei mir in der Wohnung gewesen, das war das letzte Jahr seines Lebens und das letzte Jahr unseres Lebens in Petrograd. Es war mein Geburtstag, und da waren mehrere Leute bei mir, und es war eine Zeit, wo man durfte nachts nicht auf der Straße gehen, und so verbrachten wir bei mir die ganze Nacht und ich erinnere mich, wir saßen alle so quer auf meinem Bett und erzählten uns Geschichten. Erzählerin: Gumiljow war der erste Ehemann der Lyrikerin Anna Achmatowa und eine schillernde Figur in Petrograd, wie die Stadt seit Beginn des Ersten Weltkrieges hieß. Die Gruppe junger Künstler, die er unterrichtete und der Vera Lourié angehörte, nannte sich „Die tönende Muschel“. Gumiljows Einfluss auf seine Schüler war stark, ihre Verse sind von ihm geprägt. 09f) O-Ton Vera Lourié Interessant war noch meine Bekanntschaft mit Gumiljov, wie ich überhaupt an ihn rankam. Es war ein Tanzabend, und Gumiljov tanzte nicht, er stand irgendwo in der Ecke mit dem Dichter Ossip Mandelstam. Und da habe ich mit jemandem von den jungen Leuten gewettet, dass ich jetzt an den Herrn Gumiljov herangehe und ihn zum Tanzen einlade. Und das habe ich auch erfüllt. Ich bin an ihn rangegangen und habe zu ihm gesagt: „Nikolaj Stepanowitsch, darf ich Sie bitten, mit mir zu tanzen?“ Er hat mir gesagt: „Ich tanze nicht, aber ich kann doch einer jungen Dame nicht Nein sagen.“ Und so hat er mit mir etwas getanzt. Erzählerin: Der von Vera Lourié verehrte Lehrer machte keinen Hehl daraus, dass er Lenins bolschewistisches Regime ablehnte. Anfang August 1921 wurde der 35-jährige Dichter verhaftet und drei Wochen später mit 60 weiteren Menschen erschossen. Vergeblich hatte sich Maxim Gorki für ihn eingesetzt. Take 11) O-Ton Vera Lourié Eines schönen Tages bin ich gekommen in das Haus der Kunst und da hat mir jemand schnell gesagt: „Bitte, geh nicht in die Räume von Gumiljov. Dort sitzen Tscheka-Leute und fangen Leute ab, die zu ihm kommen. Er ist festgenommen worden.“ 6 Musik/Totenmesse Als Gumiljov also erschossen wurde, haben wir beschlossen, einen Totendienst in dem Kazanskij-Dom zu zelebrieren, und zufälligerweise habe ich Anna Achmatowa, seine erste Frau getroffen, die berühmte Dichterin. Ich bin an sie herangegangen, ich war persönlich nicht mir ihr bekannt, und habe zu ihr gesagt: „Anna Andrejewna, wir haben jetzt einen Totendienst im Kazanskij Dom für den Sklaven Gottes Nikolaus, weil man konnte ja den Namen Gumiljov nicht nennen, er war ja Konterrevolutionär und war erschossen. Sie ist natürlich gekommen.“ Musik Totenmesse Darauf Gedicht Vera Lourié „Auf den Tod von Gumiljow“ Zitatorin Vera Russisch: НА СМЕРТЬ ГУМИЛЕВА Никогда не увижу вас Я не верю в эти слова! Разве солнечный свет погас, Потемнела небес синева Zitatorin Vera / Interlinear-Übersetzung Niemals werde ich Dich wiedersehen Nicht glauben kann ich diesen Worten! Ist das Sonnenlicht wirklich erloschen, Hat der blaue Himmel sich verdunkelt? Erzählerin: Ein anderer berühmter Dichter der Zeit war Alexander Blok – das Idol der jungen russischen Intelligenz. Er sah die Machtergreifung der Bolschewiki mystisch-verklärt und starb im Alter von 40 Jahren kurz vor der Ermordung Gumiljovs – „an seelischer Zerrissenheit“, so hieß es. 12) O-Ton Vera Lourié „Blok habe ich einmal lebend in meinem Leben gesehen. Es war ein literarischer Abend, Blok hat gelesen seine Gedichte. Ich weiß natürlich nicht mehr, was er gelesen hat, es sind ja schon x Jahre vergangen, ich weiß nur, dass man ihm geschrien hat: „Gedichte über Russland“. Da hat er geschaut, 7 er hatte überhaupt ein Gesicht wie eine Maske, und da hat er gesagt: „Wieder Worte über Russland“. Mehr habe ich Blok am Leben nicht gesehen. Das nächste Mal lag er - tot – in seiner Wohnung und es war ein Todesdienst, Gottesdienst. Und dann war sein Begräbnis. Da war ungefähr, zum Begräbnis, das ganze literarische und überhaupt kulturelle Petrograd anwesend. Einzelheiten über dieses Begräbnis sind mir natürlich schon entfallen. Ich weiß nur, dass man damals gesagt hat: „Würde man jetzt eine Bombe schmeißen, dann würde nichts mehr bleiben von der literarischen Welt und von der kulturellen Welt Petrograds.“ Erzählerin: Sowjetrussland wurde in dieser Zeit von Bürgerkrieg, Hunger und Angst beherrscht. Über eine Million Menschen verließen das Land. Auch Vera Louriés Großvater beschloss, aus Petrograd zu fliehen. Er galt in den Augen der Bolschewiki als „bourgeois“, als „Konterrevolutionär“ und musste befürchten, hingerichtet zu werden. Veras Vater wurde als Arzt gebraucht, aber die Lage war auch ihm zu gefährlich. Mit gefälschten Pässen, die ihnen eine lettische Herkunft bescheinigten, gelang den Louriés die Flucht. 13) O-Ton Vera Lourié Im Herbst desselben Jahrs, wo gerade Blok starb und Gumiljov erschossen wurde, haben wir Russland verlassen. Ich habe noch in Berlin, als ich ankam, ein Gedicht geschrieben, welches endete, dass ich meine Seele auf dem Bahnhof verloren habe, ich war sehr, sehr traurig, ich habe sehr, sehr geweint, denn mein Leben war natürlich schön geworden, ich hatte mich mit Politik ja nicht beschäftigt. Ich habe mich mit dem Kreis der Dichter getroffen und ich erinnere mich, dass im Hof, als wir wegfuhren, Waginow stand, der mein großer Freund war und uns begleitete. Erzählerin: Der Lyriker Konstantin Waginow schrieb Vera Lourié zum Abschied gefühlvolle Zeilen in ein Büchlein ihrer Lieblingsdichterin Anna Achmatova – das einzige Schriftstück aus ihrer Heimatstadt, das ihr blieb. Zitator 3 Waginow/ Russisch: Упала ночь в твои ресницы, Который день мы стерёжем любовь; Антиохия спит, и синий дым клубится 8 Среди цветных умерших берегов. Zitator Waginow Deutsch: Die Nacht fiel in deine Wimpern, Wie viele Tage lang schon hüten wir die Liebe; Antiochia schläft, und blauer Rauch steigt auf Über farbigen erstorbenen Ufern. Musik: 14) O-Ton Vera Lourié: Gefahren sind wir in Tierwagen. So, jetzt waren wir in Lettland. In Lettland, als wir nach Lettland kamen, die Grenze nach Reschiza. In diesem Reschiza musste mein Vater gehen zum Stationsvorsteher oder ich weiß nicht mehr, zu wem jetzt, und musste zugeben, dass wir keine lettischen Papiere haben, dass wir keine Letten sind, dass wir nur geflohen sind aus Russland. Die ganzen Leute kamen in Baracken. Es waren massenhaft Leute, man musste gehen in eine Art Sauna, sich waschen. Essen bekam man schreckliches, und als einziges, was meinem Vater gelang, weil er war Arzt, dass man uns erlaubte, auf dem Bahnhof essen zu gehen. Zu unserem großen Glück befand sich in Riga ein Freund oder Bekannter meines Großvaters, ein Kaufmann. Er ist dann gekommen und hat uns einfach abgeholt und gebracht nach Riga. In Riga war eine Masse von Essen, es war Schinken, es war Butter, also die Läden waren voll, es war fast etwas wie ein Paradies im Vergleich mit Petrograd die letzte Zeit. Aber das war wahrscheinlich für mich nicht genügend, und ich wollte unbedingt nach Berlin kommen, weil ich wusste, in Berlin gibt es eine literarische Welt, die natürlich damals in Riga absolut nicht existierte. Es war eine sehr langweilige Stadt. Meine Mutter wollte auch nach Berlin, weil ihr Vater befand sich in Berlin. So sind wir nach einem Monat Riga mit meiner Mutter, mit meiner kleinen Schwester und mit meinem kleinen Bruder nach Berlin gefahren. Mein Vater kam dann nach einem Monat nach. Für ihn war es überhaupt sehr schlecht, weil in Riga konnte er als Arzt praktizieren, was er in Berlin nicht konnte. Erzählerin: Deutschland war ein Hauptziel des russischen Emigrantenstromes – und Berlin die Metropole der russischen Kunst, Kultur und Politik. Als die Louriés 1921 in der Stadt eintrafen, hatte sich bereits ein reges russisches Geistesleben entwickelt. Es gab Verlage, Buchhandlungen und mehrere russische Zeitungen. Marc Chagall erinnerte sich so: 9 Zitator 2: „In den Appartements im Viertel um den Bayerischen Platz gab es beinahe so viele Samowars, theosophische und tolstojanische Comtessen wie einst in Moskau. In den Untergeschossen der russischen Restaurants in der Motzstraße gab es mehr russische Generäle und Hauptleute als in einer zaristischen Garnisonstadt, doch waren sie nun Köche und Geschirrwäscher. Was mich betrifft, habe ich mein Leben lang nie wieder so viele Wunder-Rabbis wie im Berlin von 1922 gesehen, so viele Konstruktivisten ...“ Erzählerin: Zu Beginn meines Studiums in Westberlin erfuhr ich nicht, dass viele berühmte russische Künstler wie Vladimir Nabokov, Leonid Pasternak, Iwan Puni oder Wiktor Schklowskij in Berlin gelebt hatten. Erst in den 1980er Jahren wandte sich die Forschung dem russischen Berlin zu. Ich schrieb meine Magisterarbeit darüber, die langen Interviews, die ich damals mit Vera Lourié führte, halfen mir dabei. Take 15) O-Ton Vera Lourié In Berlin habe ich sehr schnell erfahren, dass es gibt ein sogenanntes Haus der Kunst, in einem gewissen Café Landgraf, habe ich meine eigenen Gedichte gelesen, und da kam an mich ran Andrej Belyj, der dort sich befand, was für mich ein Ereignis war, ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich die Ehre haben werde, jemals in meinem Leben mit diesem Menschen zu sprechen. Denn er war in Russland als Schriftsteller ungefähr wie hier, sagen wir, vielleicht noch mehr, als Thomas Mann. Und er hat zu mir gesagt: „Bringen Sie mir doch bitte Ihre Gedichte für die Zeitschrift Epopea.“ Ich war sehr stolz und ich war sehr jung. Also in einigen Tagen habe ich ihm einige Gedichte gebracht, und da passierte folgendes, dass der Verleger, ein gewisser Abram Vishniac, mir gesagt hat: „Ihre Gedichte in meiner Zeitschrift kann ich nicht veröffentlichen, dazu sind sie mir nicht gut genug. Aber damit Sie nicht traurig sind, ich kann Ihnen eine Flasche Eau de Cologne oder eine Flasche Parfüm schenken.“ Ich war sehr beleidigt natürlich und wollte kein Eau des Cologne und kein Parfüm bekommen. Musik O-Ton 15) Vera Lourié weiter: Daraufhin haben wir uns mit Belyj sehr befreundet. Manchmal, als Belyj wohnte am ViktoriaLuise-Platz in einer Pension, ist er mit mir gegangen in ein großes, langes Café, wo man getanzt hat, auch am Viktoria-Luise-Platz. Und Belyj hatte absolut keine Ahnung von den modernen Tänzen der Zeit, aber er hat getanzt. Er hat getragen einen schwarzen Gehrock, dazu eine riesengroße Schleife anstatt Schlips und hat mir mit etwas getanzt, was wirklich, ich weiß gar nicht, wie man das nennen soll, aber das wirklich nichts gemein hatte mit den normalen Tänzen der Deutschen, die sich dort befanden. Die Begeisterung der Deutschen an den Tischen war enorm. Und ich habe Blumen bekommen.“ 10 Erzählerin: Der Symbolist Andrej Belyj war als begeisterter Anhänger von Rudolf Steiner schon vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland gewesen. Eine Zeitlang hatte er auch in Dornach in der Schweiz, dem Zentrum der Anthroposophie, gelebt. Knapp zwei Jahre blieb er in Berlin und gab zusammen mit Maxim Gorki die Zeitschrift „Beseda“ – Gespräch – heraus. Belyj konnte dem Leben im Exil nichts abgewinnen: er kehrte 1923 nach Moskau zurück und schrieb ein Buch mit dem Titel: „Im Reich der Schatten“: Zitator 2/ Belyj: „Mehr als einmal sah ich in den erleuchteten, prunkvoll eingerichteten Berliner Restaurants ein tieftrauriges Erlöschen des Bewusstseins, das unter der Last wachsender Dumpfheit vollends zerbrach beim Herausgehen …auf die Straße, die dem Bürger ihre drohenden Schatten entgegenschickte. An mir selbst spürte ich das Verlöschen des Lichtes, das mir in Russland noch leuchtete. Mich umgaben die Anzeichen eines paralysierten Bewusstseins, das in seiner Eingeengtheit der animalischen Natur in die Arme fällt. Da erstand ganz Berlin vor mir als ein ‚Domizil des Gespensterreichs’.“ 16) O-Ton Vera Lourié Außer meiner Freundschaft mit Andrej Belyj war ich sehr befreundet mit dem Ehepaar Ehrenburg. Ilja Ehrenburg, der Schriftsteller, und seine Frau unter dem Namen Kosinzewa, war Malerin, ihr Bruder aber in der Sowjetunion berühmter Regisseur. Mit ihnen habe ich viele schöne Abende verbracht. Sie haben mich mitgenommen zu der „Dreigroschenoper“, ich war mit ihnen zusammen in dem Lokal „Schwannecke“, was sehr damals berühmt war von prominenten Schriftstellern, deutschen. Da habe ich kennengelernt den Ernst Toller, den Eggebrecht, den Leonhard Frank, ich habe niemand sehr nahe gekannt, aber ich habe mit ihnen etwas gesprochen. Musik: Zitatorin Vera/ Gedicht Vera Lourié [1989] Berlin Berlin im Leuchten der Laternen 11 Wir rasen durch die Straßen Im Radio Musik Der herbstliche Himmel schwarz, ohne Sterne Ich schaue durch das Fenster Mit einem traurigen Blick. [...] Da wohnte Alexis, der russische Anwalt Und ich war so glücklich, die große Liebe Die Liebe ohne Schranken, ohne Halt. Prager Diele. Maler und Dichter. Ehrenburg empfing seine Freunde hier. Die Abende im Café schienen mir sehr wichtig. Keine Musikbox, ein Mann am Klavier In dieser Stadt verging meine Jugend Und alles erinnert mich an die vergangene Zeit. Die Vergangenheit, wie Steine, fällt in den Abgrund Nicht kehrt zurück, alles bleibt unendlich weit! 17) O-Ton Vera Lourié Zu der Zeit waren zwei literarische Bewegungen, die eine war linker, und das war der Ilja Ehrenburg, er hatte seinen Tisch im Café „Prager Diele“. Schon morgens nach dem Frühstück ging er dorthin und da hat er auch immer geschrieben und gearbeitet im Café. Abends, er hatte seinen Stammtisch, kamen alle Leute, die zu ihm kamen, dorthin. So waren es sehr viele interessante Begegnungen. Z. B. Jessenin kam, dann kam ein bekannter russischer Clown, er hieß Durow und brachte mit sich seine Ratte. Es war eine gezähmte Ratte, eine sehr kluge Ratte, sie saß in so einem Holzhäuschen, kam aber raus und spazierte auf den Rücken der Menschen. 12 Mit Jessenin hatte ich eine drollige Bekanntschaft, nicht sehr für mich schmeichelhaft. Ich habe über Jessenins Poem „Pugatschow“ eine Kritik geschrieben in der Zeitschrift „Dni“. Und diese Kritik war nicht gut. Kam ich eines Abends in die „Prager Diele“ und man brachte mich an einen Tisch, an den Tisch von Ehrenburg, und da saß ein sehr hübscher, russischer, sagen wir, russischer Bauernjunge mit blondem, lockigem Haar, und man sagte mir: „Das ist Sergej Jessenin“. Er sagte mir „Guten Tag, ich glaube, Sie sind vollkommen im Unrecht mit ihrer Rezension“. Mir war es sehr, sehr peinlich. Erzählerin: Das lyrische Drama über den russischen Bauernführer Pugatschow hatte Jessenin erst kurz zuvor veröffentlicht. Wegen der überladenen Sprache hatte er immer wieder Kritik hinnehmen müssen. 18a) O-Ton Sergej Jessenin russisch (alte Aufnahme aus den 20er Jahren, Jessenin deklamiert aus „Pugatschow“) Zitator 2/ Jessenin: Wahnsinniges, rasendes blutiges Schlammgewühl! Was bist du! Der Tod? Oder Krüppeln Genesung? Bringt mich hin, bringt mich hin zu ihm, Ich will diesen Menschen sehen. Musik: Erzählerin: Vera Louriés Gedichte erschienen in russischen Journalen, die in Berlin verlegt wurden; ihr Name stand neben denen prominenter Dichter wie Boris Pasternak oder Marina Zwetajewa. Um Geld zu verdienen, schrieb sie für in- und ausländische Blätter, auch für die Zeitung „Dni“, die der Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, der von Lenin gestürzte letzte russische Premierminister, herausgab. Auch er war nach seiner Flucht aus Russland in Berlin gelandet. 20) O-Ton Vera Lourié Mein Redakteur war Ossorgin, ein Schriftsteller, der ausgewiesen war zusammen mit einer Reihe russischer Professoren aus der Sowjetunion. Mit dem habe ich mich auch sehr befreundet und habe mit ihm auch sehr gern 13 zusammengearbeitet. Ich erinnere mich, wie er das erste Mal mir mehrere Bücher gab und sagte: „In drei oder vier Tagen müssen die Rezensionen fertig sein.“ Ich war entsetzt und sagte zu ihm: „Wie kann ich denn diese Bücher so schnell lesen?“ „Wozu lesen?“, hat er zu mir gesagt, „man guckt durch, das genügt doch vollkommen.“ Später habe ich diese Theorie sehr gut verstanden und konnte sehr gut schnell die Rezensionen bringen. Man verdiente natürlich nicht viel, und man versuchte, wenn man etwas verdiente, das Geld sofort zu verwenden. Denn am nächsten Tag hatte es schon gar keinen Wert mehr. Dafür aber, wenn man das Glück hatte, für irgendwelche ausländischen Ausgaben etwas zu schreiben und bekam einen oder zwei Dollar, war man ein reicher Mensch und konnte halb Berlin kaufen.“ Musik Erzählerin: Ab Mitte der 20er zogen die russischen Emigranten aus dem inflationären Berlin weiter: nach Paris, nach Prag, nach Amerika - oder sie kehrten in die Sowjetunion zurück. Nach Hitlers Machtantritt wollte auch Vera Lourié Berlin verlassen und wandte sich an Michail Ossorgin, der inzwischen in Paris lebte. Zitator 2/ Ossorgin: Liebe Verotschka, ich bin sehr betrübt, dass ich Ihnen nur eine sehr unangenehme Antwort geben kann. Abgesehen davon, dass eine Reise hierher zu organisieren unwahrscheinlich schwierig ist, wüsste ich gar nicht, wie das zu bewerkstelligen wäre, und vor allen Dingen ist es kaum denkbar, hier irgendeine Arbeit zu finden. Die Arbeitslosigkeit ist selbst unter den Franzosen sehr hoch, von Ausländern ganz zu schweigen. Die Armut ringsum ist zum Verzweifeln. Natürlich verstehe ich, dass es für Sie in Berlin nicht leicht ist – aber wäre es hier nicht hundertmal schlimmer! ... ich denke mit Schrecken daran, in welche Lage Sie hier geraten könnten. Und darum, wenn Sie irgendeine Möglichkeit haben, und sei es hungernd, in Berlin zu leben, - dann bleiben Sie! Und wenn nicht – dann geht man eben zugrunde, egal wo. 14 Ihr ergebenster Michail Ossorgin, Paris, 6. November 1933” Erzählerin: Vera folgte Ossorgins Rat und blieb in Berlin. Ihre Familie war im Exil verarmt. Erst zwölf Jahre nach ihrer Flucht aus Sowjetrussland, 1933, hatten die Louriés eine eigene Wohnung gefunden - armselig, verwanzt. Dort, in der Westfälischen Straße 56, sollte die Dichterin ihr Leben lang wohnen bleiben. Ihr Vater starb 1937, ihre Schwester emigrierte nach England, ihr Bruder schaffte es nach Argentinien, wo er jahrelang illegal lebte. Die Geschwister waren bitterarm und konnten der Mutter, einer Jüdin, kein Affidavit beschaffen, jene eidesstattliche Erklärung, die Unterstützung im Aufnahmeland zusicherte. 21) O-Ton Vera Lourié: Durch eine uns bekannte Dame bekamen meine Schwester und ich Papiere, dass wir als Dienstmädchen ausreisen können. Meine Schwester ist damals weggefahren, ich war als Mischling halb anerkannt, halb nicht, aber sie konnten mir nicht das Gegenteil beweisen. Ich habe dauernd mit dem Sippenforschungsamt korrespondiert. Erzählerin: Vera Lourié, nach Lesart der Nazis ein „Mischling“, blieb mit der Mutter in Berlin. Hitler war schon an der Macht, als Vera in einem russisch-jüdischen Club ihre Gedichte vortrug. Sie lernte einen russischen Rechtsanwalt kennen: Alexander Posnjakow - und verliebte sich in ihn. Posnjakow verschaffte Juden, die Deutschland verlassen wollten, gefälschte Papiere. Am 2. November 1938 fuhr Vera zu Posnjakow. Das Dienstmädchen teilte ihr mit, dass er verhaftet worden sei. Vera nahm ein Buch an sich, von dem sie wusste, dass darin ein luxemburgischer Pass ihres Geliebten versteckt war. Kurze Zeit später rief das Dienstmädchen sie an: Posnjakow sei freigelassen worden, sie solle sofort mit dem Buch zurückkehren. 15 In Posnjakows Wohnung wartete schon die Gestapo auf Vera Lourie. Sie saß im Gefängnis am Alexanderplatz in einer Zelle mit jüdischen Straßenmädchen, die mit arischen Männern erwischt worden waren und Hebammen, die illegale Abtreibungen vorgenommen hatten. Nach fast acht Wochen Verhören kam sie wie durch ein Wunder frei. Posnjakow wurde verurteilt und in das KZ Oranienburg, später ins KZ Dachau deportiert. Zitator 2/ Posnjakow: Dachau, den 1. Januar 41. Meine liebe Vera, [...] Seit Montag befinde ich [mich] im Lazarett wegen Herz- und allgemeiner Körperschwäche und schreibe mit großen Schwierigkeiten. Du und Sie, liebe Mutter beten Sie für mich. Ich küsse Dich [...] Dein Alex. Musik: Kaddish Erzählerin: Einen Monat später starb Alexander Posnjakow im Konzentrationslager. Den Brief mit der Todesnachricht bewahrte Vera Lourié bis an ihr Lebensende in ihrem Schreibtisch auf. Auf dem Umschlag stand: Zitator 1: „Der Bürgermeister der Stadt Dachau erwartet auch einmal Ihren Besuch.“ Musik: Zitatorin Vera Lourié [Gedicht von Vera Lourié auf den Tod von Alexis Posnjakow, 16. März 1941]: A. P. 16 Im Leben konntest du nicht zu mir kommen So komme doch in einem schönen Traum Erzähle mir von deinen schweren Tagen Erzähle mir von deinem Leid und Grauen Ich Sünderin, ich wollte dich behalten Unendlich groß war meiner Liebe Maß Doch hier auf Erden hier Gesetze walten Wo Liebe nichts ist im Vergleich mit Hass Vor meinen Augen steht der heiße Sommer Die Sonne brannte über unser Boot Die Tage werden niemals wiederkehren Ich will’s nicht glauben, aber du bist tot. Ich sehe dich noch immer glücklich strahlen Ich kann’s nicht glauben, aber du bist tot Ich kenne nichts von deinen Todesqualen Ich kenne nichts von deiner letzten Not. Musik Weintraub Erzählerin: Sich und ihre Mutter hielt Vera Lourié mit Sprachunterricht mühsam am Leben. 1943 wurde eine ihrer Schülerinnen hingerichtet: Liane Berkowitz, kaum 21 Jahre alt. Liane Berkowitz hatte der „Roten Kapelle“ nahegestanden und Flugblätter gegen Hitler verteilt. Ein Freund von Liane – Helmut Marquart - wohnte bei Vera Lourié zur Untermiete. Auch er wurde verhaftet. Den Sender, den er für die Widerstandsgruppe reparieren wollte, fand die Gestapo bei der Haussuchung nicht: er war im Aschekasten des Kachelofens versteckt. Wäre der Sender gefunden worden, hätte dies auch das Todesurteil für Vera und ihre Mutter bedeutet. 22) O-Ton Vera Lourié 17 Einen Sonnabend, ich erinnere mich nur, dass ich bin runtergegangen, um Kohlen zu holen. Da kamen zwei junge Leute und haben gesagt: „Bitte machen Sie kein Aufsehen. Ihre Mutter wird jetzt abgeholt.“ Es war vollkommen unerwartet. ... Dann kam meine Mutter zum Polizeirevier und ich bin dann gefahren nach Finkenkrug, wo wir einen bekannten Mann hatten, er war Deutschrusse, Zahnarzt und er hatte das goldene Parteiabzeichen. Er ist mit mir zusammen gefahren in die Hamburger Straße, wo man diese Leute alle in der Gegend versammelt hat. Er wollte mit dem Lagerkommandanten sprechen, von dort. Der war aber nicht da, es war nur ein Vertreter, aber dadurch wurde meine Mutter, blieb sie noch eine Woche in Berlin, in diesem Lager. Das gab mir die Möglichkeit, ihr Sachen wenigstens zu bringen. Und ich erinnere mich, als ich hinkam, die anderen mussten ja den nächsten Tag schon weg, sie blieben, glaube ich, zwei Tage in Berlin. Und da stand vor diesem Hause eine Schlange, Stunden warten musste man. Und zwischen diesen Leuten, die kamen, sich verabschieden, standen deutsche Soldaten in Uniform, sagen wir Enkelkinder. Dann kam ich zu meiner Mutter mich verabschieden, und die Ordner, das waren Juden, die aufpassen mussten auf die Ordnung. Ich kam den nächsten Morgen, und habe gesagt: wie soll ich meiner Mutter was schicken. Denn es war ganz grausam eingerichtet, man musste warten auf einen Brief. Aber der Brief kam vielleicht nach fünf Monaten, aber da würde der Arrestant ja sterben längst. Und da hat mir ein jüdischer Ordner gesagt: „Sie haben doch gesehen, dass Ihre Mutter hatte die Nummer soundso, also Theresienstadt, das war klar alles. Das erste, das waren Kartoffeln, das haben sie noch geklaut. Aber dann kamen die Päckchen und wir bekamen Antwort. Es waren vorgedruckte Postkarten, auf denen die Mutter oder wer es war, das Recht hatte, unterschreiben. Also: Ich küsse Dich und danke, Deine Mutter, mit ihrer Handschrift. So wusste man wenigstens, dass der Betreffende lebt. 23a) Bericht über die Eroberung Danzigs durch die Rote Armee O-Ton russisch / Radio Moskau Zitator 1: Radio Moskau: Heute, am 30. März 1945, begann der Sturm auf die Stadt Danzig ... 22a) O-Ton Vera Lourié Ich habe erlebt das Ende des Krieges als eine Befreiung von den Verfolgungen der Geheimen Staatspolizei. Meine Mutter war im KZ Theresienstadt. Sie ist lebend zurückgekommen. Meinen Verlobten hat man vernichtet in Dachau. Ich selbst habe gesessen siebeneinhalb Wochen bei der Geheimen Staatspolizei… Mit Gottes Hilfe bin ich am Leben geblieben und rausgekommen. 18 24) BBC-Meldung über Eroberung Berlins [Englisch] Darauf Zitator 1 : BBC, 3. Mai 1945: Gestern wurde Berlin durch die Rote Armee erobert .. 25) O-Ton Vera Lourié Die letzten Wochen des Krieges konnte man in Wohnungen überhaupt nicht bleiben. Erstens gingen die Fensterscheiben kaputt und überall lag Glas durch die Erschütterungen. Außerdem waren alle Häuser in Gefahr in die Luft zu gehen und es sollte doch irgendwie weniger gefährlich sein im Keller zu bleiben, obwohl manche ja verschüttet blieben in den Kellern. ... Die Deutschen, die Frauen und Männer, die auch im Keller waren, hatten eine wahnsinnige Angst vor den Russen. Sie dachten, wenn die Russen kommen sind alle erledigt im Keller. Und dann endlich kamen russische Soldaten in den Keller rein. Sie kamen natürlich mit Bajonetten und mit Gewehr und das erste, was sie fragten – die Leute zitterten – mich haben sie immer vorgeschoben, weil ich Russisch sprechen konnten. Die Russen fragten gleich: gibt es hier Gewehre, gibt es hier Nazi, ich habe gesagt, hier gibt es keine Gewehre im Keller, es waren fast keine Männer im Keller. Dann hat mir eine Frau gesagt: „Sagen Sie doch, dass die Ostarbeiter“ - die sie auch mit Gewalt während der Besatzung von der Ukraine nach Deutschland gebracht hatten - „es sehr gut hier hatten.“ Habe ich ihr auch geantwortet: “Es tut mir leid, lügen werde ich nicht.“ Auf jeden Fall: mir haben die Russen nichts getan. Im Gegenteil. Ein tschechischer Offizier hat dann gleich bei uns in der Wohnung Abendbrot gegessen, es war überhaupt insofern gefährlich, unten im Keller zu bleiben, denn da wurde man vergewaltigt. Und so habe ich sogar eine Frau mitgenommen, sie war schwanger und hatte ein dreijähriges Kind, zu mir nach oben in die Wohnung. Als ich selbst wieder runterging in den Keller, um etwas zu holen, hat mich ein russischer Soldat am Arm gehalten und wollte, dass ich mit ihm bleibe. Da habe ich ihm gesagt: „Es tut mir leid, Kamerad, ich habe oben Besuch von einem Offizier.“ Der Offizier hat auch niemandem etwas getan, wir haben mit ihm gesessen ...“ Erzählerin: Die Begegnung mit Soldaten der Roten Armee war für Vera Lourié nicht ungefährlich. Sie war eine „weiße“ Emigrantin und galt als Feindin der Sowjetmacht. 26) O-Ton Vera Lourié Ich hatte keine Angst und mir ist auch wirklich, Gottseidank, nichts passiert. Aber es ist sehr viel passiert, zum Beispiel, was ich persönlich kenne. Hier waren zwei Schauspielerinnen, zwei Schwestern, Ardatow. Die Soldaten 19 kamen zu ihnen in die Wohnung und sie dachten, es wird helfen, sie haben sie Russisch empfangen. Daraufhin hat ein Soldat das Gewehr gezogen und hat sie auf der Stelle erschossen. Andere haben sich versteckt, überhaupt es war eine furchtbare Panik, denn die Russen, sehr viele Russen, waren wirklich für die Nazis, waren wirklich für Hitler. Sie gehörten zu einer Organisation, sie hieß ROND, also russische Nationalsozialisten. Natürlich mit diesen Russen, mit diesen Emigranten, die zum ROND gehörten und für die Nazis waren, hatte ich überhaupt nichts zu tun. Musik Mir ist wirklich nichts passiert, ich hatte sehr viel Glück. Ich hatte dann sogar nach dem Krieg Geschäfte gemacht mit Russen, sogenannte schwarze Geschäfte. Geld spielte ja gar keine Rolle. Ich erinnere mich, ich bin einmal mit einem Bekannten an der Berliner Bank vorbeigegangen und die Russen haben Koffer von Papiergeld herausgeholt. Uns kam ja gar nicht in den Sinn, etwas von diesem Geld mitzunehmen, denn Geld war uninteressant. Interessant war nur, die Tauschgeschäfte zu machen. Also, wir brachten Sachen und die Russen gaben Lebensmittel. Hauptsache waren Lebensmittel.“ Erzählerin: Auch nach dem Krieg hielt sich Vera mit Unterricht in mehreren Sprachen mehr schlecht als recht über Wasser: Sie lehrte Russisch, Französisch und Englisch. Bis an ihr Lebensende war sie von jungen Leuten umgeben, an die sie Zimmer vermietete. 27) O-Ton Wolfgang Hagemann Mich hat sofort ganz positiv überrascht die Natürlichkeit und Herzlichkeit von Vera, die mich sofort jeden Morgen zum Frühstück eingeladen hat und mich sofort geduzt hat und ich sie auch duzen durfte. Erzählerin: Der Theaterregisseur Wolfgang Hagemann wohnte Anfang der 1980er Jahre als Untermieter bei Vera Lourié - in der kleinen Kammer, in der die Gestapo 1942 Helmut Marquart festgenommen hatte. 28) O-Ton Wolfgang Hagemann Dann habe ich ziemlich schnell gemerkt, dass sie irgendetwas mit Literatur zu tun hatte. Und so kam es, dass ich nach einigen Tagen an der Universität, wo 20 ich ein Seminar über Ernst Toller besuchte, sie einfach mal gefragt habe, ob sie mal was von Ernst Toller gelesen hat. Und da sagte Vera, so ohne irgendwie einen Hinweis zu geben, dass da eine Menge Zeit vergangen war zwischen dem Zeitpunkt wo sie ihn kennengelernt hat und 1981: „Ja, der Ernst Toller, das war so ein Kleiner, der war immer schwarz gekleidet und stand immer im Café Schwannecke am Tresen und wahrscheinlich“, sagte sie, „hat er sich dann später in New York das Leben genommen.“ Und da war ich erstmal völlig baff ... Gleichzeitig war es aber auch eine Frau, die nicht nur in der Vergangenheit gelebt hat, sondern tatsächlich einen Freundeskreis hatte in meinem Alter, wenig älter. Man muss dazu wissen, dass sie, als ich eingezogen bin, gerade ihren 80. Geburtstag gefeiert hat. Musik: Erzählerin: Die Poesie war nach dem Krieg mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Vera Lourié schrieb noch Artikel für die russische Zeitung „Russkaja mysl“ in Paris, konnte davon aber nicht leben. Ständig in Geldnot, verkaufte sie in den 70er Jahren ihr gesamtes Archiv mit Briefen, Büchern, Widmungen von vielen russischen Künstlern der 20er Jahre an einen Pariser Sammler – in Berlin interessierte sich damals niemand dafür. Immerhin erwarb die Berlinische Galerie Veras alte Fotos, die einen schwachen Schimmer vom einstigen Glanz des russischen Berlins bewahrt haben. 29) O-Ton Vera Lourié In der Nazizeit, die so für mich bedrückend und beängstigend war, hatte ich nicht mehr im Kopf, zu dichten. Daraufhin kam noch meine Mutter ins KZ. Als meine Mutter zurückkam, habe ich mit ihr zusammen gewohnt und habe ca. vier oder fünf russische Gedichte geschrieben. Dazu gehört das Gedicht Pawlowsk – Datscha. Dann starb meine Mutter im Jahre 58. Zu der Zeit lebte ich mit einem Mann, der gar kein Interesse, weder für Kunst noch für Literatur hatte. Ich hatte dabei also gar keine Unterstützung, und auch keine Themen, auch keine Impulse zum Schreiben. Der Mann starb, ich lebte weiter allein und es blieb so. Daraufhin habe ich einen Menschen kennengelernt, selten wertvoll, wie geistig, so innerlich, sehr musisch und sehr, sehr liebevoll. Und diesem Menschen schulde ich viel Dank und liebe ihn sehr. 21 Musik Erzählerin: 80 Jahre war Vera Lourié, als sie sich in die Ehefrau ihres Hausarztes verliebte. Unglücklich. Die Angebetete erwiderte die besitzergreifende Liebe nicht. Sie war mit Vera befreundet und kümmerte sich um sie. In Briefen an die Freundin schrieb die russische Dichterin ihre Lebensgeschichte auf. Die Veröffentlichung erlebte Vera Lourié nicht mehr, sie starb 1998. Ihr Nachlass gelangte in das Archiv der Berliner Akademie der Künste. Dort lagen die Briefe mehr als zehn Jahre, bis sie junge Redakteure der Zeitschrift „Sinn und Form“ entdeckten und Auszüge daraus veröffentlichten. So wurde der Verlag Schöffling in Frankfurt am Main auf Vera Lourié aufmerksam und fragte mich, ob ich die Texte herausgeben würde. Im Jahre 2014 erschienen die „Briefe an Dich“ als Buch. Zitatorin Vera Lourié: „Und ich möchte wieder das kleine Mädchen sein mit dem blonden Pony und im kurzen Kleide, das nichts von dem ewigen Lauf des Uhrzeigers und vom grausamen Flüstern des Herbstwindes weiß. Das Mädchen, das so liebte, die in dem Eichenlaub versteckten Eicheln zu suchen, und gar nicht ahnte, dass nur die Sehnsucht unvergänglich ist; die Sehnsucht, die von einem schwülen, dunklen wie die schwarze Kirche und so lieben Blick geboren ist, die Sehnsucht nach dem, was niemals zurückkehren und sich wiederholen kann. – Es gibt kein Vergessen. Die Erinnerungen sind Steine auf dem tiefen Meeresgrund. Die Seele ist auch ein Grund. Meine Sehnsucht nach Dir, meine Liebe zu Dir sind unvergänglich...“ 22 Musik: Erzählerin: Vera Lourié hat die deutsche Staatsbürgerschaft nie angenommen. Bis zu ihrem Ende lebte sie als Staatenlose in Berlin. In ihren letzten Lebensjahren hatte sie oft Besuch von russischen Schriftstellern und Journalisten. Ungläubig hörten sie die Dichterin von einer Zeit erzählen, die sie nur aus der Literatur kannten. Die Stadt ihrer Kindheit und Jugend, St. Petersburg, sah sie nie wieder. Ende Musik Absage „Auf dem kalten Asphalt von Berlin“ Die russische Dichterin Vera Lourié, die Revolution, das Exil Sie hörten ein Feature von Doris Liebermann Es sprachen: Daniel Berger, Kerstin Fischer, Wieslawa Weslowska, Olga Thielecke und Mark Zak Ton und Technik: Ernst Hartmann und Hanna Steeger. Regie: Anna Pankin Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017 23
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