Schreiben - Council of the European Union

Europäischer Rat
The President
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PRESSEMITTEILUNG
35/17
31.01.2017
"Vereint stehen wir, getrennt fallen wir": Schreiben von
Präsident Donald Tusk an die 27 Staats- und
Regierungschefs der EU zur Zukunft der EU vor dem
Gipfeltreffen in Malta
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Um unsere Beratungen in Malta über die Zukunft der Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten so gut wie möglich
vorzubereiten, möchte ich unter Berücksichtigung der Gespräche, die ich mit einigen von Ihnen geführt habe, einige
Überlegungen formulieren, denen – wie ich glaube – die meisten von uns beipflichten können.
Die Europäische Union steht derzeit vor den gefährlichsten Herausforderungen seit der Unterzeichnung der Römischen
Verträge. Wir haben es heute mit drei Bedrohungen zu tun, die es zuvor nicht gegeben hat, wenigstens nicht in diesem Ausmaß.
Die erste Bedrohung ist externer Art und steht im Zusammenhang mit der neuen geopolitischen Lage auf der Welt und in der
Nachbarschaft Europas. Ein zunehmend – nennen wir es – selbstbewusst agierendes China, insbesondere auf See, die
aggressive Politik Russlands gegenüber der Ukraine und ihren Nachbarn, Krieg, Terror und Anarchie im Nahen Osten und in
Afrika, wo der radikale Islam eine wichtige Rolle spielt, sowie die besorgniserregenden Aussagen der neuen amerikanischen
Regierung – all das macht unsere Zukunft äußerst schwer vorhersehbar. Erstmals in unserer Geschichte vertreten viele in einer
zunehmend multipolaren Welt offen antieuropäische oder bestenfalls euroskeptische Standpunkte. Vor allem der Wandel in
Washington bringt die Europäische Union in eine schwierige Lage; denn die neue Regierung scheint die amerikanische
Außenpolitik der letzten 70 Jahre infrage zu stellen.
Die zweite Bedrohung ist interner Art und steht im Zusammenhang mit der Zunahme der europafeindlichen, nationalistischen,
zunehmend fremdenfeindlichen Stimmung in der EU selbst. Auch nationale Egoismen werden zu einer attraktiven Alternative zur
Integration. Darüber hinaus zehren zentrifugale Tendenzen von den Fehlern derjenigen, für die Ideologien und Institutionen
wichtiger geworden sind als die Interessen und Emotionen der Menschen.
Die dritte Bedrohung ist die Geisteshaltung der pro-europäischen Eliten. Das schwindende Vertrauen in die politische
Integration, die Unterwerfung unter populistische Argumente sowie Zweifel an den grundlegenden Werten der freiheitlichen
Demokratie greifen zunehmend um sich.
In einer Welt voller Spannungen und Konfrontation brauchen wir nun den Mut, die Entschlossenheit und die politische Solidarität
der Europäerinnen und Europäer. Denn ohne sie werden wir nicht überleben. Wenn wir nicht an uns selbst glauben, an den
tieferen Sinn der Integration, warum sollte jemand anderes dies tun? In Rom sollten wir dieses Glaubensbekenntnis erneuern. In
der heutigen Welt der Kontinentalstaaten mit Hunderten von Millionen Einwohnern haben die europäischen Länder einzeln kaum
Gewicht. Doch die EU hat das demografische und wirtschaftliche Potenzial, um als gleichwertiger Partner der größten Mächte
auftreten zu können. Daher ist das wichtigste Signal, das wir von Rom aussenden sollten, die Bereitschaft der 27, geeint zu sein.
Ein Signal, dass wir nicht nur geeint sein müssen, sondern dies auch wollen.
Zeigen wir, dass wir stolz auf Europa sind! Wenn wir vorgeben, dass wir die Worte nicht hören und die Beschlüsse nicht zur
Kenntnis nehmen, die gegen die EU und unsere Zukunft gerichtet sind, dann werden die Menschen Europa nicht mehr als ihre
größere Heimat betrachten. Und – was ebenso gefährlich wäre – unsere Partner in der Welt werden uns nicht mehr
respektieren. Objektiv betrachtet gibt es keinen Grund, warum sich Europa und seine politischen Führer bei externen Mächten
und deren Herrschern anbiedern sollten. Ich weiß, dass das Argument der Würde in der Politik nicht überstrapaziert werden darf,
da es häufig zu Konflikten führt und negative Gefühle weckt. Aber heute müssen wir sehr deutlich für unsere Würde eintreten, die
Würde eines vereinten Europas – und zwar unabhängig davon, ob wir Gespräche mit Russland, China, den USA oder der
Türkei führen. Deshalb sollten wir den Mut haben, auf unsere eigenen Erfolge stolz zu sein, die aus unserem Kontinent den
besten Platz auf Erden gemacht haben. Lassen Sie uns den Mut aufbringen, der Rhetorik von Demagogen entgegenzutreten,
die behaupten, dass die europäische Integration nur den Eliten nutzt, dass die normalen Bürgerinnen und Bürger unter der
Integration nur leiden und dass die Länder alleine besser zu Rande kommen als gemeinsam.
Wir müssen in die Zukunft schauen – dies war die Forderung, die Sie in unseren Konsultationen in den letzten Monaten am
häufigsten vorgebracht haben. Und dies wird nicht infrage gestellt. Aber wir dürfen niemals, unter keinen Umständen, vergessen,
was die wichtigsten Gründe dafür waren, dass wir vor 60 Jahren beschlossen haben, Europa zu einen. Oft hört man das
Argument, dass die Erinnerung an die vergangenen Tragödien eines geteilten Europas keine Rolle mehr spielt, dass die neuen
Generationen sich nicht an unsere Inspirationsquellen erinnern. Aber Gedächtnisschwund macht diese Inspirationen nicht
hinfällig, noch entbindet er uns von unserer Pflicht, ständig auf die tragischen Lehren hinzuweisen, die sich aus einer Spaltung
Europas ergeben. In Rom sollten wir mit Nachdruck diese beiden grundlegenden, doch vergessenen Wahrheiten bekräftigen:
Erstens haben wir Europa geeint, um eine weitere historische Katastrophe zu verhindern, und zweitens sind die Zeiten der
europäischen Einheit die besten Zeiten in der gesamten jahrhundertelangen Geschichte Europas. Es muss unmissverständlich
klargestellt werden, dass die Auflösung der Europäischen Union nicht zur Wiederherstellung von irgendwelchen mythischen
Staaten führt, die über ihre volle Souveränität verfügen, sondern dazu, dass diese Staaten de facto in Abhängigkeit von den
großen Supermächten USA, Russland und China geraten. Nur gemeinsam können wir völlig unabhängig sein.
Wir müssen daher entschiedene, spektakuläre Maßnahmen ergreifen, die einen Umschwung der kollektiven Emotionen
bewirken und die Bestrebungen wiederbeleben, die europäische Integration auf die nächste Stufe zu heben. Um dies tun zu
können, müssen wir das Gefühl der äußeren und der inneren Sicherheit sowie sozioökonomischen Wohlstand für die
europäischen Bürgerinnen und Bürger wiederherstellen. Dies erfordert eine endgültige Stärkung der Außengrenzen der EU;
eine verbesserte Zusammenarbeit der Dienststellen, die für die Bekämpfung des Terrorismus und den Schutz von Ordnung und
Frieden innerhalb des grenzfreien Raums zuständig sind; eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben; eine Stärkung der
Außenpolitik der EU als Ganzes sowie eine bessere Koordinierung der Außenpolitiken der einzelnen Mitgliedstaaten; und nicht
zuletzt die Förderung von Investitionen, sozialer Eingliederung, Wachstum, Beschäftigung, der Nutzung der Vorteile des
technologischen Wandels und der Konvergenz im Euroraum wie auch in Europa insgesamt.
Wir sollten die Veränderungen in der Handelsstrategie der USA zum Vorteil der EU nutzen, indem wir unsere Gespräche mit
interessierten Partnern intensivieren, gleichzeitig jedoch unsere Interessen verteidigen. Die Europäische Union sollte ihre Rolle
als Handelssupermacht nicht aufgeben, die für andere offensteht, aber ihre eigenen Bürger und Unternehmen schützt, und daran
erinnert, dass freier Handel fairer Handel ist. Wir sollten zudem die internationale Ordnung auf der Grundlage der
Rechtsstaatlichkeit mit Nachdruck verteidigen. Wir dürfen uns nicht denen beugen, die den transatlantischen Zusammenhalt
schwächen oder aufgeben wollen, ohne den die globale Ordnung und der Weltfrieden nicht überleben können. Wir sollten unsere
amerikanischen Freunde an ihr eigenes Motto erinnern:
Vereint stehen wir, getrennt fallen wir
.
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