Gott und die Welt Autor/-in: Irene Dänzer-Vanotti Sen

Abteilung:
Sendereihe:
Sendedatum:
Produktion:
Kirche und Religion
Gott und die Welt
29.01.2017
23.01.2017
Redaktion:
Autor/-in:
Sendezeit:
Anne Winter
Irene Dänzer-Vanotti
9.04-9.30 Uhr/kulturradio
11.15-19.00 Uhr/T9
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GOTT UND DIE WELT
Europäische Gedenkkultur
Eine Gedenkstätte für das Vernichtungslager Maly Trostenez in Minsk
Sprecherin:
Regina Lemnitz
Sprecher.
Markus Hoffmann
2. Sprecherin:
Ulrike Bieritz
Regie:
Roman Neumann
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Musik / Yesoma (Cello)
O-Ton 1 Leonid Lewin
OV-Sprecher:
Wie muss das für diese Menschen gewesen sein: Es ist Sommer. Alles blüht um sie
herum, die Wolken ziehen vorbei – und sie müssen an diesem Tag sterben. Wie
paradox, wie unlogisch ist das alles. Eine Katastrophe. Das ist das Paradox des 20.
Jahrhunderts.
O-Ton 2 Sima Margolina
OV-Sprecherin:
Die Überreste unserer Opfer, die wir zu beklagen haben, aus Österreich, Deutschland,
aus anderen Städten, auch aus anderen Ländern, sie liegen in derselben
weißrussischen Erde. Das macht uns alle zu Verwandten.
O-Ton 3 Gabriel Heim
An dem Ort zu stehen, wo dieses Leben meiner Großmutter zum Ende gebracht
worden ist, bedeutet einen Akt der inneren Ruhe. So wie man auch auf Friedhöfen
Menschen beerdigt, so denke ich, ist es auch wichtig, dass man die Orte besuchen
kann, wo Vorfahren gewaltsam zu Tode gebracht worden sind.
Musik / Yesoma (Cello)
Titelsprecherin
Europäische Gedenkkultur
Eine Gedenkstätte für das Vernichtungslager Malyj Trostenez
Eine Sendung von Irene Dänzer-Vanotti
Waldatmo
Sprecherin:
Ein Waldstück am Stadtrand von Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands. Hohe
Kiefernstämme. Erdwälle schirmen den Wald vom Lärm der nahen Autobahn ab. Es
sind Reste einer Mülldeponie aus den 60er, 70er Jahren, als hier noch die Abfälle des
Lebens in der Sowjetrepublik Weißrussland abgeladen wurden. Und mitten in diesem
Wald ein kleiner Grabstein. Er erinnert nicht nur an einen Menschen. Er erinnert an
zehntausende. Weißrussische Juden, deutsche, österreichische Juden, Weißrussen,
Russen – sie alle wurden hier von Deutschen oder Menschen unter deutschem Befehl
ermordet.
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Als die Wehrmacht im Sommer 1941 Weißrussland eingenommen hatte, führten die
deutschen Besatzer sofort die Gesetze des Nationalsozialismus ein. Die Minsker Juden
wurden in der Innenstadt in einem Ghetto zusammengepfercht. Im Lauf des Jahres
1942 aber mussten sie Platz machen. Für Tausende jüdische Kinder, Frauen und
Männer aus Deutschland und Österreich, die nach Minsk deportiert wurden. Sima
Margolina war ein kleines Mädchen. Sie konnte sich irgendwo im Ghetto verstecken.
Die Ereignisse von damals haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt:
Musik / The Wind Groans (Erik Friedlander)
O- Ton 4 Sima Margolina
OV-Sprecherin:
Im Juni 1942 gab es ein Pogrom im Minsker Ghetto – das war das größte und
schrecklichste Pogrom im Minsker Ghetto. Dabei kam meine Mutter ums Leben, die
damals 32 Jahre alt war. Und auch zwei meiner jüngeren Schwestern.
Sprecherin:
Sie wurden in der Vernichtungsstätte Malyj Trostenez ermordet und verscharrt.
Zunächst wurden hier einheimische Juden umgebracht, später die Menschen, die aus
Deutschland und Österreich deportiert worden waren.
O-Ton 5 Henning Scherf
Minsk war für das Ende! Das Ende des Lebens, das Ende des Zusammenlebens und
auch das Ende der Hoffnung, dass man sich wiedersieht.
Musik
Sprecherin:
Henning Scherf, der ehemalige Bremer Bürgermeister, kennt Minsk seit seiner
Kindheit als Ort des Schreckens:
O-Ton 6 Henning Scherf
Wir hatten bei uns getaufte Juden, Abrahams, eine ganze Familie. Und die Mehrheit ist
hier nach Minsk deportiert worden und hier umgebracht worden (und die Minderheit
hat überlebt.)
O-Ton 7 Matthias Tümpel
Das ist so ungeheuerlich! Auch nach 70 Jahren. In diesem Bewusstsein an den
Gräbern zu stehen – und dann gleichzeitig dass die Opfer keine Namen haben, dass
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nicht in geringster Weise eine angemessene Form gefunden worden ist, wie man mit
diesem Unrecht umgeht.
Sprecherin:
Matthias Tümpel ist Vorsitzender des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks, das sich seit Jahren um die Erinnerung an die Opfer von Malyj Trostenez
bemüht. An vielen Orten, an denen in Weißrussland schreckliche Verbrechen
geschahen, haben die Nachfahren der Opfer hier noch nie geweint, keine Blumen
nieder gelegt. Die Stätten blieben – zumal im Westen - unbekannt, obwohl es an vielen
von ihnen eindrucksvolle Denkmale gibt.
An die Greueltaten des Nationalsozialismus und ihre Opfer zu erinnern, ist kein
Selbstzweck. Vielmehr gilt es Fragen zu klären, die heute noch beunruhigen. Die junge
ukrainische Historikerin Iryna Starowojt zum Beispiel überlegt immer wieder:
O-Ton 8 Iryna Starowojt
(aus Film Europäische Gedenkkultur:
OV-Sprecherin:
Sind wir Nachfahren der Henker? Sind wir Nachfahren der Opfer? Sind wir Nachfahren
sowohl der Henker als auch der Opfer?
Sprecherin:
In fast jeder deutschen Familie waren Menschen am Russlandkrieg beteiligt. Als
Soldaten, als Täter oder als Opfer von Vertreibung, Vergewaltigungen, Hungersnot.
Traumata, Schuldgefühle und Trauer wirken in den folgenden Generationen weiter.
Musikakzent (Chazal – John Zorn)
Bei der Trauer soll aber es nicht bleiben, wenn es nach Peter Junge Wentrup geht. Er
will:
O-Ton 9 Peter Junge-Wentrup
Gedenken für eine gemeinsame europäische Zukunft, das ist der Kern.
Sprecherin:
Seit 30 Jahren arbeitet der Sozialpädagoge daran, dass Menschen aus Deutschland,
Weißrussland und der Ukraine einander kennenlernen und – wo immer möglich –
zusammenarbeiten, Stärkere aus allen drei Ländern zu Gunsten von Schwächeren.
Junge-Wentrup organisiert Hilfe für Opfer von Krieg und Holocaust sowie für
Menschen, die unter Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leiden. Die Lehre
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aus dem Krieg muss sein, Europa gemeinsam zu gestalten, meint der Geschäftsführer
des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk - IBB, mit Standorten in
Dortmund, Berlin und Minsk. Seine Wurzeln liegen in der protestantischen
Friedensbewegung.
O-Ton 10 Peter Junge-Wentrup
Wir erinnern insbesondere, weil wir eine gemeinsame europäische Zukunft haben
wollen, die nicht erneut in Nationalismen nur denkt, die nicht erneut in Bedrohungspotenziale und in Sanktionen denkt und in militärischen Optionen, sondern wirklich
von dem Grundbegriff der europäischen Verständigung ausgeht, weil wir die
Geschichte kennen.
Sprecherin:
Und nicht nur sie, sondern auch die unterschiedlichen Gedenkrituale in Ost und West,
die Folge dieser Geschichte sind. Während in Deutschland der Holocaust im allgemeinen Bewusstsein verankert ist, ist es der deutsch-sowjetische Vernichtungskrieg
nicht:
O-Ton 11 Peter Junge-Wentrup
Also das erste, was man ja mal wirklich sagen muss: die Bundesrepublik Deutschland
hat sich aus Anlass des 70. Jahrestages des Kriegsendes 2015, im Mai 2015, in
Belarus entschuldigt. Wenn man Verständigung will, dann gehört auch eine
Entschuldigung, eine ausgesprochene Entschuldigung dazu; man kann nicht über die
Verbrechen hinweggehen. Das benennt zunächst mal, wo wir denn da überhaupt
stehen, dass diese Aufgabe der Verständigung gerade über Polen hinaus auch mal als
Aufgabe staatlicher Politik begriffen wird, da sind wir noch gar nicht so weit.
Sprecherin:
Erschwert wird das zudem, weil Erinnerung nicht gleich Erinnerung ist. In den sieben
Jahrzehnten seit Kriegsende haben sich unterschiedliche Kulturen und Muster des
Gedenkens entwickelt. In den Staaten der ehemaligen Sowjetunion heißt des Krieges
zu gedenken, an den Sieg zu erinnern.
O-Ton 12 Peter Junge-Wentrup
Damit ist es ein Gedenken an die militärische Macht, und der Hintergrund ist, unser
Land darf nie mehr angegriffen werden, oder jeder, der dieses Land angreift, muss
wissen, er wird vernichtend geschlagen.
Sprecherin:
Mit dieser Haltung wird eine Politik gemacht, die eher auf Trennung als auf
Versöhnung setzt. Das ist seit längerer Zeit in den Auseinandersetzungen zwischen
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Russland und der EU zu beobachten. Die Überzeugung von Peter Junge-Wentrup und
seinem Team ist aber:
Sprecher:
Helden trennen, Opfer dagegen vereinen.
Sprecherin:
Weißrussland ist einen eigenen Weg gegangen, obwohl es während des Krieges zur
Sowjetunion und damit zu einer der Siegermächte gehörte:
O-Ton 13 Peter Junge-Wentrup
Also in Belarus gibt es dies Opfergedenken - auch der jüdischen Opfer … über
800.000 Juden wurden dort ermordet, über zwei Millionen sowjetische
Kriegsgefangene sind auf dem Territorium allein in dem ersten Jahr 41/42 ermordet
worden und es hat über 629 Dörfer gegeben, die mit allen Einwohnern vernichtet
worden sind. Und genau deshalb gibt es in diesem Land, weil die Schrecken dort so
besonders waren, diese andere Gedenkkultur auch.
Musik (At Vaani – Sasha Argov)
Sprecherin:
In diesem Geist stehen auf Einladung des IBB rund 100 Menschen in dem Kiefernwald
am Stadtrand von Minsk. Hier lag 1941 das Dorf Malyj Trostenez mit dem Wäldchen
Blagowschtschina. Diesen Ort in der leicht gewellten Landschaft Weißrusslands hatte
die NS-Führung schon früh als Stätte der Vernichtung von Juden aus ganz Europa
ausgewählt, sagt die Historikerin Petra Rentrop:
Musik
O-Ton 14 Dr. Petra Rentrop
Erste Deportationsziele lagen im sowjetischen Gebiet – zwei davon, nämlich Riga und
Minsk. Und so war Minsk dann auch einbezogen in diese Planung zur Ermordung der
europäischen Juden.
O-Ton 15 Gabriel Heim
Es gibt einen Bericht aus Minsk, der genau erzählt, was danach geschah, nämlich, dass
die Menschen auf Lastwagen in das nahe Wäldchen von Blagowschtschina gekarrt
wurden und dort im Wald in Massenerschießungen erschossen wurden. Das war das
Schicksal und das war der letzte Tag meiner Großmutter im Juni 1942.
Sprecherin:
Gabriel Heim. Er hat das Leben seiner Großmutter Marie Winter erforscht. Viele Jahre
nach ihrem gewaltsamen Tod. Dabei hat er Malyj Trostenez entdeckt, die Vernichtungsstätte, deren Namen er bis dahin nie gehört hatte. Der ehemalige Fernseh-
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direktor des RBB hat ein Buch über seine Großmutter geschrieben. Titel: „Ich will keine
Blaubeertorte. Ich will nur raus!“
O-Ton 16 Gabriel Heim
Marie Winter war Witwe und hatte keine Möglichkeiten Deutschland zu verlassen. In
einem letzten Aufbäumen hat sie versucht unterzutauchen und aus Berlin zu fliehen
und durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ist sie kurz bevor sie die
Schweizer Grenze erreichen konnte von der Gestapo aufgegriffen worden und im
Gefängniswagen als Verbrecherin und Jüdin wieder nach Berlin zurückgebracht
worden. Marie Winter war noch einen Monat lang im Gefängnis am Alexanderplatz von
der Gestapo inhaftiert und wurde dann auf einen Transport nach dem Osten, wie es
damals hieß, gebracht, wo sie zwei Tage nach ihrer Abfahrt aus Berlin in Minsk
ausgeladen wurde.
Sprecherin:
200 jüdische Frauen und Männer wurden im Sommer 1942 zusammen mit Marie
Winter in der Vernichtungsstätte der Nationalsozialisten in Weißrussland ermordet.
O-Ton 17 Gabriel Heim
Die deutsche Verwaltung hat die Lebensläufe bis zu ihrem gewaltsamen Ende
dokumentiert.
Sprecherin:
So sind heute auch die Namen derer bekannt, die aus Berlin nach Minsk deportiert
wurden.
Musik (Ba’adinot – John Zorn), darüber:
Sprecher:
Abraham, Paula, 41 Jahre
aus der Köpenicker Str. 42
Alexander, Siegfried, 51 Jahre,
Vertreter aus Schöneberg
Amsberg, Else, 55 Jahre
aus Wilmersdorf
Amsberg, Heinrich, 48 Jahre
ebenfalls aus Wilmersdorf
Amster, Rosalie, 55 Jahre
aus Berlin Mitte
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Auerbach, Berthold, 53 Jahre
Amtsgerichtsrat aus Charlottenburg
Waldatmo
Sprecherin:
Sie alle erlitten, was Tatjana, die weißrussische Expertin, beschreibt:
O-Ton 18 Tatjana
Nach der Auswaggonierung, wie man das bezeichnete, wurden die Deportierten hier
freundlich willkommen geheißen. Das ganze Gepäck wurde ihnen abgenommen, wegen
der Bequemlichkeit, wie man sagte, alle Wertsachen genommen, alle Dokumente.
Damit keine Panik ausbricht. In jedem Transport waren etwa 1000 Menschen, hat man
ihnen auch Quittungen gegeben.
O-Ton 19 Manfred Zabel
Die Erschießungskommandos hatten nicht nur das Knallen ihrer Pistolen und ihrer
Gewehre, sondern eine Beschallung mit Lautsprechern, die den ganzen Wald gefüllt
hatte und es wurden deutsche Schlager abgespielt. Immer wieder der deutsche
Schlager: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Nach jedem Dezember folgt
wieder ein Mai!“
Sprecherin:
Nicht für die Menschen hier. Sie wurden zu den Gruben geführt und erschossen oder
erstickt und anschließend in 34 Massengräbern verscharrt.
Musik (At Vaani – Sasha Argov)
Sprecherin:
Nach dem Krieg versinken die Verbrechen, die Deutsche hier verübt haben, im
Schweigen: Deutsche ehemalige Soldaten sprechen kein Wort über die Gräueltaten,
die sie in der Sowjetunion verübt oder beobachtet haben. Manche verstecken die
Wahrheit höchstens hinter allzu lauten Erzählungen über ihr - unbestrittenes – eigenes
Elend in diesem Krieg. Gekämpft hatten sie gegen ein Volk, das die NS-Propaganda zu
„Untermenschen“ gemacht hatte. Von ihnen wurden die Deutschen besiegt. Das
haben die Soldaten als Schmach empfunden. Auch dieses Gefühl ist einer der vielen
Gründe dafür, dass die Verbrechen in Deutschland verdrängt werden.
In der DDR verschließt die erzwungene Freundschaft zur Sowjetunion den ehemaligen
Soldaten den Mund.
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O-Ton 22 Kaddish
Sprecherin:
Wenigstens das Kaddish, das jüdische Totengebet, ist an dem Grabstein auf der
Lichtung in Malyj Trostenez inzwischen gesprochen worden.
Kaddish
Dabei soll es aber nicht bleiben. Jetzt – endlich - soll hier ein Erinnerungsort entstehen
als
weißrussisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt. 2015 wurde bereits eine Skulptur
unter dem Namen „Die Pforte der Erinnerung“ aufgestellt: Mit Stacheldraht gefesselte
magere Gestalten drücken sich an einen Zaun. Der Stil ähnelt noch den überdimensionalen sowjetischen Mahnmalen. Die Wirkung – so scheint es jedenfalls westlichen
Betrachtern – zielt eher auf Entsetzen als auf Trauer. Auf Gedenksteinen sind die
vielen Lager benannt, wo Kriegsgefangene, einfache Bewohner und die jüdische
Bevölkerung ermordet wurden.
Präsident Alexander Lukaschenko hatte dafür – begleitet von militärischem Pomp den Grundstein gelegt. Der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses, Ronald
Lauder, kam zu der Zeremonie eigens nach Minsk:
O-Ton 23 Präsident des Jüdischen Weltkongresses Ronald Lauder
Before the war…Belarus as well as jews.
OV-Sprecher:
Vor dem Krieg lebten eine Million Juden in Weißrussland. 800.000 wurden
umgebracht, viele von ihnen hier in Trostenez. Jetzt gibt es zum ersten Mal eine
Gedenkstätte für sie. Es geht dabei nicht nur um die Toten, sondern auch um die
Juden, die heute hier leben. Der Jüdische Weltkongress kümmert sich immer um
Juden in der Diaspora, Juden in der Minderheit. Heute leben in Weißrussland 40.000
Juden. Wir sollten alles dafür tun, dass sie hier normal leben können. Das ist wichtig
für das Land und für die Juden.
Sprecherin:
Weißrussland wird von Präsident Lukaschenko autokratisch regiert. Menschenrechte
werden missachtet. Die jüdischen Gemeinden aber können offenbar ihr religiöses und
soziales Leben frei gestalten. Gedenkstätten erinnern auch an jüdische Opfer, eine
Ausnahme in einem ehemals sowjetischen Land.
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O-Ton 24 Glocken von Chatyn
Sprecherin:
Die weißrussischen Orte des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg sind im Westen
unbekannt. Dabei sind sie – nicht zuletzt - künstlerisch einzigartig.
O-Ton 25 Glocken von Chatyn
Sprecherin:
In Chatyn läuten alle 30 Sekunden Glocken. Tag und Nacht. Seit Jahrzehnten. Der Ort
erinnert an ein Dorf, in dem im März 1943 alle Bewohner in einer Scheune zusammengetrieben und verbrannt wurden. Hier ist auch ein „Friedhof der Dörfer“ angelegt mit
der Erde von mehr als 600 Orten, die ebenfalls ausgerottet wurden.
O-Ton 25 Glocken von Chatyn & Musik (Interlude – John Zorn)
Sprecherin:
In der Kleinstadt Krasni Berek, (sprich: wie geschrieben mit rollendem r) irgendwo im
Südosten Weißrusslands, ist eine Schulklasse aufgebaut. Leere Bänke aus Beton inmitten von Streuobstwiesen. An dieser Stelle war ein KZ für Kinder, die die Deutschen
als Blutspender missbrauchten. Ihre Schulbänke blieben so leer.
Glocken von Chatyn, Ende
Sprecherin:
Der weißrussisch-jüdische Architekt Leonid Lewin hat diese Stätten gestaltet. Er hatte
auch ein Mahnmal für Malyj Trostenez geplant.
O-Ton 26 Leonid Lewin
OV-Sprecher:
Um das bauen zu können, muss man im Geiste mit den Menschen, die hier gelitten
haben, gehen können. Wenn Du nicht mit den Menschen an die Grube gegangen bist,
verstehst Du das auch nicht. Man muss versuchen, zu spüren, was die Menschen erlebt
haben.
Musik (Ba’adinot – John Zorn)
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Sprecher:
Winter, Marie, 63 Jahre
aus Wilmersdorf
Wohl-Ecker, Hans 32 Jahre
Aus Wilmersdorf
Wolf, Hellmut, 45 Jahre
Aus Kreuzberg
Zweig, Dora, 44 Jahre
Angestellte aus Niederschöneweide
Zweig, Hans, 54 Jahre
Angestellter aus Wilmersdorf
Sprecherin:
In Berlin, Düsseldorf, Köln, Hamburg, Bremen und Wien haben Historiker die Namen
der Menschen gesucht, die in Malyj Trostenez ermordet wurden. Außerdem wurde
Geld für den geplanten Gedenkort gesammelt. Die Bethe-Stiftung, die auch Reisen
nach Auschwitz oder Treblinka in Polen finanziert, hat die Spenden verdoppelt, das
Auswärtige Amt hat einen Zuschuss gegeben.
Die Initiative arbeitet heute vor dem Hintergrund politischer Spannungen. Als letzte
Diktatur Europas, wie Kritiker ihn nennen, ist der Staat von der internationalen
Gemeinschaft geächtet. Für die meisten Deutschen und andere Europäer ist Weißrussland - oder Belarus - ein unbekannter Landstrich, den sie allenfalls auf der
Wetterkarte östlich von Polen schon mal gesehen haben.
O-Ton 27 Henning Scherf
Bei uns in Deutschland Belarus – das ist Sibirien...
Sprecherin:
Der SPD-Politiker Henning Scherf, gehört zu denen, die jenseits politischer Schwierigkeiten und kritikwürdiger Strukturen einen neuen Wandel durch Annäherung schaffen
möchten:
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O-Ton 28 Henning Scherf
Die jungen Leute, die man hier sieht, die wachsen in Europa auf – und das sind unsere
Nachbarn, unsere direkten angrenzenden Nachbarn an die EU. Da kann man doch
nicht sagen, die vergessen wir. Nein.
Sprecherin:
Menschen die Hand schütteln, sie in den Arm nehmen. Henning Scherf macht das, wo
er kann. In dem weitläufigen Gelände der bereits gebauten staatlichen Gedenkstätte
geht der Zwei-Meter-Mann auf die Bauarbeiter zu, die unter Birken ihre Mittagspause
halten. Spasibo, Danke. Er drückt jedem einzelnen die Hand.
Musikkazent (Chazal – John Zorn)
Dennoch gibt es zur Zeit in ganz Europa Rückschritte in der Verständigungspolitik. Die
Besinnung auf nationale Interessen stärkt rechtspopulistische Bewegungen. Auch in
dieses Getriebe will das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk Sand streuen,
in kleinen Prisen zunächst. Es hat junge Historiker und Journalisten aus Deutschland,
Weißrussland und der Ukraine zu einer Rundreise durch Gedenkstätten in Mitteleuropa eingeladen. Die Enkel und Urenkel der Kriegsgeneration sollen eine gemeinsame
Erinnerung entwickeln. Denn stellen sich letztendlich nicht alle dieselbe Frage?
O-Ton 29 Iryna Starowojt Historikein, Film Europäische Gedenkkultur
OV-Sprecherin:
Sind wir Nachfahren der Henker? Sind wir Nachfahren der Opfer? Sind wir Nachfahren
sowohl der Henker als auch der Opfer?
Musikkazent (Chazal – John Zorn)
Sprecherin:
So könnte Verständigung aus dem Geist gemeinsamer Trauer geboren werden. Daran
will der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf mitwirken.
O-Ton 30 Henning Scherf
Wir wollen darüber, dass wir die Erinnerungsarbeit ernst nehmen und uns nicht nur
Propagandasprüche austauschen, sondern richtig vor den Toten aufrichtig und
wahrhaftig sein wollen, dadurch wollen wir auch die Grundlage legen für die Zukunft
unserer Kinder und unserer Enkelkinder.
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Sprecherin:
Nach diesen Worten legt er die Hand auf die Schulter von Sima Margolina. Der Bremer
Ex-Bürgermeister, dessen Nachbarn deportiert wurden, die Frau aus Minsk, deren
Mutter in Malyj Trostenez ermordet wurde und der Schweizer Gabriel Heim, dessen
Berliner Großmutter am selben Ort sterben musste - Gemeinsam trauern sie als
Nachfahren im Wäldchen von Blagowschtschina, am Rande der zugeschütteten
Massengräber.
O-Ton 31 Gabriel Heim
An dem Ort zu stehen, wo dieses Leben meiner Großmutter zum Ende gebracht
worden ist, bedeutet einen Akt der inneren Ruhe. So wie man auch auf Friedhöfen
Menschen beerdigt, so denke ich, ist es auch wichtig, dass man die Orte besuchen
kann, wo Vorfahren gewaltsam zu Tode gebracht worden sind.
Sprecherin:
Deshalb plädiert der Publizist auch dafür, dass Malyj Trostenez zu einer Gedenkstätte
wird und ein Punkt auf der Landkarte europäischen Gedenkens:
Und Sima Margolina fügt hinzu:
O-Ton 34 Sima Margolina
OV-Sprecherin:
Die Menschen, die in der weißrussischen Erde begraben sind, machen uns alle zu
Verwandten.
Musik / Yesoma (Cello)
Titelsprecherin
Europäische Gedenkkultur
Eine Gedenkstätte für das Vernichtungslager Malyj Trostenez
Sie hörten eine Sendung von Irene Dänzer-Vanotti
Es sprachen: Regina Lemnitz, Markus Hoffmann und Ulrike Bieritz
Ton: Bodo Pasternak
Redaktion: Anne Winter
Regie: Roman Neumann
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