Abteilung: Sendereihe: Sendedatum: Produktion: Kirche und Religion Gott und die Welt 29.01.2017 23.01.2017 Redaktion: Autor/-in: Sendezeit: Anne Winter Irene Dänzer-Vanotti 9.04-9.30 Uhr/kulturradio 11.15-19.00 Uhr/T9 _____________________________________________________________________________ Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt; eine Verwertung ohne Genehmigung des Autors ist nicht gestattet. Insbesondere darf das Manuskript weder ganz noch teilweise abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Eine Verbreitung im Rundfunk oder Fernsehen bedarf der Zustimmung des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg). _____________________________________________________________________________ GOTT UND DIE WELT Europäische Gedenkkultur Eine Gedenkstätte für das Vernichtungslager Maly Trostenez in Minsk Sprecherin: Regina Lemnitz Sprecher. Markus Hoffmann 2. Sprecherin: Ulrike Bieritz Regie: Roman Neumann 2 Musik / Yesoma (Cello) O-Ton 1 Leonid Lewin OV-Sprecher: Wie muss das für diese Menschen gewesen sein: Es ist Sommer. Alles blüht um sie herum, die Wolken ziehen vorbei – und sie müssen an diesem Tag sterben. Wie paradox, wie unlogisch ist das alles. Eine Katastrophe. Das ist das Paradox des 20. Jahrhunderts. O-Ton 2 Sima Margolina OV-Sprecherin: Die Überreste unserer Opfer, die wir zu beklagen haben, aus Österreich, Deutschland, aus anderen Städten, auch aus anderen Ländern, sie liegen in derselben weißrussischen Erde. Das macht uns alle zu Verwandten. O-Ton 3 Gabriel Heim An dem Ort zu stehen, wo dieses Leben meiner Großmutter zum Ende gebracht worden ist, bedeutet einen Akt der inneren Ruhe. So wie man auch auf Friedhöfen Menschen beerdigt, so denke ich, ist es auch wichtig, dass man die Orte besuchen kann, wo Vorfahren gewaltsam zu Tode gebracht worden sind. Musik / Yesoma (Cello) Titelsprecherin Europäische Gedenkkultur Eine Gedenkstätte für das Vernichtungslager Malyj Trostenez Eine Sendung von Irene Dänzer-Vanotti Waldatmo Sprecherin: Ein Waldstück am Stadtrand von Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands. Hohe Kiefernstämme. Erdwälle schirmen den Wald vom Lärm der nahen Autobahn ab. Es sind Reste einer Mülldeponie aus den 60er, 70er Jahren, als hier noch die Abfälle des Lebens in der Sowjetrepublik Weißrussland abgeladen wurden. Und mitten in diesem Wald ein kleiner Grabstein. Er erinnert nicht nur an einen Menschen. Er erinnert an zehntausende. Weißrussische Juden, deutsche, österreichische Juden, Weißrussen, Russen – sie alle wurden hier von Deutschen oder Menschen unter deutschem Befehl ermordet. 3 Als die Wehrmacht im Sommer 1941 Weißrussland eingenommen hatte, führten die deutschen Besatzer sofort die Gesetze des Nationalsozialismus ein. Die Minsker Juden wurden in der Innenstadt in einem Ghetto zusammengepfercht. Im Lauf des Jahres 1942 aber mussten sie Platz machen. Für Tausende jüdische Kinder, Frauen und Männer aus Deutschland und Österreich, die nach Minsk deportiert wurden. Sima Margolina war ein kleines Mädchen. Sie konnte sich irgendwo im Ghetto verstecken. Die Ereignisse von damals haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt: Musik / The Wind Groans (Erik Friedlander) O- Ton 4 Sima Margolina OV-Sprecherin: Im Juni 1942 gab es ein Pogrom im Minsker Ghetto – das war das größte und schrecklichste Pogrom im Minsker Ghetto. Dabei kam meine Mutter ums Leben, die damals 32 Jahre alt war. Und auch zwei meiner jüngeren Schwestern. Sprecherin: Sie wurden in der Vernichtungsstätte Malyj Trostenez ermordet und verscharrt. Zunächst wurden hier einheimische Juden umgebracht, später die Menschen, die aus Deutschland und Österreich deportiert worden waren. O-Ton 5 Henning Scherf Minsk war für das Ende! Das Ende des Lebens, das Ende des Zusammenlebens und auch das Ende der Hoffnung, dass man sich wiedersieht. Musik Sprecherin: Henning Scherf, der ehemalige Bremer Bürgermeister, kennt Minsk seit seiner Kindheit als Ort des Schreckens: O-Ton 6 Henning Scherf Wir hatten bei uns getaufte Juden, Abrahams, eine ganze Familie. Und die Mehrheit ist hier nach Minsk deportiert worden und hier umgebracht worden (und die Minderheit hat überlebt.) O-Ton 7 Matthias Tümpel Das ist so ungeheuerlich! Auch nach 70 Jahren. In diesem Bewusstsein an den Gräbern zu stehen – und dann gleichzeitig dass die Opfer keine Namen haben, dass 4 nicht in geringster Weise eine angemessene Form gefunden worden ist, wie man mit diesem Unrecht umgeht. Sprecherin: Matthias Tümpel ist Vorsitzender des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks, das sich seit Jahren um die Erinnerung an die Opfer von Malyj Trostenez bemüht. An vielen Orten, an denen in Weißrussland schreckliche Verbrechen geschahen, haben die Nachfahren der Opfer hier noch nie geweint, keine Blumen nieder gelegt. Die Stätten blieben – zumal im Westen - unbekannt, obwohl es an vielen von ihnen eindrucksvolle Denkmale gibt. An die Greueltaten des Nationalsozialismus und ihre Opfer zu erinnern, ist kein Selbstzweck. Vielmehr gilt es Fragen zu klären, die heute noch beunruhigen. Die junge ukrainische Historikerin Iryna Starowojt zum Beispiel überlegt immer wieder: O-Ton 8 Iryna Starowojt (aus Film Europäische Gedenkkultur: OV-Sprecherin: Sind wir Nachfahren der Henker? Sind wir Nachfahren der Opfer? Sind wir Nachfahren sowohl der Henker als auch der Opfer? Sprecherin: In fast jeder deutschen Familie waren Menschen am Russlandkrieg beteiligt. Als Soldaten, als Täter oder als Opfer von Vertreibung, Vergewaltigungen, Hungersnot. Traumata, Schuldgefühle und Trauer wirken in den folgenden Generationen weiter. Musikakzent (Chazal – John Zorn) Bei der Trauer soll aber es nicht bleiben, wenn es nach Peter Junge Wentrup geht. Er will: O-Ton 9 Peter Junge-Wentrup Gedenken für eine gemeinsame europäische Zukunft, das ist der Kern. Sprecherin: Seit 30 Jahren arbeitet der Sozialpädagoge daran, dass Menschen aus Deutschland, Weißrussland und der Ukraine einander kennenlernen und – wo immer möglich – zusammenarbeiten, Stärkere aus allen drei Ländern zu Gunsten von Schwächeren. Junge-Wentrup organisiert Hilfe für Opfer von Krieg und Holocaust sowie für Menschen, die unter Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leiden. Die Lehre 5 aus dem Krieg muss sein, Europa gemeinsam zu gestalten, meint der Geschäftsführer des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk - IBB, mit Standorten in Dortmund, Berlin und Minsk. Seine Wurzeln liegen in der protestantischen Friedensbewegung. O-Ton 10 Peter Junge-Wentrup Wir erinnern insbesondere, weil wir eine gemeinsame europäische Zukunft haben wollen, die nicht erneut in Nationalismen nur denkt, die nicht erneut in Bedrohungspotenziale und in Sanktionen denkt und in militärischen Optionen, sondern wirklich von dem Grundbegriff der europäischen Verständigung ausgeht, weil wir die Geschichte kennen. Sprecherin: Und nicht nur sie, sondern auch die unterschiedlichen Gedenkrituale in Ost und West, die Folge dieser Geschichte sind. Während in Deutschland der Holocaust im allgemeinen Bewusstsein verankert ist, ist es der deutsch-sowjetische Vernichtungskrieg nicht: O-Ton 11 Peter Junge-Wentrup Also das erste, was man ja mal wirklich sagen muss: die Bundesrepublik Deutschland hat sich aus Anlass des 70. Jahrestages des Kriegsendes 2015, im Mai 2015, in Belarus entschuldigt. Wenn man Verständigung will, dann gehört auch eine Entschuldigung, eine ausgesprochene Entschuldigung dazu; man kann nicht über die Verbrechen hinweggehen. Das benennt zunächst mal, wo wir denn da überhaupt stehen, dass diese Aufgabe der Verständigung gerade über Polen hinaus auch mal als Aufgabe staatlicher Politik begriffen wird, da sind wir noch gar nicht so weit. Sprecherin: Erschwert wird das zudem, weil Erinnerung nicht gleich Erinnerung ist. In den sieben Jahrzehnten seit Kriegsende haben sich unterschiedliche Kulturen und Muster des Gedenkens entwickelt. In den Staaten der ehemaligen Sowjetunion heißt des Krieges zu gedenken, an den Sieg zu erinnern. O-Ton 12 Peter Junge-Wentrup Damit ist es ein Gedenken an die militärische Macht, und der Hintergrund ist, unser Land darf nie mehr angegriffen werden, oder jeder, der dieses Land angreift, muss wissen, er wird vernichtend geschlagen. Sprecherin: Mit dieser Haltung wird eine Politik gemacht, die eher auf Trennung als auf Versöhnung setzt. Das ist seit längerer Zeit in den Auseinandersetzungen zwischen 6 Russland und der EU zu beobachten. Die Überzeugung von Peter Junge-Wentrup und seinem Team ist aber: Sprecher: Helden trennen, Opfer dagegen vereinen. Sprecherin: Weißrussland ist einen eigenen Weg gegangen, obwohl es während des Krieges zur Sowjetunion und damit zu einer der Siegermächte gehörte: O-Ton 13 Peter Junge-Wentrup Also in Belarus gibt es dies Opfergedenken - auch der jüdischen Opfer … über 800.000 Juden wurden dort ermordet, über zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene sind auf dem Territorium allein in dem ersten Jahr 41/42 ermordet worden und es hat über 629 Dörfer gegeben, die mit allen Einwohnern vernichtet worden sind. Und genau deshalb gibt es in diesem Land, weil die Schrecken dort so besonders waren, diese andere Gedenkkultur auch. Musik (At Vaani – Sasha Argov) Sprecherin: In diesem Geist stehen auf Einladung des IBB rund 100 Menschen in dem Kiefernwald am Stadtrand von Minsk. Hier lag 1941 das Dorf Malyj Trostenez mit dem Wäldchen Blagowschtschina. Diesen Ort in der leicht gewellten Landschaft Weißrusslands hatte die NS-Führung schon früh als Stätte der Vernichtung von Juden aus ganz Europa ausgewählt, sagt die Historikerin Petra Rentrop: Musik O-Ton 14 Dr. Petra Rentrop Erste Deportationsziele lagen im sowjetischen Gebiet – zwei davon, nämlich Riga und Minsk. Und so war Minsk dann auch einbezogen in diese Planung zur Ermordung der europäischen Juden. O-Ton 15 Gabriel Heim Es gibt einen Bericht aus Minsk, der genau erzählt, was danach geschah, nämlich, dass die Menschen auf Lastwagen in das nahe Wäldchen von Blagowschtschina gekarrt wurden und dort im Wald in Massenerschießungen erschossen wurden. Das war das Schicksal und das war der letzte Tag meiner Großmutter im Juni 1942. Sprecherin: Gabriel Heim. Er hat das Leben seiner Großmutter Marie Winter erforscht. Viele Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod. Dabei hat er Malyj Trostenez entdeckt, die Vernichtungsstätte, deren Namen er bis dahin nie gehört hatte. Der ehemalige Fernseh- 7 direktor des RBB hat ein Buch über seine Großmutter geschrieben. Titel: „Ich will keine Blaubeertorte. Ich will nur raus!“ O-Ton 16 Gabriel Heim Marie Winter war Witwe und hatte keine Möglichkeiten Deutschland zu verlassen. In einem letzten Aufbäumen hat sie versucht unterzutauchen und aus Berlin zu fliehen und durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ist sie kurz bevor sie die Schweizer Grenze erreichen konnte von der Gestapo aufgegriffen worden und im Gefängniswagen als Verbrecherin und Jüdin wieder nach Berlin zurückgebracht worden. Marie Winter war noch einen Monat lang im Gefängnis am Alexanderplatz von der Gestapo inhaftiert und wurde dann auf einen Transport nach dem Osten, wie es damals hieß, gebracht, wo sie zwei Tage nach ihrer Abfahrt aus Berlin in Minsk ausgeladen wurde. Sprecherin: 200 jüdische Frauen und Männer wurden im Sommer 1942 zusammen mit Marie Winter in der Vernichtungsstätte der Nationalsozialisten in Weißrussland ermordet. O-Ton 17 Gabriel Heim Die deutsche Verwaltung hat die Lebensläufe bis zu ihrem gewaltsamen Ende dokumentiert. Sprecherin: So sind heute auch die Namen derer bekannt, die aus Berlin nach Minsk deportiert wurden. Musik (Ba’adinot – John Zorn), darüber: Sprecher: Abraham, Paula, 41 Jahre aus der Köpenicker Str. 42 Alexander, Siegfried, 51 Jahre, Vertreter aus Schöneberg Amsberg, Else, 55 Jahre aus Wilmersdorf Amsberg, Heinrich, 48 Jahre ebenfalls aus Wilmersdorf Amster, Rosalie, 55 Jahre aus Berlin Mitte 8 Auerbach, Berthold, 53 Jahre Amtsgerichtsrat aus Charlottenburg Waldatmo Sprecherin: Sie alle erlitten, was Tatjana, die weißrussische Expertin, beschreibt: O-Ton 18 Tatjana Nach der Auswaggonierung, wie man das bezeichnete, wurden die Deportierten hier freundlich willkommen geheißen. Das ganze Gepäck wurde ihnen abgenommen, wegen der Bequemlichkeit, wie man sagte, alle Wertsachen genommen, alle Dokumente. Damit keine Panik ausbricht. In jedem Transport waren etwa 1000 Menschen, hat man ihnen auch Quittungen gegeben. O-Ton 19 Manfred Zabel Die Erschießungskommandos hatten nicht nur das Knallen ihrer Pistolen und ihrer Gewehre, sondern eine Beschallung mit Lautsprechern, die den ganzen Wald gefüllt hatte und es wurden deutsche Schlager abgespielt. Immer wieder der deutsche Schlager: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Nach jedem Dezember folgt wieder ein Mai!“ Sprecherin: Nicht für die Menschen hier. Sie wurden zu den Gruben geführt und erschossen oder erstickt und anschließend in 34 Massengräbern verscharrt. Musik (At Vaani – Sasha Argov) Sprecherin: Nach dem Krieg versinken die Verbrechen, die Deutsche hier verübt haben, im Schweigen: Deutsche ehemalige Soldaten sprechen kein Wort über die Gräueltaten, die sie in der Sowjetunion verübt oder beobachtet haben. Manche verstecken die Wahrheit höchstens hinter allzu lauten Erzählungen über ihr - unbestrittenes – eigenes Elend in diesem Krieg. Gekämpft hatten sie gegen ein Volk, das die NS-Propaganda zu „Untermenschen“ gemacht hatte. Von ihnen wurden die Deutschen besiegt. Das haben die Soldaten als Schmach empfunden. Auch dieses Gefühl ist einer der vielen Gründe dafür, dass die Verbrechen in Deutschland verdrängt werden. In der DDR verschließt die erzwungene Freundschaft zur Sowjetunion den ehemaligen Soldaten den Mund. 9 O-Ton 22 Kaddish Sprecherin: Wenigstens das Kaddish, das jüdische Totengebet, ist an dem Grabstein auf der Lichtung in Malyj Trostenez inzwischen gesprochen worden. Kaddish Dabei soll es aber nicht bleiben. Jetzt – endlich - soll hier ein Erinnerungsort entstehen als weißrussisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt. 2015 wurde bereits eine Skulptur unter dem Namen „Die Pforte der Erinnerung“ aufgestellt: Mit Stacheldraht gefesselte magere Gestalten drücken sich an einen Zaun. Der Stil ähnelt noch den überdimensionalen sowjetischen Mahnmalen. Die Wirkung – so scheint es jedenfalls westlichen Betrachtern – zielt eher auf Entsetzen als auf Trauer. Auf Gedenksteinen sind die vielen Lager benannt, wo Kriegsgefangene, einfache Bewohner und die jüdische Bevölkerung ermordet wurden. Präsident Alexander Lukaschenko hatte dafür – begleitet von militärischem Pomp den Grundstein gelegt. Der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, kam zu der Zeremonie eigens nach Minsk: O-Ton 23 Präsident des Jüdischen Weltkongresses Ronald Lauder Before the war…Belarus as well as jews. OV-Sprecher: Vor dem Krieg lebten eine Million Juden in Weißrussland. 800.000 wurden umgebracht, viele von ihnen hier in Trostenez. Jetzt gibt es zum ersten Mal eine Gedenkstätte für sie. Es geht dabei nicht nur um die Toten, sondern auch um die Juden, die heute hier leben. Der Jüdische Weltkongress kümmert sich immer um Juden in der Diaspora, Juden in der Minderheit. Heute leben in Weißrussland 40.000 Juden. Wir sollten alles dafür tun, dass sie hier normal leben können. Das ist wichtig für das Land und für die Juden. Sprecherin: Weißrussland wird von Präsident Lukaschenko autokratisch regiert. Menschenrechte werden missachtet. Die jüdischen Gemeinden aber können offenbar ihr religiöses und soziales Leben frei gestalten. Gedenkstätten erinnern auch an jüdische Opfer, eine Ausnahme in einem ehemals sowjetischen Land. 10 O-Ton 24 Glocken von Chatyn Sprecherin: Die weißrussischen Orte des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg sind im Westen unbekannt. Dabei sind sie – nicht zuletzt - künstlerisch einzigartig. O-Ton 25 Glocken von Chatyn Sprecherin: In Chatyn läuten alle 30 Sekunden Glocken. Tag und Nacht. Seit Jahrzehnten. Der Ort erinnert an ein Dorf, in dem im März 1943 alle Bewohner in einer Scheune zusammengetrieben und verbrannt wurden. Hier ist auch ein „Friedhof der Dörfer“ angelegt mit der Erde von mehr als 600 Orten, die ebenfalls ausgerottet wurden. O-Ton 25 Glocken von Chatyn & Musik (Interlude – John Zorn) Sprecherin: In der Kleinstadt Krasni Berek, (sprich: wie geschrieben mit rollendem r) irgendwo im Südosten Weißrusslands, ist eine Schulklasse aufgebaut. Leere Bänke aus Beton inmitten von Streuobstwiesen. An dieser Stelle war ein KZ für Kinder, die die Deutschen als Blutspender missbrauchten. Ihre Schulbänke blieben so leer. Glocken von Chatyn, Ende Sprecherin: Der weißrussisch-jüdische Architekt Leonid Lewin hat diese Stätten gestaltet. Er hatte auch ein Mahnmal für Malyj Trostenez geplant. O-Ton 26 Leonid Lewin OV-Sprecher: Um das bauen zu können, muss man im Geiste mit den Menschen, die hier gelitten haben, gehen können. Wenn Du nicht mit den Menschen an die Grube gegangen bist, verstehst Du das auch nicht. Man muss versuchen, zu spüren, was die Menschen erlebt haben. Musik (Ba’adinot – John Zorn) 11 Sprecher: Winter, Marie, 63 Jahre aus Wilmersdorf Wohl-Ecker, Hans 32 Jahre Aus Wilmersdorf Wolf, Hellmut, 45 Jahre Aus Kreuzberg Zweig, Dora, 44 Jahre Angestellte aus Niederschöneweide Zweig, Hans, 54 Jahre Angestellter aus Wilmersdorf Sprecherin: In Berlin, Düsseldorf, Köln, Hamburg, Bremen und Wien haben Historiker die Namen der Menschen gesucht, die in Malyj Trostenez ermordet wurden. Außerdem wurde Geld für den geplanten Gedenkort gesammelt. Die Bethe-Stiftung, die auch Reisen nach Auschwitz oder Treblinka in Polen finanziert, hat die Spenden verdoppelt, das Auswärtige Amt hat einen Zuschuss gegeben. Die Initiative arbeitet heute vor dem Hintergrund politischer Spannungen. Als letzte Diktatur Europas, wie Kritiker ihn nennen, ist der Staat von der internationalen Gemeinschaft geächtet. Für die meisten Deutschen und andere Europäer ist Weißrussland - oder Belarus - ein unbekannter Landstrich, den sie allenfalls auf der Wetterkarte östlich von Polen schon mal gesehen haben. O-Ton 27 Henning Scherf Bei uns in Deutschland Belarus – das ist Sibirien... Sprecherin: Der SPD-Politiker Henning Scherf, gehört zu denen, die jenseits politischer Schwierigkeiten und kritikwürdiger Strukturen einen neuen Wandel durch Annäherung schaffen möchten: 12 O-Ton 28 Henning Scherf Die jungen Leute, die man hier sieht, die wachsen in Europa auf – und das sind unsere Nachbarn, unsere direkten angrenzenden Nachbarn an die EU. Da kann man doch nicht sagen, die vergessen wir. Nein. Sprecherin: Menschen die Hand schütteln, sie in den Arm nehmen. Henning Scherf macht das, wo er kann. In dem weitläufigen Gelände der bereits gebauten staatlichen Gedenkstätte geht der Zwei-Meter-Mann auf die Bauarbeiter zu, die unter Birken ihre Mittagspause halten. Spasibo, Danke. Er drückt jedem einzelnen die Hand. Musikkazent (Chazal – John Zorn) Dennoch gibt es zur Zeit in ganz Europa Rückschritte in der Verständigungspolitik. Die Besinnung auf nationale Interessen stärkt rechtspopulistische Bewegungen. Auch in dieses Getriebe will das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk Sand streuen, in kleinen Prisen zunächst. Es hat junge Historiker und Journalisten aus Deutschland, Weißrussland und der Ukraine zu einer Rundreise durch Gedenkstätten in Mitteleuropa eingeladen. Die Enkel und Urenkel der Kriegsgeneration sollen eine gemeinsame Erinnerung entwickeln. Denn stellen sich letztendlich nicht alle dieselbe Frage? O-Ton 29 Iryna Starowojt Historikein, Film Europäische Gedenkkultur OV-Sprecherin: Sind wir Nachfahren der Henker? Sind wir Nachfahren der Opfer? Sind wir Nachfahren sowohl der Henker als auch der Opfer? Musikkazent (Chazal – John Zorn) Sprecherin: So könnte Verständigung aus dem Geist gemeinsamer Trauer geboren werden. Daran will der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf mitwirken. O-Ton 30 Henning Scherf Wir wollen darüber, dass wir die Erinnerungsarbeit ernst nehmen und uns nicht nur Propagandasprüche austauschen, sondern richtig vor den Toten aufrichtig und wahrhaftig sein wollen, dadurch wollen wir auch die Grundlage legen für die Zukunft unserer Kinder und unserer Enkelkinder. 13 Sprecherin: Nach diesen Worten legt er die Hand auf die Schulter von Sima Margolina. Der Bremer Ex-Bürgermeister, dessen Nachbarn deportiert wurden, die Frau aus Minsk, deren Mutter in Malyj Trostenez ermordet wurde und der Schweizer Gabriel Heim, dessen Berliner Großmutter am selben Ort sterben musste - Gemeinsam trauern sie als Nachfahren im Wäldchen von Blagowschtschina, am Rande der zugeschütteten Massengräber. O-Ton 31 Gabriel Heim An dem Ort zu stehen, wo dieses Leben meiner Großmutter zum Ende gebracht worden ist, bedeutet einen Akt der inneren Ruhe. So wie man auch auf Friedhöfen Menschen beerdigt, so denke ich, ist es auch wichtig, dass man die Orte besuchen kann, wo Vorfahren gewaltsam zu Tode gebracht worden sind. Sprecherin: Deshalb plädiert der Publizist auch dafür, dass Malyj Trostenez zu einer Gedenkstätte wird und ein Punkt auf der Landkarte europäischen Gedenkens: Und Sima Margolina fügt hinzu: O-Ton 34 Sima Margolina OV-Sprecherin: Die Menschen, die in der weißrussischen Erde begraben sind, machen uns alle zu Verwandten. Musik / Yesoma (Cello) Titelsprecherin Europäische Gedenkkultur Eine Gedenkstätte für das Vernichtungslager Malyj Trostenez Sie hörten eine Sendung von Irene Dänzer-Vanotti Es sprachen: Regina Lemnitz, Markus Hoffmann und Ulrike Bieritz Ton: Bodo Pasternak Redaktion: Anne Winter Regie: Roman Neumann Das Manuskript der Sendung können Sie telefonisch bei unserer Service-Redaktion bestellen, aus Berlin oder Potsdam unter 97993-2171. Oder per email: [email protected]. 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