Wohnungspolitik: „Wir wollen mitentscheiden“ Aktivisten aus Stadtinitiativen diskutieren einen radikalen Wandel in Berlin ▶ Seite 21–23 AUSGABE BERLIN | NR. 11241 | 5. WOCHE | 39. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ DONNERSTAG, 2. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Es war rechter Terror DÜSSELDORF Vor 17 Jahren wurden durch einen Bombe zehn Menschen teils schwer verletzt, die meisten von ihnen jüdische Sprachenschüler. Jetzt ist sich die Polizei sicher: Täter war ein Rechtsextremist ▶ SEITE 2 EUROPA Der linke EU-Parlamentarier Fabio De Masi kritisiert Kommissionspräsident und EZB-Chef ▶ SEITE 9 UGANDA Ein Kom- mandeur steht in Den Haag vor Gericht. 6.000 Kilometer entfernt sehen Opfer und Täter gemeinsam zu ▶ SEITE 5 NETZ Die Rechtslage zu Links gefährdet das Internet ▶ SEITE 13 Fotos: Christian Mang, Oliver Hansen VERBOTEN Davon habt Ihr geträumt, Flowerpowerhippies! Die US-Armee bemüht sich um biologisch abbaubare Übungsmunition. „Die derzeitigen Patronen brauchen mehr als hundert Jahre, um sich abzubauen“, heißt es in einem Briefing für das Verteidigungsministerium. Jedes Jahr würden auf US-Militäranlagen Millionen von Kugeln abgefeuert, die die Umwelt stark belasten. Die neuen Projektile sollten Samen enthalten, aus denen Pflanzen hervorgehen. ArmeeWissenschaftler haben bereits erfolgreich Samen in biologisch abbaubares Material implementiert, aus dem Monate später eine Blume wuchs. Kein Witz. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.660 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 40605 4 190254 801600 27. Juli 2000: Rettungskräfte auf dem Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn 40 Minuten nach dem Anschlag Foto: Christian Ohlig/dpa Merkel zu klaren Worten aufgefordert Nichtregierungsorganisationen und die SPD drängen die Kanzlerin, bei ihrem Staatsbesuch in Ankara deutlich die Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren TÜRKEI-REISE BERLIN epd/dpa/taz | Vor der Türkei-Reise von Angela Merkel (CDU) haben Vertreter des Koalitionspartners SPD, der Opposition und von Nichtregierungsorganisationen zu deutlicher Kritik an der Verletzung von Menschenrechten und Pressefreiheit aufgerufen. Es müsse „klar und deutlich gemacht werden, welche Menschenrechts- verletzungen stattfinden“, sagte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD). Merkel will in Ankara den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie Ministerpräsident Binali Yıldırım treffen. Es ist ihr erster Besuch seit dem im Juli gescheiterten Putschversuch. Amnesty International forderte, Merkel „sollte die Folter von Inhaftierten im Nachgang des Putschversuchs ebenso deutlich kritisieren wie die Verfolgung friedlicher Regierungskritiker“. Reporter ohne Grenzen forderte sie auf, die Situation kritischer Journalisten zu thematisieren. ▶ Schwerpunkt SEITE 3 KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH ÜBER MERKELS TREFFEN MIT ERDOĞAN H Verrat an türkischen Demokraten eute kommt Angela Merkel zum neunten Mal während ihrer Kanzlerschaft in die Türkei. Was immer sie mit diesem Besuch offiziell bezweckt, im Land selbst vermittelt er vor allem eine Botschaft: Recep Tayyip Erdo ğan, der Mann, der sich gerade anschickt, die Türkei in eine finstere Autokratie zu verwandeln, ist für die wichtigste Regierungschefin der Europäischen Union ein honoriger Gesprächspartner. Der Grundsatz, man könne sich in der Außenpolitik seine Gesprächspartner nun mal nicht aussuchen, ist in diesem Fall abwegig. Denn es ist Merkel, die in Ankara das Gespräch sucht. Es ist Merkel, die Erdoğan ihre Aufwartung macht – und das zu einem Zeitpunkt, in dem dieser Aufmerksamkeit aus Europa gut brauchen kann. Schließlich steht Erdoğan kurz davor, das wichtigste Ziel seiner gesamten politischen Laufbahn zu erreichen und sich durch eine neue Präsidialverfassung die Alleinherrschaft in der Türkei zu sichern. Auch wenn die WählerInnen nach wie vor noch alle fünf Jahren einmal ihre Stimme abgeben dürfen, Sinn und Substanz der Demokratie werden mit der neuen Verfassung ausgehebelt. Mit ihrem Besuch legitimiert Bundeskanzlerin Merkel dieses Vorhaben und lässt ein weiteres Mal erkennen, dass ihr die Demokraten in der Türkei völlig egal sind. Wie schon im Herbst 2015, vor der entscheidenden Wahl am 1. November, als Merkel mit einem Besuch kurz vor der Wahl Erdoğan entscheidende Reputationspunkte verschaffte, signalisiert sie mit ihrem heutigen Besuch erneut, dass ihr das Regime Erdoğans lieber ist als eine demokratische Alternative. Denn Merkel interessiert nur eins: Dass Erdoğan nicht im Wahljahr 2017 erneut Merkel interessiert nur eins: dass keine Flüchtlinge nach Europa kommen Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa ziehen lässt. Dafür verrät sie die Demokratie in der Türkei. Sie glaubt, wie auch die türkischen Er doğan-Fans, dass nur das autoritäre Regime des Mannes mit seinen Wurzeln im politischen Islam die Stabilität der Türkei garantieren kann – angeblich die Voraussetzung dafür, dass der Nahe Osten nicht völlig kollabiert. Doch das Gegenteil ist der Fall. Erdoğan ist mit seinem Totalitarismus im Innern und seiner aggressiven Außenpolitik längst selbst zum Sicherheitsrisiko geworden. Vielleicht nicht mehr Merkel als Kanzlerin, aber Deutschland und Europa insgesamt wird das noch schmerzlich erfahren. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt DON N ERSTAG, 2. FEBRUAR 2017 Aufklärung PORTRAIT Nun scheint es klar zu sein: Den Bombenanschlag in Düsseldorf im Juli 2000 verübte ein Rechtsextremer Belastendes Gesamtbild TERROR Vor fast 17 Jahren explodierte eine Bombe auf dem S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf, zehn Osteuropäer Oooooohhh, was für ein süßer Fritz wurden teils schwer verletzt. Der Täter blieb verschwunden. Nun nahm die Polizei einen 50-jährigen Mann fest Foto: dpa Fritz, the Eisbärbaby V orweg: Es geht im Folgenden tatsächlich um einen Eisbären. Kein Witz. Und der Eisbär heißt Fritz. Auch kein Witz. Sondern sogar die Nachricht. Warum das von Bedeutung ist, erschließt sich sofort, wenn man das Alter des Eisbären erfährt: Morgen wird er drei Monate alt, geboren wurde er im Berliner Tierpark, dem Ostpendant zum Zoo. Und natürlich ist er genauso süß wie – richtig: Knut. Jenes Eisbärbaby, das vor elf Jahren dem Zoo Besucherrekorde bescherte – und vier Jahre später weltweite Kondolenzschreiben, als es vor den Augen vieler Besucher wohl nach einem Hirnschlag ertrank. Es könnte also gut sein, dass ein neuer Star geboren wurde, der seit Mittwoch, 0 Uhr, sogar einen Namen hat. Mehrere tausend Berliner hatten Vorschläge einreicht, die taz favorisierte „Klaus“ – nach einem relativ bekannten früheren Berliner Regierungschef. Doch eine Jury aus Tierparkchef und -mitarbeitern sowie einigen Medien entschieden sich für Fritz. Auch diese Entscheidung ließe sich mit den Namen früherer Regierungschefs begründen: Schließlich gab es in Preußen einen Alten Fritz und ein paar neue; leider verbindet man mit ihnen weniger den großen Kuschelwunsch als stramme preußische vermeintliche Tugenden. Trotzdem waren die Reaktionen, etwa auf Twitter, eher positiv. Was zum einen sicher daran lag, dass Fritz nun nicht Bolle heißen muss – was auch vorgeschlagen worden war. Und zum anderen, dass als Namenspaten auch Fritz the Cat, die Fritzchenwitze, ein Brausehersteller oder ein hiesiger Radiosender für junge Menschen gelten könnten. Tierparkdirektor Andreas Knieriem, selbst in der Taufkommission, sagte über den Namen: „Er ist kurz und knackig, sodass auch Besucher aus dem Ausland ihn sich gut merken können.“ Was bei Fritz – im Englischen und Russischen seit dem Zweiten Weltkrieg auch eine negative Bezeichnung für Deutsche – garantiert ist. Mit den Namen sind nun eigentlich alle bereit für den FritzHype. Bleibt die Frage, ob der Eisbär die Erwartungen an ihn erfüllen kann. Im März wird man mehr wissen: Dann soll er sich erstmals den Tierpark-Besuchern zeigen dürfen, der Fritz. BERT SCHULZ TRUMPLAND Die ersten 100 Tage. Dorothea Hahn, taz-Korrespondentin in den USA, über den Alltag unter Trump blogs.taz.de VON KONRAD LITSCHKO BERLIN taz | Es war ein wohl eher tristes Leben, das Ralf S. zuletzt führte. Einsame Spaziergänge mit seinen Hunden, ein Sorgerechtsstreit mit seiner Exfrau, eine schlecht laufende Sicherheitsfirma. Am Dienstagabend wurde es noch trister. Da stand die Polizei vor der Tür der Wohnung des 50-Jährigen in Ratingen bei Düsseldorf und verhaftete ihn. Der Vorwurf: Ralf S. soll der Täter des Anschlags auf den SBahnhof Düsseldorf-Wehrhahn vom 27. Juli 2000 sein. Fast 17 Jahre lang hatte die Polizei erfolglos nach dem Täter gesucht. Nun erfolgte die Festnahme. „Das Gesamtbild belastet den Verdächtigen schwer“, sagt am Nachmittag Kriminaldirektor Markus Röhrl. Bei dem Anschlag war eine Handgranate explodiert, die in einer Tüte an einem Geländer des S-Bahnhofs hing. Sieben Frauen und drei Männer wurden teils schwer verletzt. Sechs von ihnen waren Mitglieder lokaler jüdischer Gemeinden. Der Anschlag hatte für bundesweites Aufsehen gesorgt. Die Polizei aber tappte lange im Dunklen. 1.400 Zeugen befragte sie, mehr als 300 Spuren wurden verfolgt, 69.000 Aktenseiten angehäuft. Eine „heiße Spur“ aber fehlte – bis zum Juli 2014. Da meldete sich laut Ermittler Udo Moll ein Mann aus der JVA Castrop-Rauxel. Ein Mitinhaftierter, Ralf S., habe ihm gestanden, den WehrhahnAnschlag mit einer ferngezündeten Bombe verübt zu haben. S. saß damals in Haft, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlt hatte. „Jede Akte, jede Spur wurde darauf neu durchleuchte“, sagte Kriminaldirektor Markus Röhrl. Für die Ermittler war Ralf S. kein Unbekannter. Schon wenige Tage nach dem Anschlag befragten sie ihn als Verdächtigen. S. aber behauptete, er sei zur Tatzeit zu Hause gewesen. Die Ermittler konnten es nicht entkräften. Nun aber stießen sie auf zwei weitere Zeugen, die aussagten, S. habe bereits im Vorfeld den Anschlag angekündigt gehabt. Auch zog die damalige AlibiZeugin ihre Aussage zurück. Zudem, so Moll, wurde ein Vorfall bekannt: Vor der Tat hätten zwei Neonazis Schüler der Sprachschule bedroht. Sie wur- „Der Tat lag eine fremdenfeindliche Absicht zugrunde“ STAATSANWALT RALF HERRENBRÜCK den vertrieben und flüchteten damals in den Laden von Ralf S. Dieser Vorfall, so Moll, könnte die Tat ausgelöst haben. Für Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück ist klar: „Der Tat lag eine fremdenfeindliche Absicht zugrunde.“ S. habe alle seine Probleme Ausländern zugeschrieben. Der Vorwurf laute auf versuchten Mord. Nur durch Zufall sei es zu keinen Todesopfern gekommen. NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) sagte, „es ist wichtig, dass die Opfer endlich erfahren, wer dieses feige und hinterhältige Verbrechen verübt hat“. Michael Szentei-Heise von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf sprach von „vorsichtigem Optimismus“. „Das Verbrechen bekommt die Chance, gesühnt zu werden.“ Am Dienstag wird sich auch der NSU-Untersuchungsaus- schuss in NRW in einer Sondersitzung mit dem Anschlag Wehrhahn beschäftigen. Ausschusschef Sven Wolf (CDU) freute sich nun über die Festnahme. Die langen Spekulationen über eine rechtsextremes Motiv seien nun beendet. Gegen Ralf S. erließ ein Richter inzwischen Haftbefehl. S. bestreitet die Vorwürfe und schweigt. Bis zuletzt bot der ehemalige Bundeswehrangehörige seine Dienste als „Sicherheitsberater“ an, bewarb „Survival Outdoor Trainings“. Seine Gesinnung hatte sich der 50-Jährige wohl bewahrt. Im Internet zeigte er sich in Tarnkleidung oder bei einem Schießtraining. Zum Weihnachtsfest versandte er Grüße auch an „Kameraden“. Später fragte er: „Was aber wollen wir? Ruhe, Friede oder Multikulturelle?“ Hier, am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn, explodierte am 27. Juli 2000 die Splitterbombe. Sie hing an der Fußgängerbrücke Foto: Henning Kaiser/ddp Sein Militaria-Geschäft war ganz in der Nähe BLICK ZURÜCK Schon kurz nach der Tat sprachen Antifa-Gruppen von einer möglichen Beteiligung des vorbestraften Neonazis BERLIN taz | Es war ein Anschlag, der die Republik erschütterte: Am 27. Juli kurz nach 15 Uhr detonierte am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn ein selbst gefertigter und in einer Plastiktüte deponierter Sprengsatz. Er traf zehn Schüler einer nahe gelegenen Sprachschule im Stadtteil Flingern. Eine junge Frau verlor ihr ungeborenes Baby durch einen Bombensplitter im Mutterleib. Das Attentat löste eine bundesweite Debatte über die Gefahr von rechts aus. Alle Opfer – sieben Frauen und drei Männer zwischen 24 und 50 Jahren – stammten aus der ehemaligen Sowjetunion. Sechs der aus der Ukraine, Russland und Aserbaidschan Zugewanderten waren jüdische Kontingentflüchtlinge. Seine Behörde ermittle daher „gezielt und vorrangig in Richtung ausländerfeindlich beziehungsweise antisemitisch motivierte Tat“, verkündete der damalige Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, Johannes Mocken. Doch der oder die Täter konnten nicht ermittelt werden. Sechzehneinhalb Jahre lang. Allerdings hatte – nur einen Tag nach dem Anschlag – der Koordinierungskreis antifaschistischer Gruppen in Düsseldorf und Umland auf eine mögliche Tatbeteiligung des vorbestraf- ten Neonazis Ralf S. hingewiesen. Dessen „Survival Security & Outdoor“-Laden, ein Anlaufpunkt der militanten rechtsextremen „Kameradschaft Düsseldorf“, befand sich auf der Gerresheimer Straße in direkter Nähe zum Anschlagsort. Aber als die Polizei sechs Tage nach der Tat sein Militaria-Geschäft, zwei Wohnungen und eine Gartenlaube durchsuchte, fanden die Beamten der eingesetzten Sonderkommission keine Beweise gegen Ralph S. Nach einem Tag in Gewahrsam wurde der damals 34-Jährige wieder freigelassen: Gegen ihn bestünde kein dringender Tatverdacht – und er sei nicht als Rechtsextremist aufgefallen, behauptete die Staatsanwaltschaft. Das lag wohl daran, dass seine Gewalttaten gegenüber Nichtdeutschen nicht als rassistische Delikte aktenkundig waren. Nach einem Jahr erfolgloser Spurensuche arbeiteten in der „Ermittlungskommission Ackerstraße“ nur noch eine handvoll Beamte. Anfänglich waren es über hundert Spezia listen gewesen. Die Staatsanwaltschaft glaubte nicht mehr an einen rechtsextremistischen Hintergrund. Niemand hatte sich zu der Tat bekannt – und das stehe im Widerspruch zum Bekenntniseifer der Rechten, hieß es. Nun spekulierten die Ermittler, die Russenmafia könnte dahinter stecken. Das sei „eine Theorie, die man nicht einfach von der Hand weisen kann“, so Johannes Mocken im Juli 2001. Auch dem damaligen Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) lag die Mafiatheorie „gefühlsmäßig am nächsten“. Später war noch davon die Rede, dass Dschihadisten aus dem Umfeld der al-Qaida-nahen Gruppe al-Tawhid hinter dem Anschlag stecken könnten. Aber alle Spuren verliefen im Sand. Bis sich jetzt herausgestellt hat, dass der nächstliegendste Hinweis doch der richtige war. PASCAL BEUCKER Schwerpunkt Merkels Türkei-Besuch DON N ERSTAG, 2. FEBRUAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Erdoğan will mit der Einführung eines Präsidialsystems seine Macht noch auszubauen. Am Donnerstag empfängt er die Kanzlerin Ein letztes Mal in der alten Türkei KAMPAGNE Für einen Erfolg beim Verfassungs- referendum lässt Erdoğan seine Kritiker verfolgen. Dass Merkel gerade jetzt zu Besuch kommt, kritisieren viele als Wahlkampfhilfe Eine Beziehung mit Tradition: Erdoğan weist Merkel bei einer Pressekonferenz im März 2010 in Ankara den Weg Foto: Umit Bektas/reuters AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH Auf dem Video ist eine junge Frau zu sehen, die in einem lockeren Tonfall in eine Kamera spricht. Sie sagt: „Ich sage Nein zu dem Regimewechsel.“ Eher im Plauderton fährt sie fort: „Ich weiß, dass viele Menschen die Nein sagen wollen, sich bedroht fühlen, gerade deshalb sage ich Nein. Denn ich will, dass die Menschen in diesem Land ihre Gedanken und ihre Meinung frei vertreten können, ohne bedroht zu werden.“ Zum Schluss bekräftigt sie ihr kurzes Statement: „Ich habe keine Angst. Habt ihr auch keine Angst. Wir werden gewinnen.“ Die Frau heißt Sera Kadıgil. Sie ist Anwältin und aktives Mitglied der sozialdemokratischkemalistischen Oppositionspartei CHP. Einen Tag nachdem sie das Video auf YouTube hochgeladen hatte, wurde sie festgenommen. Die Polizei beschuldigt sie der Volksverhetzung. Offiziell wurde ihre Festnahme allerdings mit einem bereits gegen sie laufenden Verfahren begründet, in dem ihr vorgeworfen wird, sie hätte den Präsidentensohn Bilal Erdoğan beleidigt. Kadıgil ist ein gutes Beispiel dafür, wie es Kritikern der Präsidialverfassung, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einer Volksabstimmung durchsetzen will, derzeit geht. In diesen Tagen wird Erdoğan das im Parlament am 21. Januar verabschiedete Paket zur Verfassungsänderung unterschreiben. Im April soll die Volksabstimmung folgen. Genau zu diesem Zeitpunkt kommt Angela Merkel am Donnerstag zu einem Besuch nach Ankara. Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der CHP und Oppositionsführer im Parlament, fragt in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „Warum besucht die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Präsident Erdogan in dieser Situation in der Türkei?“ Das ist eine klare Wahlkampfunterstützung für den Präsidenten, empört sich Kilicdaroglu. Der Wahlkampf hat längst begonnen. Die Präsidialverfassung soll die Krönung der Laufbahn von Erdoğan werden, der seit 13 Jahren regiert. Bekommt er für die neue Verfassung eine Mehrheit, wird er offiziell zum Alleinherrscher und hätte die Möglichkeit, bis 2029 Präsident zu bleiben. Nicht nur für Sera Kadıgil käme das einem Regimewechsel gleich. Alle Kritiker Erdoğans beklagen, dass mit Ein Nachbarschaftsbesuch BERLIN taz | Ob sich die Bundes- kanzlerin bei ihrem Besuch in der Türkei auch mit Oppositionellen treffen wird? Regierungssprecher Steffen Seibert ließ am Mittwoch in der Bundespressekonferenz die Antwort offen. Das endgültige Programm von Angela Merkels umstrittenen „Arbeitsbesuch“ stünde noch nicht fest. Mitteilen könne er nur ihr geplantes Zusammentreffen mit dem Staatspräsidenten Erdoğan sowie dessen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım. Außerdem werde sie das Parlamentsgebäude besichtigen. Seibert wollte nichts davon wissen, dass Merkels Besuch als Wahlkampfhilfe für den Autokraten verstanden werden könnte. „Das Verfassungsreferendum ist eine Frage, die den türkischen Wählern vorliegt“, sagte Seibert. Die Brisanz der Reise versuchte er herunterzuspielen. Der Besuch finde statt, weil die Türkei ein „überaus wichtiger“ Nachbarstaat der Europäischen Union und NatoPartner sei, sagte er. Da sei es Die Bundesregierung versucht die Bedeutung des Besuchs herunterzuspielen. Opposition und NGOs fordern von Merkel konkrete Solidaritätsgesten für die Verfolgten KRITIK wichtig, in kontinuierlichem Kontakt zu bleiben. Schließlich sei es „keine vernünftige Lösung“, den Gesprächsfaden abreißen zu lassen. Als Gesprächsthemen gab er die weitere Umsetzung des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei, die Zypernfrage und die Lage in Syrien an. Ob da noch Zeit bleibt für die desolate Menschenrechtslage, verriet er nicht. Menschenrechtsorganisationen und die Opposition üben harsche Kritik. „Ihr Besuch wird von Präsident Erdoğan als Un- terstützung seiner Politik gewertet, die von einem Krieg gegen die eigene Bevölkerung bis zu staatlichen Säuberungen reicht“, kritisierte Linksparteichef Bernd Riexinger. „Das Mindeste wäre, dass sich die Kanzlerin für die Freilassung der beiden Vorsitzenden der Oppositionspartei HDP sowie der zahllosen Oppositionellen, Anwälte, Wissenschaftler und Journalisten starkmacht.“ „Die Bundeskanzlerin muss mit Worten und Taten verhindern, dass ihr Besuch als Unterstützung für das bevorstehende Verfassungsreferendum zur Einführung des Präsidialsystems verstanden wird“, sagte der grüne Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu. Amnesty International forderte Merkel auf, sich mit Menschenrechtlern, verfolgten Journalisten und Oppositionellen zu treffen. „Es ist wichtig, dass die Bundeskanzlerin es nicht nur bei Worten belässt, sondern auch direkte Solidarität zeigt“, sagte die Türkei-Expertin Marie Lucas. PASCAL BEUCKER der neuen Verfassung das Parlament entmachtet und die Gewaltenteilung ausgehebelt wird. Ein Systemwechsel Nach der Gründung der türkischen Republik 1923, also der Abschaffung der Monarchie, und der Einführung des Mehrparteiensystems 1949 wäre die Präsidialverfassung der dritte Systemwechsel in hundert Jahren. Dabei erinnert das Präsidialsystem mehr an die Monarchie vergangener Jahrhunderte als an eine demokratische Verfassung. Mit aller Macht will Erdoğan seine neue Verfassung durchsetzen. Auf 40 Großveranstaltungen wird er persönlich dafür werben, alle staatlichen Ressourcen werden dafür eingesetzt. Laut der Tageszeitung Milliyet sind bereits alle Pro- vinzgouverneure und die Rektoren aller Universitäten angewiesen, die Kampagne für eine neue Verfassung zu unterstützen. Die gelenkten Massenmedien trommeln nicht nur für Erdoğans Verfassung, sondern sie sind längst dabei, alle Kritiker als Vaterlandsverräter zu denunzieren. Gegen diese geballte Macht versuchen nun Leute wie Kadıgil anzukommen. Sie ist nicht die Einzige, die für eine harmlose Nein-Werbung verfolgt wird. Vor wenigen Tagen kam es auf einer der Istanbuler Stadtfähren zu einem Eklat. Jugendliche hatten an Bord ein Ständchen dargebracht, bei dem sie den Text eines bekannten Liedes in einen „Sag Nein“-Refrain umgedichtet hatten. Als die Fähre von Asien kommend am europäischen Ufer anlegte, wartete bereits die Polizei, um die Jugendlichen festzunehmen. Nur weil die Masse der Passagiere die Jugendlichen vor der Polizei abschirmte, konnten diese entkommen. In der Provinzstadt Aydın wurden Jugendliche der CHP-Jugendorganisation vorübergehend festgenommen, weil sie ein Plakat mit einem „SagNein“-Text aufgehängt hatten. Viele sehen Merkels Besuch so kritisch wie der Abgeordnete Kılıçdaroğlu. Doch von den meisten anderen hört man in der Öffentlichkeit nichts mehr. Sie sitzen längst im Gefängnis oder sind mundtot gemacht. Nur im persönlichen Gespräch erfährt man noch, was die Menschen, die Erdoğans Präsidialverfassung ablehnen, von Merkels Besuch denken. „Sie soll sich schämen“ ist die häufigste Antwort. Abkehr vom Westen ISTANBUL taz | Anfang April wird in der Türkei abgestimmt. Das steht so gut wie fest. Wozu die Türken beim Referendum ja oder nein sagen sollen, ist dagegen nicht ganz so klar. Einige sind der Meinung, dass über Erdoğans Präsidentschaft abgestimmt wird, und im Prinzip ist das nicht falsch. Denn einerseits ermöglicht die angestrebte Verfassungsänderung ein Präsidialsystem, in dem es nur eine Person geben soll, die zum Ministerpräsidenten gewählt werden kann: Recep Tayyip Erdoğan. Andererseits ist es zu einfach, das Referendum auf eine Person zu reduzieren. Erdoğan ist schon jetzt kein machtloser Präsident im Sinne des Bundespräsidenten. Er wird auch nicht wie der amerikanische Präsident vom Justizapparat oder dem Parlament kontrolliert. Er verhält sich eher wie der russische Präsident Putin. Wenn das Referendum eine Abstimmung wäre, um Erdoğan zum Ministerpräsidenten zu wählen, hätte er nicht Es geht um mehr als das Präsidialsystem: Erdoğan plant einen radikalen Kurswechsel REFERENDUM so viel Krach und Diskussionen in Kauf nehmen müssen. Die Mehrheit der AKP-Abgeordneten stimmt Erdoğans Worten und Wünschen zu, ohne auch nur die Notwendigkeit zu verspüren, deren Inhalt zu verstehen oder darüber zu diskutieren. Durch das Referendum wird der Status quo allenfalls verfassungsrechtlich legitimiert. Sollte der Verfassungsänderung zugestimmt werden, geht es in der Türkei jenseits des Präsidialsystems um eine tiefgreifendere Veränderung – die radikalste Wende seit Gründung der türkischen Republik. Die AKP strebt ein oligarchisches System an. Darin ist der Staat eine über den Menschen stehende, gnadenlose und beschützende Macht. Diese Staatsidee ist in der Tradition des Nahen Ostens tief verwurzelt und mit der islamischen Weltanschauung durchaus vereinbar. Doch warum so eine Wende? Die Antwort auf diese Frage findet sich in der Demokratie – genauer gesagt: in den westeuropäischen demokratischen Standards. Die Türkei hat vom letzten Jahrhundert des Osmanischen Reichs bis heute ihre politische Ausrichtung kaum verändert: Es ging immer gen Westen. Die Struktur des Staats, das Rechtssystem, das Bildungssystem und die Lebensweise hat sich 190 Jahre lang am „westlichen Modell“ orientiert. Für Erdoğan war die Demokratie jedoch schon immer ein Albtraum. Das Referendum im April ist für ihn ein Weg, sich dieses Problems zu AYDIN ENGIN entledigen.
© Copyright 2025 ExpyDoc