SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Zuflucht auf der Alb Die Mendelssohns im Nationalsozialismus Von Eckhard Rahlenbeck Sendung: Freitag, 27. Januar 2017, 8.30 Uhr Redaktion: Udo Zindel Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. 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Sein Enkel Felix baut eine chemische Fabrik auf, aus der später der Fotokonzern AGFA hervorgeht. Nathan Mendelssohn macht sich als Konstrukteur wissenschaftlicher Geräte einen Namen und gründet die Polytechnische Gesellschaft in Berlin. Seine Schwester Dorothea wird als Schriftstellerin und Lebensgefährtin des Romantikers Friedrich Schlegel berühmt. Arnold Mendelssohn ist der bekannteste evangelische Kirchenkomponist des frühen 20. Jahrhunderts. Zur Familie gehören Maler und Exzentriker, Musiker und Schauspieler, nicht zuletzt aber Bankiers, die die Mendelssohn Bank zur führenden Privatbank machten. Im Zweiten Weltkrieg verschlägt es die Mendelssohns aus der Reichshauptstadt Berlin in einen der einsamsten Landstriche Deutschlands. Ansage: Zuflucht auf der Alb – Die Mendelssohns im Nationalsozialismus. Eine Sendung von Eckhard Rahlenbeck. Sprecher: Einige Kilometer nördlich von Zwiefalten liegt, geschützt in einer Senke, der Georgenhof. Wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, zwischen Wäldern, Äckern und kargen Wacholderheiden. Eine landwirtschaftliche Domäne mit einem herrschaftlichen, breit ausladendem Haupthaus, umgeben von Stallungen, Scheunen, einem Verwalterbau und Unterkünften für die Beschäftigten. Seit Dezember 1941 bietet dieses einsame Gut den Mendelssohns Zuflucht vor den Wirren des Zweiten Weltkriegs und den Schikanen der Nazi-Diktatur. Ihren aus Berlin gewohnten Lebensstil, die tägliche Hausmusik zum Beispiel, versuchen sie auf dem Georgenhof beizubehalten. Angelika von Mendelssohn erinnert sich: Cut 2 Angelika von Mendelssohn: Es gab mehrere Stradivaris. Und auch Armati in der Familie gab´s. Und dann wurde auch eine, glaube ich auch noch, ich bin jetzt nicht sicher, dem Menuhin geschenkt. Und ich weiß, es existierte noch im Georgenhof eine Stradivari-Geige vielleicht von dem Großvater Franz. Sprecher: Franz von Mendelssohn ist Inhaber und Vorstand der Mendelssohn Bank in Berlin, der größten Privatbank im Deutschen Reich, gegründet von seinen Vorfahren 1795. Wie auffallend viele in dieser Familie ist auch er eine besonders begabte, beeindruckende Persönlichkeit: Patriot, Protestant, der loyal zur Weimarer Republik steht, angesehener Repräsentant der deutschen Wirtschaft. 1931 leitet er die Konferenz der Internationalen Handelskammer in Washington D.C. Obendrein besitzt 2 Franz von Mendelssohn ausgeprägten Kunstsinn. In der schlossartigen Villa der Familie in Grunewald wird Musik und Malerei auf höchstem Niveau gepflegt. Großvater Franz lädt als begabter Violinist regelmäßig prominente Mitspieler ein, darunter den Star unter den Geigern seiner Zeit, Joseph Joachim – hier in einer historischen Aufnahme. Cut 3: Joseph Joachim, historische Aufnahme, kurz einblenden und stehen lassen Cut 4 Angelika von Mendelssohn: Da hat auch der Menuhin als Wunderkind gespielt. Und dann gibt´s auch ein nettes Foto, wo mein Großvater mit Einstein zusammen spielt. Und immer, wenn Einstein kam, der spielte also auch Geige und zwar wohl sehr schlecht, immer wenn der kam, dann lachten die Kinder schon über sein Geigenspiel, also das war nicht seine Stärke. Sprecher: Franz von Mendelssohn und sein Bruder Robert waren die ersten, die als Kunstsammler und Mäzene van Gogh und französische Impressionisten wie Manet und Renoir förderten. Edouard Manets Gemälde "Im Wintergarten", heute Glanzstück der Berliner Nationalgalerie, wurde 1896 mit Unterstützung Roberts dem Museum gestiftet. Was zu einem Skandal ausartete, weil Kaiser Wilhelm II. die Werke als "Rinnstein-Kunst" abkanzelte und lieber historisierende Helden- und Schlachtengemälde sehen wollte. Cut 5 Angelika von Mendelssohn: Naja, der Kaiser, der war ja nun auch wirklich, man kann ja, das war ja bestimmt kein kultivierter Mann, der Kaiser also. Die haben ja erst mal von den Mendelssohns gelernt, was ´ne Badewanne ist, wurde immer behauptet. Die haben ihnen die Badewanne immer ausgeliehen. [lacht] Sprecher: Den Aufstieg der Familie begründet Stammvater Moses Mendelssohn, der 1743, fast noch als Kind aus Dessau kommend, mittellos in Berlin eintrifft. Er wird erfolgreicher Textilkaufmann und geht als Autor und Philosoph in die deutsche Geistesgeschichte ein. Obwohl im jüdischen Glauben verwurzelt, wirbt er in seinen Schriften für wertschätzende Toleranz unter den Religionen, für Menschenwürde und bürgerschaftliches Engagement. Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing setzt dem Aufklärer mit dem Drama "Nathan der Weise" ein Denkmal. Cut 6 Thomas Lackmann: Diese unglaubliche Karriere von Moses Mendelssohn, der da als verwachsener vierzehnjähriger Lernbegeisterter nach Berlin kommt, als Autodidakt hier zum Bestsellerautor und zum Intellektuellen wird und nebenbei ein sehr erfolgreicher Kaufmann, der Grund, warum er überhaupt in Berlin bleiben darf, dass der König ihm das erlaubt. Das ist schon eine eigentlich unglaubliche Karriere, die sich dann fortsetzt. Und da finden Sie in jeder Generation – und deswegen gibt es eine Menge Leute, die sich für diese Familie begeistern – in jeder Generation großartige, interessante, spannende, dramatische und auch zerrissene Leute. 3 Sprecher: Thomas Lackmann schrieb mit seinem Buch "Das Glück der Mendelssohns" ein Standardwerk zur Geschichte dieser Familie, die über fünf Generationen zu den reichsten und einflussreichsten in Deutschland zählte. Cut 7 Thomas Lackmann: Und zwar in so vielen Bereichen der Gesellschaft und über eine so lange Zeit, dass man sagen kann: Es gibt eine vergleichbare Familie mit dieser Tiefen- und Breitenwirkung, bürgerliche Familie, in Deutschland nicht. Die Wagners, die haben die Musik und den Bereich. Die Manns oder die Krupps, das sind immer mehr Sparten. Und bei den Mendelssohns ist es dieses große Spektrum. So kann man in jeder Generation wirklich Leute finden, die herausragend waren. Sprecher: Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy mit seiner weit unterschätzten Schwester Fanny gehören dazu. Ihr Cousin Arnold, ein hochbegabter Mediziner, wird Armenarzt, beteiligt sich an der Revolution 1848, kommt in Haft und nur durch Fürsprache, unter anderem von Alexander von Humboldt, wieder frei. Er geht ins Exil, gründet das erste Krankenhaus in Jerusalem, erlebt als türkischer Militärarzt den Krimkrieg und stirbt völlig vereinsamt 1854 an Typhus im Kaukasus. Cut 8 Thomas Lackmann: Eine verrückte Geschichte. Nicht alle sind so verrückt. Aber dieses ganze Spektrum, bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, bis zu dem Friedensforscher Albrecht Mendelssohn Bartholdy, dem Pionier der deutschen Friedensforschung, in der fünften Generation. Der stirbt dann im Exil in Oxford 1936. Sprecher: In der nationalsozialistischen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg suchen die Mendelssohns aus Berlin auf dem abgelegenen Georgenhof Zuflucht. Obwohl die politischen Verhältnisse, als sie das Gut 1931 erwarben, noch keine Rolle spielten. Vielmehr wollte die Familie eine eigene Landwirtschaft besitzen, um nicht mehr wieder einer verheerenden Versorgungslage wie während des Ersten Weltkriegs ausgesetzt zu sein. Cut 9 Angelika von Mendelssohn: Der Erste Weltkrieg war ja schlimm genug, also der saß denen ja noch in den Knochen. Die Landwirtschaft sollte unbedingt dabei sein, denn man wusste, nur die Landwirtschaft kann die Leute ernähren. Aber nicht dass irgendjemand eine Ahnung von Landwirtschaft hatte. Aber da gab´s dann einen Verwalter, nicht, der machte das. Sprecher: Ende der dreißiger Jahre gerät Angelika von Mendelssohns Vater Robert unter Druck. 1935 leiten die Nationalsozialisten mit ihren Rassegesetzen die systematische Verfolgung und Ermordung von Menschen ein, die sie als jüdisch beziehungsweise nicht-arisch einstufen. Am 12. November 1938, wenige Tage nach der sogenannten Reichskristallnacht, als Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Geschäfte 4 demoliert wurden, folgt eine "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben". Systematische Enteignungen werden zu einer wichtigen Quelle der deutschen Staatsfinanzen. Der Historiker Götz Aly errechnet, dass im letzten Vorkriegshaushalt 1938/39 "mindestens neun Prozent der laufenden Reichseinnahmen" aus sogenannten Arisierungserlösen stammen. Den Mendelssohns haftet das Jüdische an, obwohl die meisten Familienmitglieder seit Generationen christlich getauft sind. Ein brauner Mob zerstört die Denkmäler des Protestanten Felix von Mendelssohn Bartholdy in Leipzig und Düsseldorf, seine Kirchenmusik und seine weltliche Musik, wie der berühmte Sommernachtstraum, werden verfemt. 1938 wird Robert von Mendelssohn bedrängt, jüdische Teilhaber aus der Mendelssohn Bank zu entfernen. Cut 10 Angelika von Mendelssohn: Das waren also Max Kempner, sein Schwager, und Löb, ein Schwede, der dann auch nach Amerika gegangen ist, und ein paar andere. Und da sagte mein Vater, dass das nicht für ihn infrage käme. Sprecher: Daraufhin wird die Bank liquidiert. Ihre Geschäfte übernimmt die Deutsche Bank. Doch Angelikas Vater Robert bleibt von den Nazis weitgehend unbehelligt, nicht zuletzt wegen seiner guten Beziehungen ins Ausland. Die Mendelssohn Bank ist durch Auslandsgeschäfte groß geworden, und die Nazis sind sehr an Devisen interessiert. Anderen aus der Familie drohen dagegen Deportation und Ermordung. Otto von Mendelssohn wird auf Druck der Nazis aus dem Aufsichtsrat des Chemiekonzerns I.G. Farben entfernt. Er muss den Judenstern tragen, soll in ein Vernichtungslager deportiert werden, kommt aber nach Intervention von Bekannten wieder frei. Zuvor war schon sein Halbbruder Paul aus seiner Position als Direktor der I.G. Farben gedrängt worden, ausgerechnet des Konzerns, der massiv den Aufstieg Adolf Hitlers unterstützte und später das todbringende Zyklon B für die Massenvernichtungslager lieferte. Cut 12 Thomas Lackmann: Die damals lebenden Mendelssohns waren ja, was die Nürnberger Rassegesetze angeht, in einer unterschiedlichen Situation. Nach dieser Wahnsinnsarithmetik der Nazis galten manche von ihnen als Volljude, manche als Mischlinge ersten und zweiten Grades und manche als arisch, und dementsprechend unterschiedlich war ihre Gefährdung. Sprecher: 1939 wird Angelika von Mendelssohn geboren und das nationalsozialistische Deutschland beginnt den Zweiten Weltkrieg. Angelikas Vater Robert findet, dass die Reichshauptstadt Berlin nicht mehr der richtige Platz für seine junge Familie sei. Er bringt Ehefrau Liselotte und Tochter Angelika und seine Mutter Marie ins Ferienhaus der Mendelssohns im beschaulichen Salzkammergut. Aber dieses Idyll währt nicht lange. 5 Cut 13 Angelika von Mendelssohn: Da sollte man also entfernt sein von Berlin und den Kriegswirren. Und dann stellte sich da heraus in Österreich, dass doch die Nazis, wenn sie dann so mit "Heil Hitler Herr Mendelssohn" und so, dann dachten sie sich, vielleicht ist doch nicht so ganz das richtige Klima. Und dann ging's nach Georgenhof. Sprecher: Laut dem Einwohnerverzeichnis der Gemeinde Tigerfeld bei Zwiefalten am 14. Dezember 1941. Die Familie richtet sich im Haupthaus des Gutes ein. Der Vorbesitzer, ein Reutlinger Fabrikant, hatte es vom Erbauer des Stuttgarter Hauptbahnhofs, dem Architekten Paul Bonatz, errichten lassen. Von Kämpfen und Bombardements bleibt die einsame Alblandschaft weitgehend verschont. Das spricht sich unter den Verwandten der Mendelssohns herum. Immer mehr Angehörige fliehen vor den Bombennächten und suchen im wahrsten Sinne des Wortes "weit ab vom Schuss" Sicherheit auf dem Georgenhof. So auch Angelikas Vetter Eberhard Machens aus Oberschlesien, der als 15-Jähriger mit Mutter und Bruder vor der anrückenden Sowjetarmee flieht. Als der neugierige Vetter die Barockkommode in der Diele öffnet, wird er sogleich mit der Geschichte der Mendelssohns konfrontiert. Cut 16 Eberhard Machens: Da war ein großer Karton drin, da machte ich den auf und da waren Briefe drin, alte Briefe. Und dann hab ich den raus genommen. Da waren zunächst mal etwa 20 Briefe von Lessing im gelben Papier mit schönen Schrift, die ich noch entziffern konnte. Meistens handelte es sich von Geldgeschichten, dass er Schulden hatte, was bezahlen sollte und mit seinem Bruder korrespondierte, was zu tun war. Und dann war nochmal ein genauso großer Stoß mit Briefen von Alexander von Humboldt. Sprecher: Das Talent des Naturforschers und Forschungsreisenden hatten die Mendelssohns schon früh erkannt. Irgendwann gestand Humboldt dem Bankier Alexander Mendelssohn, er sei in Geldnöten. Cut 17 Angelika von Mendelssohn: Er könnte jetzt leider seine Miete nicht mehr bezahlen, er müsste umziehen, sagte der Humboldt. Und dann sagte der Alexander Mendelssohn: Machen Sie sich oder mach Dir mal keine Sorgen. Und am nächsten Tag sagte er: Ich hab das Haus gekauft für Dich. Hier ist es. Sprecher: 1942 muss Robert von Mendelssohn erfahren, dass seine Beziehungen zum NaziRegime Grenzen haben. Seine Mutter Marie gerät in Gefahr. Cut 18 Angelika von Mendelssohn: Meine Großmutter Marie, wo sie auch immer dachten, sie soll ruhig im Georgenhof bleiben, kann nichts passieren, dann haben doch alle Leute gesagt: Das wird zu 6 gefährlich. Das geht nicht, also, wie das so weiter geht mit den Nazis, das kann nicht. Und dann hat mein Vater versucht, sie nach Schweden zu Verwandten zu bringen. Sprecher: Der einzige Ausweg, Marie von Mendelssohn zu retten, soll eine Lösegeldsumme, eine gewaltige Lösegeldsumme sein, zahlbar in Devisen. Die Mendelssohns wenden sich an die schwedische Bankiers- und Industriellenfamilie Wallenberg. Cut 19 Angelika von Mendelssohn: Und da gab's zwei Brüder, und der eine Bruder, der war Industrieller, und von dem hat mein Vater eine bestimmte Summe gekriegt, die er dann Himmler in die Hand drücken sollte und auch wollte. Hat der Himmler auch genommen. Ich glaube, das war persönlich. Sprecher: Heinrich Himmler kontrolliert als Reichsführer SS die gesamte deutsche Polizei und die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Cut 20 Angelika von Mendelssohn: Dann sollte es losgehen mit der Großmutter. Und dann wurde gesagt: Wir haben nichts bekommen, kein Geld gesehen. Dann wurde Wallenberg nochmal gefragt, dann musste nochmal dieselbe Summe. Und dann sagte dann mein Vater: Das Geld kriegen Sie – ob das jetzt Himmler persönlich oder ein anderer der Gestalten, weiß ich nicht – aber jedenfalls wurde gesagt: Also erst, wenn sie sicher in Schweden ist, kriegen Sie das Geld. Und dann hat mein Vater sie nach Schweden gebracht. Und da bleib sie dann ja auch bis 45, 46. Sprecher: Die genaue Summe dieses Freikaufes ist nicht bekannt. Historiker Thomas Lackmann spricht von einem "Millionen-Lösegeld". Während Marie von Mendelssohn im sicheren Ausland ist, wählt ihre Schwester Elisabeth vor der bevorstehenden Deportation den Freitod. Anfang der 40er-Jahre werden deutsche Städte zu Zielen alliierter Bomber. Mehr als 300 Luftangriffe verwandeln Berlin in eine Trümmerwüste. Zehntausende sterben. Das Palais Mendelssohn im Grunewald wird 1943 getroffen und brennt weitgehend aus. Zuvor hatte sich dort Naziprominenz eingerichtet, das stattliche Gebäude zu einem Gästehaus gemacht und später als Telefon-Abhörzentrale der Geheimen Staatspolizei genutzt. Der Georgenhof wird so etwas wie ein Lager für Flüchtlinge und Ausgebombte unter den Mendelssohns. Genaue Auskunft gibt noch heute das Einwohnerregister. Cut 21 Marco Birn: (Blättern in Akten) Genau, also das ist jetzt das Einwohnerverzeichnis. 7 Sprecher: Im Archiv des Landratsamtes Reutlingen hat Archivleiter Marco Birn die GeorgenhofAkte aufgeschlagen. Cut 22 Marco Birn: Insgesamt handelt es sich um 43 Personen, die auf dem Georgenhof lebten, und noch einmal 28 Personen, die in der Gutsverwaltung arbeiteten. Sprecher: Archivleiter Birn entdeckt auch einen Hinweis auf polnische Fremdarbeiter. Sie gehören zu den mehr als fünf Millionen Männern und Frauen, die in den Kriegsjahren nach Deutschland deportiert wurden. Cut 23 Marco Birn: In einer Steuerliste für das Kalenderjahr 1942 finden sich für den Georgenhof vier polnische Landarbeiter, ein Andres Centa in Begleitung eines minderjährigen Kindes, ein Franz Karkowska, der mit drei minderjährigen Kindern auf den Georgenhof kam, ein Ludwig Markiel und ein Kasimir Ciura. Sprecher: Zwangsarbeiter mussten häufig unter unmenschlichen Bedingen in deutschen Betrieben schuften. Weniger brutal geht es auf dem Georgenhof zu. Der kleine Sohn des Andres Centa wird Angelikas Spielkamerad, den sie Juju nennt. Cut 24 Angelika von Mendelssohn: Es waren mehrere Familien, die da mit den Pferden und so im Stall dies und das machten. Und die hatten einen Sohn, der war mein Spielkamerad, Juju, der ganz blond war. Sprecher: Die vielen Angehörigen in der Kriegszeit satt zu kriegen, ist für Angelikas Mutter, die energiegeladene Liselotte von Mendelssohn, kaum zu schaffen. Was es aus dem Hausgarten zu ernten gibt, ist nicht üppig. Auf Druck des Regimes wird ein SS-Mann als Verwalter eingesetzt, der der Familie von den Erträgen aus der Landwirtschaft nichts übriglässt. Das spricht sich sogar bis ins benachbarte Tigerfeld herum. Cut 25 Josef Kleiner: Der ist eingewiesen worden, dass er dem Besitzer eigentlich nichts abgibt vom landwirtschaftlichen Betrieb. Also die sind damals, seine Frau und Kinder waren eigentlich arm damals. Meine Eltern hatten die Poststelle gehabt in Tigerfeld, da sind sie auch wieder hingekommen. Sprecher: Josef Kleiner, Sohn des Poststellenbetreibers, erinnert sich. 8 Cut 26 Josef Kleiner: Und da hat meine Mutter mal einen Pfannkuchen gemacht. Und da sind sie gerade über Mittag gekommen. Und dann die Frau von Mendelssohn gesagt: Oh, das riecht aber gut! Und: Oh, könnt ich einen Pfannkuchen haben von Ihnen? Ich hab so einen Hunger. Ich bekomme vom Betrieb gar nichts. Der Verwalter, der darf uns nichts abgeben. Sprecher: Liselotte muss Essbares bei den Bauern der Umgebung zusammen bitten. Mit Kritik an solchen Schikanen hält sie nicht zurück, zumal die Familie im Sinne des Regimes nicht als "vaterlandslos" gelten kann. 20 Nachkommen des Ahnherrn Moses Mendelssohn fallen als Wehrmachtssoldaten. Auch beide Söhne von Emma Witt, die als älteste Schwester Roberts einst als Käuferin des Georgenhofs aufgetreten war, stehen an der Front. Cut 28 Angelika von Mendelssohn: Da ist meine Mutter, die ja doch immer ziemlich waghalsig war in ihren Aussprüchen, die ist dann eben auch hingegangen und sagte: Wenn Sie die Leute, die unsere Neffen, die fürs Vaterland kämpfen, wenn Sie denen hinterm Rücken den Georgenhof wegnehmen, das ist ja einfach unglaublich und so. Sprecher: Die Reaktion der Nationalsozialisten bleibt nicht aus. Liselotte wird im Januar 1945 verhaftet und nach Stuttgart ins Gefängnis der Geheimeinen Staatspolizei gebracht. Der Neffe Eberhard Machens erzählt von den Haftbedingungen: Cut 29 Eberhard Machens: Die waren ziemlich schlecht. Sie hatte also eine Wärterin, die da für die zuständig war, die recht ekelhaft gewesen war und sie also ziemlich hin und her scheuchte. Und Onkel Robi konnte manchmal ihr von der Straße aus zuwinken. Aber ist dann auch irgendwie da an, bis an das Gefängnis rangekommen … hat da Kaffee angeschleppt, den er teuer irgendwo gekauft hat und hat dann die Leute bestochen. Sprecher: Während Deutschland zum Schlachtfeld wird, bleibt die Schwäbische Alb verschont. Chroniken vermelden den Absturz einiger britischer und amerikanischer Flugzeuge. Am 18. März 1944 zerschellt ein US-Bomber bei Erbstetten, sechs Besatzungsmitglieder sterben. Die Gestrandeten auf dem Georgenhof erfahren aus den Nachrichten des Schweizer Kurzwellenradios von den Kämpfen und dem Vormarsch der alliierten Truppen. Sorge bereitet ihnen die in Stuttgart inhaftierte Liselotte. Cut 30 Eberhard Machens: Sie wurde immer wieder verhört. Und das hat sie dann später erzählt. Aber es kam eben praktisch nicht sehr viel raus. Wenn der Krieg noch länger gedauert hätte, hätten sie sie natürlich nachher ins KZ geschickt. Und das wäre also nicht gut 9 gegangen. Sie wurde dann plötzlich, das war vielleicht zehn Tage, bevor die Amerikaner in Stuttgart ankamen, wurde sie also nach Haus geschickt. Sprecher: Am 25. April 1945 endet der Krieg um den Georgenhof. Französische Panzerverbände rollen an. Die Erste Armee besetzt die Schwäbische Alb. Cut 32 Eberhard Machens: Die Franzosen kamen an mit so einem Maschinengewehrwagen. Und dann kamen die also ins Haus, das waren Marokkaner. Und die durchsuchten also alle die Zimmer, wollten wissen, ob da Soldaten versteckt waren wahrscheinlich, aber nahmen auch schon einiges mit. Aber es war nicht so tragisch. Sprecher: Der Krieg ist zwar vorbei, aber Frieden kehrt auf dem Georgenhof noch nicht ein. Ehemalige Kriegsgefangene, von denen die französischen Besatzer 20.000 im Lager Heuberg bei Balingen unterbringen, ziehen marodierend über die Alb. Der Georgenhof mit seinen edlen Möbeln und dem Besitz, den die Zuflucht Suchenden hierher hatten retten können, wird mehrfach geplündert. Cut 33 Eberhard Machens: Und dann kam aber der Höhepunkt. Dann kam eine Bande, waren acht oder neun Polen. Die wurden angeführt von einem Franzosen. Diese Räuber durchsuchten also das Haus auch noch und nahmen dann auch die Uhren ab den Leuten. Ich weiß, dass Tante Emma, die hatte eine sehr schöne alte Armbanduhr, die rissen die einfach vom Arm weg und nahmen die mit. Also die klauten sehr viel, auch einen Ledermantel von Onkel Robi und die Jacken aus den Schränken raus, was denen also so gefiel. Sprecher: Als sie im Musikzimmer einen alten Waffenschrank finden, der allerdings leer ist, vermuten sie Waffen im Haus und verlangen die Herausgabe. Die Beteuerung, es gäbe keine Waffen, wird schroff abgewiesen. Cut 34 Eberhard Machens: Da machten die wirklich Terror, echten Terror und sagten: Ja, also dann müssen wir Sie also erschießen. Uns war es klar, dass das Räuber waren, dass die Zivilisten waren. Und dann haben die uns wirklich an die Wand gestellt. Und die Frauen standen da seitlich rum und war also großes Geschrei. Sie hatten also maßlose Angst. Es dauerte eine halbe Stunde. Und dann wurde mit denen palavert. Und Onkel Robi redete auf sie ein. Und wir redeten ein. Und wie gesagt, wir standen an der Wand und die mit Gewehren vor uns. Aber es kam nichts bei raus. Wir konnten nicht mehr rausgeben, als sie ja schon hatten. Sprecher: Am nächsten Tag schwingt sich Liselotte von Mendelssohn aufs Rad und fährt ins Nachbardorf Tigerfeld. Dort macht sie einem Offizier in gepflegtem Französisch deutlich, dass die Besatzungsmacht auch für die Sicherheit der Bevölkerung zu 10 sorgen habe. Tage später werden zwei Soldaten auf den Georgenhof abkommandiert. Langsam normalisiert sich das Leben dort. Die Mendelssohns machen sich daran, Schmuck und Wertgegenstände, die sie vorsorglich beiseite geschafft hatten, wieder aus Verstecken zu holen, aus einer der vielen kleinen Höhlen der Umgebung z.B. Cut 35 Eberhard Machens: Meine Mutter, die es besonders klug machen wollte, die hatte also, es gab früher diese Bakelit-Döschen, die hatte also ihren Schmuck, die Perlenketten im Garten vergraben, im dritten Beet unterm vierten Blumenkohl. Aber als sie das rausholen wollten, war das ja schon abgeerntet. Also da hat meine Mutter, kam blass aus dem Garten und dachte, es wird nicht also finden. Und da haben wir also wirklich den halben Garten, ein Riesenloch graben müssen, bis wir diese kleinen BakelitDöschen, drei oder vier, gefunden haben. Sprecher: 1946 kehrt die freigekaufte Großmutter Marie von Mendelssohn aus ihrem schwedischen Exil zurück auf den Georgenhof. Jetzt hängt auch wieder große Weltkunst in dem einsamen Gut. Die Familie erhält Angebote, Bilder zu verkaufen. Bevor aber ein Werk des österreichischen Expressionisten Oskar Kokoschka veräußert werden kann, geht es beinahe auf der Alb verloren, als Robert es auf dem Dachträger seines Autos transportieren will. Cut 38 Eberhard Machens: Eines dieser ganz teuren Bilder, das war ein Bild "Hafenbucht von Biarritz". Das war also auch im Georgenhof. Als er ankam, er wollte nach Tübingen fahren oder nach Stuttgart, war das Bild nicht mehr da und der Deckel von der Kiste war auch nicht mehr da. Es war natürlich ein enormer finanzieller Verlust. Und dann wurde also gesucht, und dann ist er also die ganze Strecke abgefahren, hat es also klugerweise vom Georgenhof aus gemacht und in einzelnen Dörfern nachgefragt, ob man das wiederfinden kann. Es ist dann also fünf Dörfer weiter, relativ nah noch auf der Schwäbischen Alb, gefunden worden und war benutzt worden von irgendeinem Bauern, um seinen Kaninchenstall abzudecken. Sprecher: Einen würdigeren Platz als auf dem Kaninchenstall der Älbler Bauern hat das Bild mittlerweile gefunden. Es ist heute eines der Meisterwerke im Museum der Harvard Universität in Cambridge, USA. Versuche, die Mendelssohn-Bank nach dem Krieg wiederaufzubauen, scheitern. Die Nachfahren Moses Mendelssohns halten ihren Stammvater aber nach wie vor in Ehren. 2012 versammeln sich mehr als 200 an seinem Grabmal auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte. Die bewegte Familiengeschichte bleibt in einer Ausstellung im ehemaligen Bankhaus in Berlins Jägerstraße lebendig. Von der Villa im Grunewald steht nur noch die prachtvolle Fassade, sie ist integriert in ein neu errichtetes Jugendgästehaus. Der Georgenhof wird 1972 an eine diakonische Einrichtung verkauft. Er ist seitdem ein beliebtes Haus für Freizeiten und Tagungen. ***** 11
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