MARIANNE WYDLER (*16.12.1939 -15.12.2016 t) DOKUMENTE ZUR GEDENKAUSSTELLUNG VOM 22.JANUAR BIS 12. FEBRUAR 2017 IM ART DOCK ZÜRICH /8004 ZÜRICH ARTICLE DE CAHIER DESSINE No 11 DATE DE PARUTION 08/04/2016 Marianne Wydler : Beauté gastronomiqe; peur et vide par Paul Nizon ABSCHRIFT ORIGINALMANUSKRIPT Marianne Wydler : Lukullische Schönheit; Angst und Leere von Paul Nizon Einen zentralen oder doch spektakulären Platz im Spätwerk von Marianne Wydler nimmt das mit den Mitteln hyperrealistischer trompe l’oeil-Technik gemalte Früchtestilleben ein, das einesteils ein unüberbietbares Schönheitsverlangen zum Ausdruck bringt, zum anderen ein überfeinerstes Naturgefühl. Ikonographisch gesehen gehören die in kostbaren Prozellangefässen oder auch Weidenkörben abgebildeten Aepfel, Melonen, Pflaumen, Kirschen, Zitronen, Granatäpfel ..., aber auch Kohlköpfe, Erdäpfel, Blumenkohl zum Prunk des Esszimmers oder der Küche, zur Dekoration, zum Gebrauch, bestimmt zum Intérieur. Die Frage ist: sind die Früchtestilleben in ihrer überwältigenden Gegenwärtigkeit Ovationen an die Köstlichkeit der Naturprodukte oder reine (leere) Exerzitien der malerischen Kunstfertigkeit und Augentäuscherei? Geht es um die Augenfreude oder die Gaumenfreude, das Essen oder die Bravour der Wiedergabe, Natur oder Kunst? Diese Frage würde sich erübrigen, wären die Früchte nicht dermassen haptisch und köstlich wiedergegeben – das sinnliche Können ist ja überwältigend, die Stofflichkeit in jeder Hinsicht unübertrefflich, doch bleibt die Frage: was sagen, was mimen die Dinge, die Bilder? Gewiss ist: es geht auf diesen Leinwänden hintergründig beredt zu. Marianne Wydler versteht es , ihre Naturalien in szenische Auftritte und Anspielungen zu verwickeln. Alles ist arrangiert, alles ist inszeniert. Bestimmt sind ihre Naturalien nicht einfach Naturstudien, sondern häusliche Glanzstücke, Prachtstücke, Anekdoten, sprechende Dinge, stumme Sketchs, schon die Faltenwürfe der Tischdecke sind ja krasse Uebertreibungen, Aufbauschung, Schaumschlägerei. Sehen wir uns in diesem Zusammenhang das Bild mit den Papiersäcken auf der Gartenbank näher an. Was haben die weissen zerknitterten Einkaufstaschen auf der feingliedrig grünen Gartenbank zu suchen? Es sind vier an der Zahl, und sie sind allem Anschein nach leer. Vor dem satten vergnüglichen Grün mit dem Schattenmuster auf und unter der Bank wirken sie bleichsüchtig bis geisterhaft. Sind sie vergessen? Wohl kaum. Man hat sie auf der Bank zu einem leicht makabren Gruppenbild des Unpassenden versammelt, es steckt eine Choreographie dahinter. Wacklige leere Hüllen als Parodien einer Figürlichkeit wenn nicht Personenähnlichkeit; man möchte – übertreibend – an eine entfernte Abwandlung des „Déjeuner sur l’herbe“ denken. Es sind Insignien der Abwesenheit. Sie verbreiten Angst und Leere. Im jüngsten Kapitel von Marianne Wydlers Werk dominieren Figurenbilder. Es handelt sich einesteils um Tierbilder, Häschen, Bulldogge, Schaf, Kalb und Kuh, in der Machart betont ungeschickt, im Ausdruck schillernd zwischen Komik und Schreckensbild. Gemarterte Kreatur, blutend und verstümmelt. Ausserdem Abbreviaturen der Weiblichkeit, Mädchenbilder teils in märchenhafter Aufmachung, teils in an Munch gemahnender Expressivität wie der mit SHAME benannte rote, von weissen Händen verdeckte Kopf. In der Faktur sind diese figurenartig hingekritzelten Gebilde nah an der Kinderzeichnung, dem Wesen nach wohl allesamt Selbstbildnisse. Sie treten aus verschütteten oder verborgenen Tiefen an die Oberfläche des Bewusstseins. Wir können diese späte Produktion der Autobiographie zuordnen. Sie werfen ein entlarvendes Licht auf die „paradiesische“ Scheinwelt der Früchtestilleben. Wir finden im übrigen die kinderzeichnungsartigen ungelenken Inbilder oder „Erinnerungen“ bereits in Marianne Wydlers der Pop Art verpflichtetem knallbuntem Frühwerk und zwar implantiert bis versteckt in wahren Geröllhalden von Zitaten aus den Plakatherrlichtkeiten, Comics und anderer kollektiver Propaganda. Diese Pop-Bilder sind Rätselbilder, und die ungelenken zarten Intarsien erinnern an Dubuffet, von dem unsere Künstlerin einesteils abstammt. Sie ist gelernte Textilentwerferin und hat als Illustratorin gearbeitet, bevor sie die Laufbahn der freien Künstlerin antrat. Zu ihrem Lebenslauf gehört ein zehnjähriger Aufenthalt in New York und – dies unter vielem anderem, versteht sich lange Erfahrung im Umgang mit englischen Bulldoggen. Sie zählt zu den eigenartigsten Malerinnen der schweizerischen Kunst. Paul Nizon (2015) • • • • • • • • Le Cahier dessiné No 11 Date de parution : 08/04/2016 Format : 22 x 28 cm, 384 pages ISBN 979-10-90875-34-0 http://www.lescahiersdessines.fr/le-cahier-dessine--collectif-9791090875340
© Copyright 2025 ExpyDoc