Morgenandachten im DLF zum

Katholische Hörfunkarbeit für Deutschlandfunk und Deutsche Welle, Heinrich‐Brüning‐Straße 9, 53113 Bonn Manuskript „Morgenandacht“ im Deutschlandfunk für die Zeit vom 16.1.2017 bis 21.1.2017 Datum: Autor/in, Ort: Thema: Montag, Dr. Claudia Nieser, Paderborn „Es sind Geschichten, sie einen diese Welt“ (Herbert Grönemeier, „Stück vom Himmel“)
Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Frau Dr. Silvia Becker. Vor gut einem Jahr lud der katholische Priester Roderick Vonhögen auf der Internetseite
Youtube ein Video hoch. Der kurze Film zeigt ihn selbst – aber nicht bei einer Predigt,
einer Katechese oder einer anderen Botschaft mit christlichem Inhalt. Stattdessen kann
man Father Roderick dabei zusehen, wie er sich zum ersten Mal den damals frisch
erschienenen Kinotrailer zu „Star Wars VII – Das Erwachen der Macht“ ansieht.
Auch wenn Sie mit „Star Wars“, auch bekannt als „Krieg der Sterne“, nichts anfangen
können: Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich dieses Video anzuschauen. Ich prophezeie:
Sie werden danach ein breites Lächeln auf dem Gesicht haben. Denn die Begeisterung
von Father Roderick ist ansteckend. Der Anblick der Helden aus seiner Kindheit, die nun
wieder neu im Kino zu sehen sind, der Lichtschwerter, der legendären Raumschiffe,
veranlasst ihn zu regelrechten Jubelausbrüchen.
Die Kommentare zu dem Video sind mindestens ebenso amüsant wie das Video selbst.
Zum Beispiel schrieb ein Kommentator mit dem Pseudonym „Gott“: „He, das ist einer
meiner Angestellten!“
In den Kommentaren klang aber auch ein ernsthaftes Thema an. Eine Person schrieb
zum Beispiel: „Ich bin Muslim und im gleichen Maß begeistert von Star Wars. Wenn ich
die Aufregung dieses Priesters über die gleiche Sache sehe, begreift man, wie dumm es
ist, sich wegen religiöser Unterschiede zu bekämpfen. Lasst uns alle Spaß haben und
diesen Kinofilm als Menschen genießen.“ Und ein anderer schrieb: „Vater, ich bin Atheist,
aber ich wünsche mir, dass die wahrhaftige Seele, die sich in Ihren Augen zeigt,
millionenfach in allen Kirchleuten vervielfältigt wird."
Mich fasziniert das Video, und mich faszinieren solche Kommentare. Das hat zunächst
mit der einfachen Tatsache zu tun, dass ich zu einer ähnlichen Begeisterung fähig bin,
sobald in einem Kinofilm ein Raumschiff vorbeifliegt. Doch es geht mir auch um etwas
anderes. Father Roderick ist im Video im Kollar-Kragen zu sehen, also eindeutig als
Kirchenmann zu erkennen. In dem Video geht es dann aber nicht um den Glauben, für
den er steht, sondern um einen Kinofilm, der in der ganzen Welt bekannt ist. Trotzdem
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 1 wird er als Vertreter der Kirche wahrgenommen – und die Kommentare sind ohne Häme
oder Feindseligkeit, was man durchaus mit einem Ausrufungszeichen versehen kann
angesichts des Tons, der in den Sozialen Netzwerken schnell herrscht.
Das bald 1,5 Millionen mal geklickte Video lässt mich die Frage stellen, ob man nicht zu
selten auf das schaut, was alle Menschen gemeinsam begeistert, auf das, was alle
gemeinsam zum Lachen bringt, auf das, was die Probleme des Lebens für eine Weile
vergessen lässt. „Es sind Geschichten, sie einen diese Welt“, schrieb Herbert
Grönemeier in seinem Song „Stück vom Himmel“. Und Geschichten, ob sie nun im Kino
erzählt werden, im Theater oder in der Literatur, sind nach meiner Erfahrung tatsächlich
etwas, was Menschen verbinden kann. Es eint, wenn man erlebt, dass man mit den
gleichen Helden mitfiebert und die gleichen Bösewichte verflucht. Es eint, wenn man sich
über das gleiche Happy End freut und über das gleiche traurige Ende weint. In solchen
Situationen wird spürbar, dass wir alle Menschen sind, die lieben, die trauern und sich
freuen, Menschen mit Leidenschaften und dem Wunsch, dass am Ende die Guten
gewinnen.
Ich sehe auch Nachrichten und weiß, dass das Zusammenleben unterschiedlicher
Weltanschauungen, Kulturen und Religionen mit vielen Problemen belastet ist. Und dem
Hass von Fanatikern und Terroristen, der unsere Welt peinigt, hat ein Kino-Film oder ein
Roman zunächst einmal nur wenig entgegenzusetzen. Natürlich ist es in der Begegnung
mit Andersdenkenden und Andersglaubenden wichtig, sich über Unterschiede
austauschen und zu verständigen. Aber gerade angesichts von unversöhnlichem Hass
und einer vorherrschenden Rhetorik, die die Welt in Schwarz und Weiß einteilt, ist es
ebenso wichtig, für Erfahrungen von Gemeinsamkeit zu sorgen.
Ich glaube, dass wir gar nicht genug von solchen Erfahrungen bekommen können. Möge
die Macht mit Ihnen sein, Father Roderick!
Linktipp:
Father Roderick schaut den Trailer zu „Star Wars – das Erwachen der Macht“
https://www.youtube.com/watch?v=ayLZk4oNwuQ
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 2 Datum: Autor/in, Ort: Thema : Dienstag Dr. Claudia Nieser In den Farben getrennt, in der Sache vereint Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Frau Dr. Silvia Becker. Am 13. März 2016 kam es im Dortmunder Signal Iduna Park zu denkwürdigen Szenen.
Borussia Dortmund gewann an diesem Tag gegen den FSV Mainz 05 mit 2:0, doch das
geriet völlig in den Hintergrund. Was war geschehen? Im Verlauf der zweiten Halbzeit
machte im Stadion die Nachricht die Runde, dass ein 80jähriger Fan einen Herzinfarkt
erlitten hatte und noch im Stadion verstorben war.
Die Folge war eine fast gespenstische Stille in einem mit 80.000 Menschen gefüllten
Stadion. Nicht einmal ein Tor für die Heimmannschaft änderte etwas an der gedrückten
Stimmung. Auch die gegnerischen Fans aus Mainz bekamen das Geschehen mit und
schlossen sich dem Schweigen an.
Erst kurz vor Spielende beendete die Dortmunder Südtribüne die Stille – aber nicht mit
Jubel, sondern mit dem Anstimmen der inoffiziellen Vereinshymne „You’ll never walk
alone“ – „Du wirst nie alleine gehen“, die traditionell vor jedem Heimspiel gesungen wird.
Nach dem Abpfiff verzichteten auch die Spieler auf größeren Jubel.
Große Menschenmassen haben ja eigentlich keinen besonders guten Ruf und wirken auf
viele beängstigend. Menschen verhalten sich in der Masse in der Regel anders als sie es
allein oder in kleinen Gruppen tun würden. Denn Emotionen, die in der Masse zutage
treten, stecken an und verstärken sich, und es ist schwer, sich davor zu schützen. Jeder
hat vermutlich sofort Bilder vor Augen, wozu solche potenzierten Gefühle führen können.
Schlimmstenfalls sind das Bilder von fanatisierten Mobs, die in blindem Hass auf alles
losgehen, was ihnen aus irgendwelchen Gründen nicht passt. Auch der Sport und gerade
der Fußball kann ein trauriges Lied davon singen, welche Gewalt Menschenmassen
entfachen können.
Umso bemerkenswerter finde ich das, was sich am 13. März 2016 in Dortmund
abgespielt hat. Beeindruckend war nicht nur, wie einig sich Borussen-Fans und
Gästefans darüber waren, dass Fußball aufgrund der traurigen Vorkommnisse an diesem
Spieltag völlig zweitrangig war. Beeindruckend war auch, wie eine Masse von 80.000
Menschen spontan einen Ritus der Trauer und des Gedenkens an den verstorbenen Fan
entwickelte, der in dieser Situation völlig passend war. Die Sprache, die Ausdrucksformen
waren nicht religiös, sondern bedienten sich jener Formen, die an diesem Ort nun einmal
üblich sind. Deshalb wirkte es nicht pathetisch, sondern authentisch.
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 3 In den Sozialen Netzwerken gab es übrigens auch keine zwei Meinungen. „In den
Farben getrennt, in der Sache vereint“, war häufig zu lesen – einen Satz, den man immer
wieder liest, wenn sich gegnerische Fanlager bezüglich einer Sache, die über den
Fußball hinausgeht, einig sind – zum Beispiel wenn es um ein Aufstehen gegen
Fremdenfeindlichkeit geht.
Über das Verhältnis von Fußball und Religion ist schon viel geschrieben worden.
Gewisse Ähnlichkeiten liegen auf der Hand, und gerade in einer Stadt wie Dortmund, in
der schwarz-gelbe Gottesdienste gefeiert werden, verschwimmen die Grenzen schon
einmal. Mir kommt beim Anschauen dieser Szenen, in denen eine Menschenmasse zu
einer Einheit wird, in der Menschen in den Farben getrennt, in der Sache vereint sind,
eine Vorstellung aus meiner eigenen, christlichen Tradition in den Sinn. Die Vorstellung
von einer einheitsstiftenden Kraft, die Menschen zu einen vermag, ohne den einzelnen
„seiner Farbe“ zu berauben, ohne ihn also in der Masse untergehen zu lassen.
Die christliche Tradition hat diese Macht „Geist“ genannt, „Heiliger Geist“, eine der drei
Personen der göttlichen Dreifaltigkeit. Diese Person steht dafür, dass es manchmal einer
Kraft, vielleicht auch eines Schutzes von außen bedarf, damit aus einer Zahl
unterschiedlicher Menschen eine Gruppe wird, eine Einheit, die ein gemeinsames Ziel
verfolgt und doch unterschiedliche Farben aufweist. Ein solcher Geist wehte am 13. März
auch durch das Dortmunder Westfalenstadion.
„In den Farben getrennt, in der Sache vereint“ - ich wünsche mir manchmal, dass sich die
Religionen, die christlichen Konfessionen, die innerkirchlichen Gruppen diese
„Fußballweisheit“ häufiger auf die Flaggen schreiben würden als sie es gegenwärtig tun.
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 4 Datum: Autor/in, Ort: Thema : Mittwoch, Dr. Claudia Nieser, Paderborn Über dem Regenbogen Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Frau Dr. Silvia Becker. Musikeinspielung:
Somewhere over the rainbow, way up high
There’s a land that I heard of, once in a lullaby
Irgendwo über dem Regenbogen, hoch da oben,
da gibt es ein Land, von dem ich einst in einem Wiegenlied hörte.
Irgendwo über dem Regenbogen ist der Himmel blau
und die Träume, die du zu träumen wagst, werden wirklich wahr.
[Übersetzung der ersten Strophe „Somewhere over the rainbow“]
Mit diesen Worten beginnt das berühmte Lied „Over the rainbow“ aus dem Film „Der
Zauberer von Oz“ (1939). Judy Garland sang es als erste, in ihrer Rolle als Dorothy Gale,
der Heldin im Film. Dorothy Gale ist ein Mädchen, das bei Onkel und Tante auf einer
Farm in Kansas aufwächst und Angst um ihren geliebten Hund Toto hat, der der
unfreundlichen Nachbarin ein Dorn im Auge ist. Von einem Wirbelsturm wird sie mit ihrem
Hund ins magische Land Oz getragen, erlebt dort Abenteuer und besiegt eine böse
Hexe, um schließlich wieder nach Kansas zurückzukehren. Denn, so Dorothy am Ende:
„Es ist nirgendwo so schön wie daheim.“
Diesen Spannungsbogen gibt es in vielen Geschichten mit märchenhaftem Charakter.
Auf der einen Seite ist da die Sehnsucht nach einem wunderbaren Anderswo, nach
einem Land „irgendwo über dem Regenbogen“, in dem man dem grauen, eintönigen
Alltag entkommen kann. Doch auf der anderen Seite gibt es auch ein starkes
Bewusstsein davon, dass diese magische Welt nicht die Wirklichkeit ist und dass das
wahre Leben dann doch nicht dort spielt, sondern eben auf dieser unserer Erde.
Die Gefahr der Weltflucht existiert ja tatsächlich, die Gefahr, sich aus der rauen
Wirklichkeit in imaginäre Welten zu fliehen, in denen es schöner und aufregender ist.
Diese Welten mögen Oz, Mittelerde oder eine weit entfernte Galaxis sein. Manchmal
handelt es auch einfach nur um die glamouröse Welt berühmter Stars in Sport oder Film,
deren Leben einem viel erstrebenswerter erscheint als das eigene.
Flucht in andere Welten – dieses Thema beschreibt in diesen Tagen allerdings auch eine
ganz harte Realität, die gar nichts mit Hexen, Elben oder Jedi-Rittern zu tun hat.
Abertausende von Menschen sind gegenwärtig auf der Flucht aus einer rauen
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 5 Wirklichkeit in ein Land, in dem man sich ein schöneres Leben erhofft. Menschen fliehen
in eine andere Welt, weil es in ihrer Heimat aufgrund von Krieg und Vertreibung
unerträglich geworden ist.
Der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie hat das Lied „Over the Rainbow“ in
einem Text aus dem Jahr 1992 auf die Migranten dieser Welt bezogen. Er schreibt:
„'Over the Rainbow' ist – oder sollte es zumindest sein – die Hymne aller Migranten der
Welt, all jener, die sich auf die Suche nach einem Platz begeben, wo die 'Träume, die
man zu Träumen wagt, tatsächlich wahr werden'". Und weiter: „Dieser Song feiert das
Entfliehen, ist ein Lobgesang auf das entwurzelte Ich, eine Hymne, die Hymne an das
Anderswo." 1
Ich finde, es lohnt sich, das Lied mit diesen Aussagen Rushdies im Hintergrund zu hören
– dann verschwindet die romantische, süßliche Anmutung schnell, die man ihm
möglicherweise zuschreiben mag.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist „Over the Rainbow“ für mich viel mehr als eine
Anstiftung zur Weltflucht. Das Lied ist in der Tat eine Hymne – für alle, die die Dinge, wie
sie sind, nicht einfach so hinnehmen und mehr vom Leben wollen, für alle, die die
Sehnsucht nach dem berühmten „Mehr“ im Leben nicht beunruhigt, sondern anspornt. Es
ist ein Lied der Hoffnung darauf, dass da mehr ist, des Glaubens daran, dass da mehr ist.
Für mich ist es auch die große Hymne an die Macht der Fantasie, die ganz ohne Zweifel
zu den wunderbarsten Dingen zählt, über die der menschliche Geist verfügt. Keiner der
kleinen oder großen Diktatoren dieser Welt hat es jemals geschafft und wird es jemals
schaffen, dieser Macht Einhalt zu gebieten. Die Gedanken sind frei – und werden es
immer bleiben.
Am Ende des Lieds „Over the Rainbow“ blickt Judy Garland als Dorothy Gale nach oben
in den grauen und wolkenverhangenen Himmel und sieht, dass sich dort eine Lücke
aufgetan hat. Sonnenstrahlen fallen heraus und schenken dem tristen Land etwas Licht.
So ist das mit der Macht der Fantasie, die Dorothy mit ihrem Song kurz zuvor
beschworen hat: Sie hält uns den Himmel offen.
1
Salman Rushdie, Out of Kansas, in: ders., Überschreiten Sie diese Grenze! Schriften 1992-2002,
Reinbek bei Hamburg 2004, 28
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 6 Datum: Autor/in, Ort: Thema: Donnerstag, Dr. Claudia Nieser, Paderborn Eine Insel – Liebe – Gott Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Frau Dr. Silvia Becker. Kennen Sie auch solche Lieder, bei denen Sie sich nicht sicher sind, ob es sich nun um
ein Liebeslied handelt oder doch eher um ein Gebet? Ob es sich also an einen geliebten
Menschen richtet oder an Gott? Ich stelle mir die Frage zum Beispiel immer, wenn ich
das Lied „Eine Insel“ des Berliner Liedermachers Klaus Hoffmann höre. Das Lied wurde
bereits 1979 veröffentlicht, hat also bereits einige Jahre auf dem Buckel. Es begleitet
mich seit Jahrzehnten, in den unterschiedlichsten Zusammenhängen.
Das Lied beginnt mit den folgenden Worten:
Musikeinspielung:
Ich habe mich so oft verloren, / zieh' von Ort zu Ort, / nirgendwo bin ich zuhause, / laufe
vor mir selber fort./ Ich suche deine Liebe / und ziehe mit dem Wind, / um dich zu finden,
/meine Insel.
Und im Refrain heißt es:
Musikeinspielung:
Eine Insel im Meer, / so stark in meinen Träumen, / wie sehn' ich mich nach ihr, / nach
einem festen Platz. / Mein Eiland, mein Schutz, / meine Liebe zu ihr bleibt ungenannt /
und tiefer als das Meer.
„Meine Insel“ – damit kann ein geliebter Mensch gemeint sein, den man nach langem
Umherirren auf dem Meer des Lebens endlich gefunden hat. Lange hat man nach dieser
Liebe gesucht, hat sich nach ihr gesehnt und die Hoffnung vielleicht sogar schon
aufgegeben – doch nun ist sie endlich da. Mit ihr kann man zur Ruhe kommen, sich
niederlassen.
Die Verse kann man aber auch als die Beschreibung einer Gottsuche verstehen,
allgemeiner vielleicht auch eine Suche nach einem tieferen Sinn im Leben. Nirgendwo
hat man bisher ein Zuhause gefunden, nirgendwo ist man lange geblieben, doch jetzt hat
man endlich festen Boden unter den Füßen, eine feste Bleibe. Jetzt ist sie da, die
Antwort, die Halt gibt und dafür sorgt, dass man nicht mehr vor sich selbst davonlaufen
muss.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob Klaus Hoffmann einen geliebten Menschen vor Augen
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 7 hatte, als er diesen Text geschrieben hat, oder ob es ihm eher um die Beschreibung einer
lebenslangen Suche nach Sinn, nach Wahrheit oder nach dem Göttlichen ging.
Manchmal höre ich „Eine Insel“ als Liebeslied, manchmal höre ich das Lied als Gebet,
und ich glaube nicht, dass der Künstler ein Problem damit hat, dass seine Fans das Lied
auf unterschiedliche Weise verstehen.
Es ist natürlich keine neue Erkenntnis, dass sich die Sprache der Liebe und die Sprache
des Gebets ähneln können. Liebe kann eine spirituelle Dimension haben – und hat sie
vielleicht sogar immer, wenn sie wahrhaftig ist. Das Gefühl der Liebe sprengt die engen
Grenzen der eigenen Person, macht das Leben weiter und reicher – und das, durchaus
paradox, obwohl man sein Leben nun nicht mehr „für sich“ hat, sondern es mit jemandem
teilt. Ähnliches kann man von jenen Erfahrungen sagen, die man macht, wenn man betet
und Gottes Nähe erfährt. Die Erfahrung, dass man nicht allein ist auf seinem Lebensweg,
gibt Sicherheit und lässt Vertrauen wachsen. Die Erfahrung, von Gott geliebt zu werden,
macht das Leben weit und tief.
In der kirchlichen Tradition findet man vor allem bei den Mystikerinnen und Mystikern des
Hochmittelalters Texte, die die Sprache der Liebe verwenden, um ihre sehr enge
Beziehung zu Gott zu beschreiben und das Glück, das sich dabei erfahren lässt. Zum
Beispiel Mechthild von Magdeburg, die poetische Bilder und eine geradezu erotische
Sprache verwendet, um die Sehnsucht der menschlichen Seele nach Gott zu
beschreiben. In ihrem Werk „Das fließende Licht der Gottheit“ heißt es zum Beispiel:
Du gießender Gott in deiner Gabe!
du fließender Gott in deiner Minne!
du brennender Gott in deiner Sehnsucht!
du schmelzender Gott in der Einung mit deinem Lieb!
du ruhender Gott an meinen Brüsten!
Ohne dich kann ich nicht mehr sein.
Diese mystische Sprache ist eine andere Sprache als die der hochgelehrten Theologie,
es ist auch eine andere Sprache als diejenige, die in Liturgie oder Katechese üblich ist.
Wo Gott wirklich und wahrhaft die menschliche Seele berührt, löst das eine Sprache aus,
die überall verstanden werden kann.
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 8 Datum: Autor/in, Ort: Thema: Freitag, Dr. Claudia Nieser, Paderborn Leichtes Gepäck Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Frau Dr. Silvia Becker. Wahrscheinlich finden sich auch in Ihrer Wohnung Gegenstände, von denen Sie einmal
geglaubt haben, dass Sie sie unbedingt brauchen. Gegenstände, die Sie nach dem Kauf
in den Schrank gestellt und nie wieder hervorgeholt haben. Der Pullover, der vorm
Spiegel zu Hause gar nicht mehr so schick aussah wie im Geschäft. Das Buch, das Sie
unbedingt lesen wollten, obwohl auf dem Couchtisch doch schon drei angefangene
Bücher lagen ...
Erfahrungen wie diese sind nicht zuletzt eine Folge des Überangebots an Waren, an
Konsumartikeln, das uns überall begegnet. Selbst wenn wir uns zu den kritischen
Konsumenten zählen, passiert es uns, dass wir uns dazu verleiten lassen „zu viel“ zu
kaufen – einfach deshalb, weil es „zu viel“ gibt. Überall laden Warenregale dazu ein, eine
Auswahl zu treffen. Und wir glauben viel zu häufig, eine Auswahl treffen zu müssen,
obwohl wir doch auch einfach am Regal vorbeigehen könnten.
Die deutsche Band „Silbermond“ hat diese Erfahrung des „Zu viel“ zu ihrem bekannten
Lied „Leichtes Gepäck“ verarbeitet. Zum Beispiel so:
Musikeinspielung
„Du siehst dich um in deiner Wohnung / siehst ein Kabinett aus Sinnlosigkeiten / Siehst
das Ergebnis von kaufen und kaufen / von Dingen, von denen man denkt, man würde sie
irgendwann brauchen.“
Der Refrain beschreibt den Ausweg aus dieser Lage:
Musikeinspielung:
„Eines Tages fällt dir auf / dass du 99 Prozent nicht brauchst / Du nimmst all den Ballast /
und schmeißt ihn weg / Denn es reist sich besser / mit leichtem Gepäck.“
Tatsächlich auf 99 Prozent von allem zu verzichten und einfach wegzuschmeißen – das
ist etwas, das wohl nur die wenigsten über sich bringen würden. Und doch kann die
Erfahrung, wie wenig man eigentlich zum Leben braucht, erleichternd sein. Ich mache
diese Erfahrung immer dann, wenn ich meinen Rucksack für eine Bergtour packe. Ich
trage diesen Rucksack während der gesamten Tour auf dem Rücken, bei Wanderungen,
die manchmal acht Stunden dauern und bei denen es entweder bergauf oder bergab
geht. Da überlegt man sich genau, auf was man für die nächsten Tage verzichten kann.
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 9 Und das ist erstaunlich viel.
Die Erkenntnis, mit wie wenig man auskommt, ist aber nur die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite ist die Erfahrung, dass das Leben durch den Verzicht nicht kleiner und
enger, sondern größer und weiter wird. Wenn man mit dem Rucksack in den Bergen
unterwegs ist, fallen viele Entscheidungen einfach weg. Man isst, trinkt und wandert, um
das nächste Ziel, die nächste Hütte, zu erreichen. Das erlebe ich als enorme
Erleichterung, enorme Befreiung. Der Weg durch die Berge mit seinen Höhen und Tiefen
bringt mich dem Kern meines Lebensweges nahe, ohne Ablenkung durch ein
Überangebot.
Dass das Leben weit wird, wenn es sich auf das Wesentliche reduziert, ist eine zutiefst
geistliche Erfahrung. Ich könnte mir vorstellen, dass sie auch am Ursprung vieler
Berufungen zum Ordensleben steht. Von Außenstehenden wird eine solche
Entscheidung möglicherweise als Einschränkung betrachtet: Warum der Verzicht auf so
viele Annehmlichkeiten des Lebens? Warum dieses Leben mit einem fest geregelten
Tagesablauf, mit vorgeschriebenen Gebets- oder Arbeitszeiten?
Würde man Menschen, die einer solchen Berufung gefolgt sind, fragen, erhielte man
vermutlich die Antwort, dass das von ihnen gewählte Leben überhaupt nichts mit
Einschränkung oder Enge zu tun hat, sondern mit dem Gegenteil: mit Weite, mit Freiheit.
Aufgrund der einen, radikalen Entscheidung, die man für sein Leben getroffen hat, muss
man die zahllosen Regale mit dem Überangebot für das eigene Leben gar nicht mehr
beachten.
Ordensleute würden den Refrain aus dem Lied „Leichtes Gepäck“ vermutlich doppelt
unterstreichen: „Eines Tages fällt dir auf / dass du 99 Prozent nicht brauchst / Du nimmst
all den Ballast / und schmeisst ihn weg / Denn es reist sich besser / mit leichtem
Gepäck.“
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 10 Datum: Autor/in, Ort: Thema: Samstag, Dr. Claudia Nieser, Paderborn Daphnes Gelassenheit Die redaktionelle Verantwortung für die Sendung hat Frau Dr. Silvia Becker. Im Lateinunterricht habe ich Ovids weltberühmtes Werk „Metamorphosen“ kennengelernt.
Das Wort „Metamorphose“ heißt übersetzt „Verwandlung“, und tatsächlich erzählt Ovid in
seinem Werk Verwandlungsgeschichten. Die Verwandlung kann ein Wesen als Strafe
ereilen, manchmal aber auch als Rettung oder gar als Belohnung. So ist es zum Beispiel
bei einer meiner Lieblingsgeschichten, der Geschichte der keuschen Nymphe Daphne.
Daphne wird von dem liebestollen Gott Apoll verfolgt und fleht ihren Vater, den Flussgott
Peneios, an, sie zu retten. Der erhört ihre Bitte und verwandelt sie in einen Lorbeerbaum.
In dieser Gestalt ist sie vor Apolls Zudringlichkeit sicher.
Mich fasziniert an dieser Geschichte, dass Verwandlung etwas ganz Natürliches zu sein
scheint. Daphne scheint in der Möglichkeit, die Gestalt zu wechseln und zu einem Baum
zu werden, eine willkommene Gelegenheit zu sehen. Das ist durchaus erstaunlich.
Schließlich beschreibt Ovid, wie Daphnes Glieder erstarren, wie Rinde ihren Körper
überzieht, wie ihre Arme zu Ästen werden ... wäre Daphne erschrocken gewesen, entsetzt
oder verzweifelt, wäre das keine große Überraschung gewesen. Ovids Beschreibung lässt
jedoch nichts von Angst oder unguten Gefühlen erkennen.
In Ovids Welt scheinen Wesen wie Daphne Teil eines größeren Ganzen, aus dem sie auch
dann nicht herausfallen, wenn sich ihre Gestalt verändert. Das ist vielleicht der Grund für
Daphnes Gelassenheit. Ich stelle mir sogar vor, dass sie als Baum, mit ihren starken
Wurzeln, die sie in der Erde verankern, diesem großen Ganzen näher ist als zuvor, als sie
noch leichtfüßig über die Erde lief. Ich stelle mir vor, dass sie unmittelbarer Teil davon
geworden ist und mit allem versorgt wird, was sie zum Leben benötigt.
Ovids Vorstellungswelt ist natürlich keine christliche Vorstellungswelt. Trotzdem fühle ich
mich von der engen Verbindung angesprochen, die die Kreaturen dieser Welt zur Natur, zu
dem sie umgebenden größeren Ganzen, zum Urgrund allen Seins zu haben scheinen.
Vielleicht übertrage ich auch Vorstellungen aus meinem eigenen Glauben auf diese antike
Geschichte. Denn die Sehnsucht nach Einheit mit einem Urgrund ist dem christlichen
Glauben nicht fremd. Vor allem in der Mystik des Hochmittelalters gibt es die Vorstellung
der „unio mystica“ – der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott.
Anklänge an diese Vorstellung kann man schon in der Heiligen Schrift entdecken. Im
Johannesevangelium lautet ein berühmter Ausspruch Jesu: „Ich bin der Weinstock, ihr
Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 11 seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht. Denn
getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (Joh 15,5)
Demnach kann der Mensch in einer so engen Verbindung zu Jesus stehen wie die
Weinreben zu einem Weinstock. Reben werden vom Weinstock mit allem versorgt, was
sie zum Leben brauchen – ein wenig wie Daphne nach ihrer Verwandlung.
Über die bis heute große Beliebtheit der Bildrede vom Weinstock und den Reben kann
man ähnlich erstaunt sein wie über Daphnes klaglos hingenommene Verwandlung. Drückt
das Bild nicht in erster Linie Unselbstständigkeit und Abhängigkeit aus? „Getrennt von mir
könnt ihr nichts vollbringen“, sagt Jesus. Ist das nicht eine Zumutung für moderne
Menschen, denen nichts so heilig ist wie ihre Freiheit, ihre Autonomie, ihre Individualität?
Wahrscheinlich spürten Christinnen und Christen aller Epochen, dass das Bild vom
Weinstock und den Reben keine Freiheitsberaubung ausdrückt, sondern in erster Linie
eine Entlastung. Wenn wir „in Kontakt“ zu Jesus Christus bleiben, in Beziehung zu ihm,
dürfen wir darauf vertrauen, mit allem wichtigen versorgt zu werden, was wir brauchen, um
zu wachsen und Frucht zu bringen. Diese Verheißung hält der christliche Glaube bereit:
dass dem Menschen im Glauben vieles geschenkt wird, dass nicht alles seiner eigenen
„Leistung“ und seiner eigenen Anstrengung obliegt, dass er sich Zeit lassen und einfach
wachsen darf.. Die Quelle des Lebens ist ganz nah und lässt reiche Frucht wachsen. Manuskript „Morgenandacht“ ‐ Ersatzmorgenandachten …. Dr. Claudia Nieser, Paderborn Seite 12