Zahl des Monats Der Begriff der Nächstenliebe ist einer jener, die vermehrt am Ende des Jahres Gebrauch finden. Genau genommen sind mit ihm die Übernächsten gemeint. Zur Liebe der Allernächsten müssen die wenigsten angehalten oder ermuntert werden. Sie sind einkalkulierter Teil einer auf Selbstigkeit bauenden Gesellschaft, in der stets zum selbstoptimierenden Rückzug ins Private aufgerufen wird. Zu den häufig Vergessenen und in diesem Sinne Ungeliebten zählen hingegen Obdachlose. Als an den Rand der Gesellschaft Gedrängte haben sie die wohl größte denkbare Ferne zu deren Genüssen und Segnungen. Jenny De la Torre, peruanisch-deutsche Obdachlosenärztin in Berlin, ist im Umgang mit ihnen eine Ausnahmeerscheinung. Es ist, als hätte sie ihnen ihr Leben verschrieben. Im Pragmatismus der tätig Helfenden ist kein Platz für Klagen und Jammerei, aber sehr wohl für ganz konkrete Forderungen an die Politik: Unter anderen eine mobile Entlausungsstation wünscht sie sich vom neuen Berliner Senat. Ihren Wunsch nach etwas Nähe und Wärme in der Weihnachtszeit hat Jenny De la Torre wieder 50 Obdachlosen erfüllt, die sie zu einer Feier in ihr Gesundheitszentrum in der Pflugstraße lud – mit Festessen und vielen Geschenken. Seit geraumer Zeit ist es gute Tradition, dass sich die Linksfraktion im Bundestag mit Spenden daran beteiligt, die Gesine Lötzsch am Vortag überbringt. Trotz des täglichen Einsatzes beider Seiten für eine etwas bessere Welt bleiben solche Tage dann doch ganz besondere. TINKO HEMPEL
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