17.01.2017, Debatte um den Doppelpass - Deutsche, Türken

Manuskript
Beitrag: Debatte um den Doppelpass –
Deutsche? Türken? Deutschtürken!
Sendung vom 17. Januar 2017
von Asli Özarslan
Anmoderation:
Kann es Patriotismus doppelt geben? Darf man zwei Heimaten
haben? Seit Tausende Erdogan-Anhänger in Deutschland rote
Fahnen schwenken und sich lärmend zu seinem Regime
bekennen, wird Deutschtürken wieder die Loyalitätsfrage gestellt.
Weg mit dem Doppelpass, Ihr müsst Euch entscheiden entweder Deutscher oder Türke. Unsere Autorin Asli Özarslan hat
mit Menschen gesprochen, die es leid sind, ständig beweisen zu
müssen, dass sie hier dazu gehören. Denn egal, welchen Pass
sie haben, ihr Integrationswille wird ihnen rundweg
abgesprochen, so ihr Eindruck. Ein Debattenbeitrag aus der Sicht
von Deutschtürken.
Text:
O-Ton, Videoausschnitt aus „Jilet Ayse“, Quelle: YouTube:
Hallo, hier ist wieder eure Jilet Ayse. Und ganz ehrlich, ich hab
mal eine Frage wegen Integration und so: Wann ist Integration
vorbei Deutschland? Wann? Gibt es einen Tag? Gibt es ein
Formular, was ich ausfüllen muss? Gibt es ein Integrationsabi?
Verstehst du, was ich meine? Stell dir vor, du bist 40 Jahre in
einer Grundschule. Irgendwann du sagst auch: Hey, pass mal
auf, ich will mein Grundschulzeugnis jetzt - okay?
Jilet Ayse ist der Integrationsalbtraum Deutschlands - eine
Kunstfigur, entwickelt von Idil Baydar. Denn Idil wächst in
Deutschland auf.
O-Ton Idil Baydar, Kabarettistin:
Mein Deutschland!
Idil Baydar sieht sich immer wieder mit Vorurteilen und Klischees
konfrontiert.
O-Ton Idil Baydar, Kabarettistin:
Nach Sarrazin war eigentlich für mich so der Satz: Ihr wollt
einen Kanaken, jetzt kriegt ihr ihn. Denn über nichts anderes
wird gesprochen. Es wird nicht über die erfolgreichen
Ausländer gesprochen. Eigentlich hast du als Migrant –
völlig egal in welcher Position - immer die Arschkarte. Also,
scheißegal, wie du es machst: Integrierst du dich, nimmst du
die Arbeitsplätze weg. Integrierst du dich nicht, liegst du dem
Staat auf der Tasche. Also, es scheint keine Normalität für
Migranten in Deutschland zu geben.
Die erste Generation kam als sogenannte Gastarbeiter – mit
großen Hoffnungen. Sie wollen, dass es ihren Familien besser
geht. Sie werden in Deutschland gebraucht und kurbeln die
Wirtschaft an. Idil Baydars Mutter kommt Mitte der 60er Jahre.
O-Ton Idil Baydar, Kabarettistin:
Sie hat ein schönes Bild gemalt. Sie hat gesagt: Ich kam wie
ein Vogel mit gebrochenem Flügel und ich konnte hier in
Deutschland heilen. Ich hatte alle Möglichkeiten. Und dafür
ist sie diesem Land unglaublich dankbar. Sie kann meine
Wut als Erstgeborne-Generation hier nicht wirklich
nachvollziehen. Nur sind wir auch in zwei völlig
verschiedenen Situationen: Ich bin nicht migriert, meine
Mutter ist migriert. Ich bin hier geboren und merke, dass ich
eben eher Bürger zweiter Klasse bin und dass ich auch nicht
als Individuum gesehen werde, sondern eben, ja, als Idil oder
Ayse oder was auch immer oder Döner, der eben kommt, mit
kollektiv der ganzen Türkei im Gepäck.
Jahrzehntelang werden sie Gastarbeiter genannt. Sie sind weg
aus der Türkei und in Deutschland Gäste, die bestimmt mal
wieder gehen. Doch die angelernten Fachkräfte bleiben - als
billige Arbeitskräfte und Schichtarbeiter im Akkord.
Auch sie haben zunächst in der Fabrik gearbeitet und später die
Möglichkeit bekommen, ihren eigentlichen Beruf auszuüben – als
Lehrerinnen. Jahrzehntelang waren sie an deutschen Schulen
tätig, sprechen perfekt Deutsch. Doch in ihrer Frauengruppe
pflegen sie ihre Tradition und sprechen untereinander Türkisch.
O-Ton Nurhayat Hanım, pensionierte Lehrerin:
Ich stehe dazwischen. Ich bin von dort und von hier. Es gibt
schöne Sachen hier, aber auch Dinge, die ich kritisiere, zum
Beispiel die Ausländerfeindlichkeit. Wir sind immer noch
Ausländer - und das nach über 50 Jahren. Das tut weh. Als
einst die Böhmen kamen, haben sie 100 Jahre gebraucht, um
sich als Einheimische zu sehen. Also haben wir noch 50
Jahre.
Früher gingen sie auf Demos. Sie wollten mitreden und
mitbestimmen. Doch ihre Stimme zählte nicht. Sie hatten kein
Wahlrecht.
O-Ton Neriman, pensionierte Lehrerin:
Die Wahlsache war sehr bitter für mich damals. Zum Beispiel
haben wir 35 Jahre lang weniger als unsere deutschen
Kollegen verdient, niemand hat sich dafür interessiert. Wir
haben dieselbe Arbeit getan. Ich habe zwei Klassen
unterrichtet, 50 Zeugnisse geschrieben, aber wir haben nie
dasselbe verdient. Kein Politiker hat sich darum gekümmert
oder nach den Missständen gefragt. Wir mussten uns alleine
durchschlagen.
Und die Politik lässt sie sehr lang allein: Erst Anfang der 90er
Jahre verspricht Helmut Kohl in Deutschland eine Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts.
O-Ton Helmut Kohl, CDU, ehemaliger Bundeskanzler, am
16.6.1993:
Natürlich sehe ich in den Ausländern bei uns nicht in erster
Linie einen Wirtschaftsfaktor, sondern Mitmenschen.
Doch es geschieht nichts. Als die rot-grüne Koalition 1998 die
doppelte Staatsbürgerschaft einführen will, organisiert die
CDU/CSU eine Unterschriftenaktion dagegen. Danach mussten
Deutschtürken entscheiden, ob sie Deutscher oder Türke sein
wollen. Erst 2014 kam die doppelte Staatsbürgerschaft, die der
CDU-Parteitag wieder kippen will.
O-Ton Mehmet Daimagüler, Rechtsanwalt:
Wenn man den Prozess der Integration, der Teilhabe
verschleppt, verzögert, verspätet, wenn man in einem
Klubhaus wohnt, aber nicht Klubmitglied ist, sondern nur die
Klos putzt, dann hat man eben nicht diese Identifikation zum
Klub. Wenn man hier in Deutschland lebt, aber nicht
akzeptiert wird als jemand, der mitbestimmen darf, dann fehlt
ein Bindeglied, ein emotionales auch, zum Gemeinwesen.
Und das setzt sich dann halt in den Köpfen fort.
O-Ton Sevim, pensionierte Lehrerin:
Die heutigen Bedingungen sind anders als damals. Kann
man heute noch zu uns Ausländer sagen? Und wenn sie das
tun, müssen wir dagegen halten. Wir dürfen uns nicht
isolieren. Wir müssen auch unsere Aufgaben erfüllen, um ein
Teil dieser Gesellschaft zu sein. Ich kann nicht warten, bis
andere was machen.
O-Ton Nurhayat Hanım, pensionierte Lehrerin:
Nein, meine Liebe, wir arbeiten fleißig, wir zahlen unsere
Steuern. Ich begehe keine Straftaten. Was sollen wir denn
noch machen?
O-Ton Sevim, pensionierte Lehrerin:
Doch wir haben letztens falsch geparkt.
Die Mehrheit der Türkeistämmigen fühlt sich wohl in Deutschland,
sehen sich als ein Teil der deutschen Gesellschaft - egal mit
welchem Pass, mit deutschem, türkischem oder mit beiden.
Lediglich fünf Prozent wollen nur türkisch sein. Dennoch fühlen
sich 51 Prozent in Deutschland als Bürger zweiter Klasse und
sozial nicht anerkannt.
O-Ton Idil Baydar, Kabarettistin:
Alles was sie tun, wird interpretiert auf ihre Herkunftskultur.
Das heißt also, der Matthias ist laut, weil er heute
unkonzentriert ist. Aber der Ahmet ist laut, weil seine Kultur
halt so primitiv ist. Die Frage ist ja immer: unsere Werte,
unsere Werte. Wenn du etwas nicht bereit bist, einen Wert zu
geben, kannst du auch keine Wertschöpfung vornehmen.
Genau da setzt Erdogan an bei seinen Besuchen in Deutschland.
Die hier lebenden Deutschtürken bekommen das erste Mal
Aufmerksamkeit von einem türkischen Politiker.
O-Ton Recep Erdogan, Ministerpräsident Türkei, Köln 2008:
Warum haben wir nicht mehr Vertreter im deutschen und
europäischen Parlament? Warum sollten unsere Ansichten
bei der Formulierung der Sozialpolitik der Länder, in denen
wir leben, nicht zur Kenntnis genommen werden?
O-Ton Recep Erdogan, Ministerpräsident Türkei, Düsseldorf
2011:
Ihr seid nicht alleine. Ihr steht unter dem Schutz der
Bundesrepublik Deutschland und auch unter dem Schutz
eines großen Landes, einer großen Republik - unter dem
Schutz der Türkei.
O-Ton Recep Erdogan, Präsident Türkei, Karlsruhe 2015:
Ihr seid keine Gastarbeiter, sondern unsere Stärke im
Ausland.
Nachgewiesen ist: Deutsche Erdogan-Unterstützer besitzen oft
nur den türkischen Pass, sind teils nationalistisch. So
demonstrieren nach dem Putsch in der Türkei 30.000 Menschen
für Erdogan in Köln. Auch in Berlin gehen Menschen auf die
Straße – feiern Erdogan.
O-Ton Mädchen:
Ich mag ihn wirklich sehr. Und es werden viele Lügen über
ihn erzählt. Das verletzt mich auch. Also, auch wenn es ihn
nicht verletzt, verletzt es mich, dass hier Türken
runtergemacht werden - und er am meisten.
O-Ton Mann:
Ich bin in dem Sinne mehr stolz geworden, dass ich ein
Türke bin, ja, und dass die Solidarität beziehungsweise dass
unser Staatspräsident und unser Land auch hinter den
Bürgern, die im Ausland leben, stehen und uns unterstützt.
Eine Minderheit wird zum Problem für die integrierte Mehrheit.
Denn jetzt gilt die doppelte Staatsbürgerschaft wieder als
integrationshemmend und allen Deutschtürken wird die
Loyalitätsfrage gestellt.
O-Ton Mehmet Daimagüler, Rechtsanwalt:
Ich kann mit dem Begriff der Loyalität so nichts anfangen. In
der Demokratie ist es wichtig, dass die Menschen sich an
Recht und Gesetz halten. Und ich verstehe auch nicht,
warum so viele Leute ‘nen Föhn kriegen, wenn 20.000, 30.000
Menschen in Köln für Erdogan demonstrieren. Sollen sie
doch dafür demonstrieren. Das ist doch jetzt nichts, was
diese Ordnung irgendwie ins Schwanken bringt. Die
Integration scheitert genauso wenig wie das Wetter. Das
Wetter ist mal schön, mal weniger schön, aber es ist da.
Hüda ist 20 und möchte bei jedem Wetter mitmischen - in der
deutschen Politik. Vor zwei Jahren gründet er gemeinsam mit
Freunden eine Partei – genannt: Die Verfassungsschüler. Sie
kandidieren für den Landtag und treffen Angela Merkel. Hüda
motiviert Jugendliche, sich zu engagieren.
O-Ton Hüdaverdi Güngör, Mitbegründer „Die
Verfassungsschüler“:
Ich frage sie erst, was für ein Pass hast du? Dann sagen die
im meisten Fall: Ja, ich habe den deutschen. Ich so: Warum
machst du jeden Tag irgendwie nur was über die Türkei?
Warum machst du nichts über Bottrop, warum machst du
nichts über Deutschland? Aber deine Meinung bringt nichts,
auch deine Stimme zählt da nichts. Deine Stimme zählt hier
in Deutschland. Du kannst doch, wenn dich das so sehr
interessiert, dich in einer Partei engagieren, was Eigenes von
mir aus gründen und Außenminister werden.
Hüda will explizit keine Integrationspolitik betreiben. Er will darauf
nicht reduziert werden. In der Shisha-Bar spricht er mit seinen
Freunden über ihre Ideen für Deutschland.
O-Ton Hüdaverdi Güngör, Mitbegründer „Die
Verfassungsschüler“:
Deutschland ist unsere Heimat. Darum heißen wir: Die
Verfassungsschüler. Wir haben uns ja damals aufgebaut mit
den Grundgesetzen. Also, wir sind die Grundgesetze
durchgegangen und haben gesagt: Boah, krass, das alles
bietet uns dieses Land. Und da war für uns klar, dafür wollen
wir uns einsetzen. Aber viele wussten erstmal nicht, was die
Grundgesetze sind. Und das war halt wichtig, dass wir das
denen beigebracht haben. Und nachdem sie davon erfahren
haben - allein Artikel 1 reicht schon: Dass die Würde des
Menschen unantastbar ist, hat bei uns allen viel bewirkt.
Hüda wird nicht aufhören, für sein Deutschland zu kämpfen - so
wie Comedian Idil und all die anderen.
O-Ton Idil Baydar, Kabarettistin:
Diese Mär, dass Ausländerkinder generell nicht deutsch sein
wollen, das ist einfach Schwachsinn. Das stimmt nicht. Wir
sind jetzt mittlerweile was anderes - was ja auch toll ist. Wir
sind eine Synergie von beidem. Und das ist ja eigentlich
unser Erfolg, dass wir das beides zusammen in dieser
Mischung sind. Das ist doch großartig. Gucken wir uns die
Nationalmannschaft an - großartig. Wir gewinnen!
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