Bariatrische Chirurgie vs. konservative Therapie

WEITERE ORGANISATIONEN UND INSTITUTIONEN Swiss Medical Board
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Adipositas und Übergewicht
Bariatrische Chirurgie vs.
konservative Therapie
Swiss Medical Board
Bei schwerer Adipositas ist ein chirurgischer Eingriff nach erfolgloser kon­servativer
Behandlung, individueller Abklärung durch ein interdisziplinäres Team und seriöser
Aufklärung des Patienten sinnvoll. Es wird empfohlen, die heute ­geltenden Kriterien
für eine Vergütung durch die obligatorische Krankenversicherung neu zu beurteilen.
Der Appraisal-Bericht «Bariatrische Chirurgie vs. kon­
fen durchgeführt. Im Rahmen des Appraisals wurden
servative Therapie bei Adipositas und Übergewicht» kurz
auch relevante HTA-Berichte gesichtet.
zusammengefasst:
Sechzehn RCTs wurden in die Beurteilung einbezogen.
2012 galten in der Schweiz 10,3% der Einwohner als adi-
Die meisten Studien nahmen Personen mit spezifi-
pös und 30,8% als übergewichtig. Die Gesundheitskos-
schen Begleiterkrankungen auf und die Studienend-
ten aufgrund von Adipositas beliefen sich im Jahr 2011
punkte umfassten einen Zeitraum von bis zu 2–3 Jah-
auf schätzungsweise 7990 Mio. CHF. Adipöse Personen
ren. Die in diesen Studien gewonnene Evidenz legt
haben eine hohe Prävalenz von Begleiterkrankungen
nahe, dass adipöse Personen (insbesondere solche mit
wie beispielsweise Typ-2-Diabetes, die zu erhöhter
einem BMI ≥35 kg/m2), die eine bariatrische Operation
Morbidität und Mortalität führen können. Mit Ände-
erhalten, in den ersten 2–3 Jahren häufiger eine Reduk-
rungen des Lebensstils und medikamentösen Thera-
tion des Körpergewichts erreichen als diejenigen, die
pien konnten keine langfristigen Wirkungen auf die
nach einem konservativen Ansatz behandelt werden.
Lebensqualität (QoL) und die gesundheitlichen Er­
Mit Operation lag die mittlere Reduktion bei 18% (95%
gebnisse bei Personen mit schwerer Adipositas (BMI
KI 15%–21%) und reichte von 1% bis 7% bei konserva­
≥35 kg/m2) erzielt werden. Die bariatrische Chirurgie
tiver Therapie (moderate Qualität der Evidenz). Dar­
wurde als alternative Behandlungsmöglichkeit zur
über hinaus war die bariatrische Chirurgie auch mit
Verbesserung der langfristigen gesundheitlichen Er-
einer signifikanten Verbesserung der körperlichen
­
gebnisse und der Lebensqualität diskutiert und von
Funktionsfähigkeit als Komponente von QoL-Skalen,
HTA-Agenturen in den USA und Europa empfohlen.
einer Abnahme der mittleren HbA1c-Konzentration im
Im Jahr 2014 wurden in der Schweiz 4167 bariatrische
Blut und höheren Diabetes-Remissionsraten verbun-
Operationen durchgeführt. Die schweizerische Obliga-
den, wie aus einigen Studien mit geringer Evidenz­
torische Krankenpflegeversicherung übernimmt der-
qualität hervorging. Schwerwiegende unerwünschte
zeit die Kosten bei bestimmten Arten von bariatri-
Ereignisse treten nach Operationen möglicherweise
schen Eingriffen bei Personen mit schwerer Adiposi-
häufiger auf, aber die Daten lassen sich nicht abschlies­
tas.
send beurteilen, da sie von sehr geringer Qualität sind.
Der Appraisal-Bericht untersucht die Evidenz zu Wirk-
Die Subgruppenanalysen zeigten keine Unterschiede
samkeit, Sicherheit und Kosten-Nutzen-Verhältnis der
in der Wirksamkeit zwischen den BMI-Gruppen. Die
bariatrischen Chirurgie im Vergleich zur konserva­
Evidenz war jedoch nicht ausreichend, um eine ein-
tiven Therapie bei Erwachsenen unter Berücksichti-
deutige Antwort darauf zu geben, welche Art von Ope-
gung von rechtlichen und ethischen Implikationen. Es
ration effektiver ist. Daten aus Beobachtungsstudien
wurden randomisierte kontrollierte Studien (RCTs)
deuteten auf einen erheblichen langfristigen Nutzen
­berücksichtigt, ergänzt um Langzeit- und Sicherheits­
der bariatrischen Chirurgie im Hinblick auf die Ge-
daten aus gut durchgeführten Beobachtungsstudien.
samtmortalität und eine Verringerung der kardio­
Für die Zusammenfassung und Bewertung der Evidenz
vaskulären Ereignisse hin, trotz einer Zunahme der
wurde der GRADE-Ansatz verwendet. Es wurden Sub-
perioperativen Mortalität sowie der Todesfälle, die
­
gruppenanalysen nach BMI (< versus ≥ 35 kg/m2) sowie
nicht direkt mit der Operation in Zusammenhang
nach verschiedenen Arten von bariatrischen Eingrif-
­stehen, wie beispielweise Suizide.
SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2017;98(3):57–58
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bariatrischer Eingriff nach sorgfältiger Bewertung
Abkürzungen
der Schwere und Dauer der Begleiterkrankungen so-
BMI:
Body Mass Index
GRADE: Grading of Recommendations Assessment,
Development and Evaluation
HbA1c: Hämoglobin A1c
HTA:
Health Technology Assessment
ICUR: Incremental Cost-Utility Ratio
KI:
Konfidenzintervall
QALY:
Quality-Adjusted Life Year
QoL:
Quality of Life
RCT:
Randomized Controlled Trial
SMOB: Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and
Metabolic Disorders
wie der Risiken und des Nutzens des chirurgischen
Eingriffs in Erwägung gezogen werden.
3. Es ist sinnvoll, den bariatrischen Eingriff für einen
bestimmten Zeitraum zugunsten einer konserva­
tiven Behandlung hinauszuschieben.
4. Der bariatrische Eingriff sollte in einem anerkannten Behandlungszentrum durchgeführt werden.
5. Alle Personen, die für eine Operation in Frage kommen, sollten ausgewogene und unvoreingenommene Informationen über die kurz- und langfristigen Risiken und den Nutzen eines bariatrischen
Eingriffs erhalten, einschliesslich einer Erläuterung
der Unsicherheiten in Zusammenhang mit den
Die Auswertung von gesundheitsökonomischen Studien und die Übertragung der Ergebnisse auf die Ver-
langfristigen Ergebnissen.
hältnisse in der Schweiz zeigte, dass bei einem BMI
6. Alle Patienten, die sich einem bariatrischen Eingriff
≥35 kg/m2 mit oder ohne Begleiterkrankungen die
unterziehen, sollten in ein Register aufgenommen
­bariatrische Chirurgie eine entweder kostenwirksame
werden, wie z.B. das derzeitige SMOB-Register, um
oder kostensenkende Lösung ist, wenn man allgemein
eine langfristige Verlaufsbeobachtung im Hinblick
anerkannte Kosten-Nutzen-Schwellen berücksichtigt.
auf somatische und psychische Gesundheitsfolgen
Die Anpassung an die Verhältnisse in der Schweiz
zu gewährleisten.
führte zu einem inkrementellen Kosten-Nutzen-Ver-
7. Die Kriterien für die Rückerstattung durch die ge-
hältnis (ICUR) von weniger als CHF 50 000 je qualitäts-
setzliche Krankenversicherung (d.h. mindestens
berichtigtem Lebensjahr (QALY). Die Kosten-Nutzen-
2 Jahre konservative Behandlung vor dem bariatri-
Daten aus Beobachtungsstudien deuten darauf hin,
schen Eingriff bei Personen mit einem BMI >35 kg/
dass die Gesamtkosten bei einem bariatrischen Eingriff
m2) sollten unter Berücksichtigung des aktuellen
Kenntnisstands neu bewertet werden.
höher sind als bei einer konservativen Behandlung,
weil die Kosteneinsparungen aufgrund der gesenkten
8. Angesichts der begrenzten Evidenz aus RCTs und
Prävalenz von Typ-2-Diabetes nach der Operation die
Beobachtungsstudien besteht ein grosser Bedarf an
hohen anfänglichen Kosten der Operation nicht voll-
weiterer Forschung. Patienten und Gesundheits-
ständig kompensieren können.
fachleute brauchen bessere Evidenz, um fundierte
Es bleiben jedoch beträchtliche Unsicherheiten im Zu-
Entscheidungen bezüglich bariatrischer Eingriffe
sammenhang mit der bariatrischen Chirurgie beste-
treffen zu können.
hen. Es besteht ein klarer Bedarf für eine gemeinsame
– Die Forschung sollte Daten über den Lebensver-
Entscheidungsfindung von Patienten, die Kandidaten
lauf von adipösen Personen mit oder ohne Opera-
für diesen Eingriff sind, und ihren Gesundheitsdienst-
tion liefern.
leistern. Einige Behandlungszentren versorgen Patien-
– Besonderes Augenmerk sollte auf stoffwechselbe-
ten mit Informationsmaterial zur Entscheidungshilfe.
dingte Begleiterkrankungen als zusätzliche pro­
Dies ist jedoch keine einheitliche Anforderung und
gnostische Faktoren und Kriterien für eine baria-
Unterschiede zwischen den Behandlungszentren sind
wahrscheinlich.
trische Operation gelegt werden.
– Es sollten Instrumente zur Risikovorhersage ent-
Das Appraisal-Komitee spricht folgende Empfehlun-
wickelt werden, um diejenigen Betroffenen, die
gen aus:
am ehesten von einem bariatrischen Eingriff oder
1. Personen mit einem BMI >35 kg/m2 (Adipositas der
einer konservativen Therapie profitieren, besser
Klasse II oder höher) sollte nach sorgfältiger Beur-
ermitteln zu können.
teilung ihrer Eignung für einen chirurgischen Eingriff und ihres individuellen Risikos und Nutzens
Korrespondenz:
Swiss Medical Board
Susanna Marti Calmell
Sekretariat Trägerschaft
Telefon +41 43 259 52 11
info[at]medical-board.ch
www.swissmedicalboard.ch
durch ein interdisziplinäres Team die Möglichkeit
eines bariatrischen Eingriffs angeboten werden.
2. Bei Personen mit einem BMI von ≥30 bis <35 kg/m2
(Adipositas der Klasse I) und damit einhergehenden
Begleiterkrankungen wie Typ-2-Diabetes kann ein
Hinweis
Der Assessment- und der Appraisal-Bericht können auf der Webseite des Swiss Medical Board unter http://www.medical-board.ch/
index.php?id=809 eingesehen werden.
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